Das aufgeschlagene Buch ähnelt einer Ausstellungsvitrine: Reproduktionen von historischen Gegenständen, Fotografien, Karten, Akten und Dokumenten erzählen Geschichten – und illustrieren auf diese Weise die Geschichte des Landeswohlfahrtsverbandes (LWV) Hessen, die, bei den Wurzeln angefangen, eine Sozialgeschichte Hessens ist.
Dazu hat das Archiv des LWV zum 70-jährigen Bestehen des Verbandes in 2023 70 exemplarische Archivalien und Objekte aus seinen umfangreichen historischen Beständen ausgewählt und in einem Sammelband vereint. Das jetzt veröffentlichte Buch „70 Jahre, 70 Geschichten aus fünf Jahrhunderten“ wird seinem Titel gerecht. Denn gleich der erste Beitrag über den Stiftungsbrief Philipps des Großmütigen für das Hohe Hospital Haina aus dem Jahr 1533 legt dar, welche Rolle der Landgraf als früher Anhänger Martin Luthers in der Reformation einnahm. Und dass die soziale Fürsorge in Hessen auf dieser fast 500-jährigen Tradition fußt.
Aufgeteilt in sieben Kapitel, widmet sich jede Doppelseite einem abgebildeten Objekt oder einer Archivalie. In den dazugehörigen Beiträgen liefern die verschiedenen Autorinnen und Autoren nicht nur die lokalhistorischen Bezüge und Fakten und das ein oder andere Anekdotische, sondern ordnen das jeweilige Archiv-Stück in das politische und gesellschaftliche Zeitgeschehen ein. So geht es unter „Karl Schomburg und das Ständehaus“ auch um die kurhessische Ständeversammlung und die kurhessische Verfassung von 1831, die als eine der liberalsten Verfassungen Deutschlands galt.
Auch die düsteren Kapitel der Verbandsgeschichte werden nicht ausgespart. Die Fotografie von den rauchenden Schornsteinen der Tötungsanstalt Hadamar wurde zu seinem Symbolbild der „Aktion T4“ – der systematischen Ermordung psychisch kranker und behinderter Menschen 1940/41 durch die Nationalsozialisten. Zur gleichen Thematik ist ein weiteres seltenes Dokument abgebildet: der Meldebogen des damals zehnjährigen Mädchens Berta Höfler aus der Landesheil- und Pflegeanstalt Heppenheim. Meldebögen wie diese mussten von der Anstaltsleitung ausgefüllt und an die Berliner Mordzentrale in der Tiergartenstraße 4 (T4) geschickt werden. Auf dieser Grundlage wurde dort über die Ermordung der Betroffenen entschieden.
Für alle, die einem Thema intensiver nachspüren möchten, finden sich Literaturhinweise und Quellenangaben unter jedem Beitrag.
Gefangen in Breitenau: Diese Doppelseite zeigt rechts den Deckel der Akte von Viktoria Aleksander, einer polnischen Zwangsarbeiterin, die 1941 im Arbeitserziehungslager Breitenau unter KZ-ähnlichen Bedingungen gefangen gehalten wurde. Links der informative Beitrag dazu von Gunnar Richter. In dieser Weise erzählen alle 70 Archivstücke in dem Buch LWV-Geschichte(n).
Insbesondere mit den zahlreichen Farb- und Schwarzweiß-Abbildungen möchte der Band im DIN-A-4-Format die Neugier am LWV und seiner Geschichte, aber auch an den umfangreichen historischen Sammlungen und Archivbeständen wecken. „Unsere Bestände sind in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt, warten aber darauf, genutzt und beforscht zu werden“, sagt dazu Dr. Dominik Motz, Leiter des LWV-Archivs. Außer aus diesem sind Objekte und Archivalien aus den Psychiatriemuseen Haina und Hofheim (Philippshospital) sowie aus der Gedenkstätte Hadamar in den Sammelband mit einbezogen. Alle Einrichtungen gehören zum LWV.
Das Buch „70 Jahre, 70 Geschichten aus fünf Jahrhunderten – zum Jubiläum des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen aus seinem Archiv“ ist im April 2024 als Band 18 in der Historischen Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes erschienen. Bestellung über den Imhof-Verlag, den Buchhandel oder das LWV-Archiv.
180 Seiten, 127 Farb- und 34 S/W-Abbildungen, ISBN 978-3-7319-1434-1, 29,95 Euro