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Wenn Essen zur Pein wird ... - Essstörungen

Krankheitsbilder von Bulimie und Magersucht wie auch Erkrankungsrisiko und –häufigkeit waren Themen der "Septemberfortbildung" in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Rheinhöhe. Experten gehen davon aus, dass in westlichen Industrieländern die Wahrscheinlichkeit an Magersucht zu erkranken, bei rund 1 %, bei Bulimie bei 2 bis 4 % liegt. Die Erkrankungshäufigkeit wächst, auch der Anteil männlicher Erkrankter steigt. Was eine Essstörung aber praktisch für den Betroffenen und seine Familie bedeutet, wurde bei der Fortbildung sehr eindrücklich anhand des Selbstberichtes eines an Anorexie erkrankten Jugendlichen deutlich. Der Bericht von Falko, wie er hier genannt wird, wurde bei der Tagung vorgetragen. LWV-Info bringt ihn stark gekürzt. (jda/rvk)

 

Mein Weg zurück ins Leben
(Falko, 18 Jahre)

Ich heiße Falko und bin heute 18 Jahre alt. Mit 13, als mir die schwerste Zeit in meinem Leben noch bevor stand, war ich anders als heute, ein recht pummeliges, unsportliches Kind, das gerne viel und am besten ungesunde Sachen aß. (...) Ich war nicht etwa grundsätzlich mit meinem Leben unzufrieden, doch hatte ich immer das Gefühl, dass andere mit mir so, wie ich war, nicht zufrieden waren. Dies war für mich ein Problem, weil ich immer schon versuchte, es allen Recht zu machen, was mich damals wie heute oft in schwierige Situationen bringt. Heute glaube ich, dass dieses Verlangen auch die Entwicklung meiner Magersucht förderte. Ein anderer Auslöser war mein Ehrgeiz, den ich nicht im Sport oder der Schule austobte, sondern in der Konkurrenz um die Anerkennung anderer Leute. Ich versuchte immer der Coolste zu sein und hatte jedes Mal Probleme damit zu akzeptieren, wenn ich einmal nicht der Sieger bei irgendetwas war. Die Tatsache, dass meine Eltern geschieden sind, beschäftigte mich hingegen damals wie heute eher weniger. Auch wenn mir während meiner Therapie oft gesagt wurde, dass dies wohl der Grund für meine Krankheit gewesen wäre. Doch diesen sehe ich nicht als alleinigen an. (...)

Für mich war es mehr als schwer zu ertragen, dass sich damals in meinem Freundeskreis um mich herum sehr viele Pärchen bildeten, ich jedoch nicht ansatzweise im Begriff war, eine Freundin zu bekommen, sondern immer nur daneben stand. Ich hatte das Gefühl, dass mich niemand bzw. keine wollte, und nachts, grübelnd im Bett, kam ich dann zu dem Schluss, dass es an meinem Übergewicht liegen musste. An einem Morgen nach solchen Grübeleien, als ich mich innerlich mit den Worten im Spiegel begrüßte: „Kein Wunder, dass Dich so niemand liebt“, fasste ich den Entschluss abzunehmen. (...)

"70 Kilo-Marke geknackt"

Meine Schwester war die Einzige, welche sich zu dieser Zeit bereits Sorgen um mich machte, da ich nicht mehr am gemeinsamen Mittagessen teilnahm. Dies stieß jedoch bei meiner Mutter und auch noch bei meinem Vater auf taube Ohren. Das Einzige, was mich sorgte, war die Tatsache, manchmal morgens nicht leichter als am Vortag zu sein. Ich hatte in der Schule das Gefühl, dicker als sonst auszusehen und aß an solchen Tagen dann besonders wenig. Bald hatte ich dann auch die 70 Kilo-Marke geknackt, und Vater, welcher nun von meiner unermüdlichen Schwester wachgerüttelt worden war, übte massiven Druck auf meine Mutter aus, mein ungesundes Handeln zu unterbinden. Und so begann ich meine Schwester und meinen Vater als Neider zu sehen, welche mir bloß um alles in der Welt meinen Erfolg nicht gönnen wollten. Also beschäftigte ich mich rund um die Uhr mit meinem Körper und mit dem Thema Essen, obwohl ich so gut wie nichts mehr aß. (...)

"... bei 48,5 Kilo angelangt"

Als ich schließlich 55 Kilo wog, wollte ich mein einstiges Traumgewicht einfach nur noch halten, aß jedoch nicht mehr als zu meinen besten Diätzeiten, da ich es mit mir selber nicht vereinbaren konnte. Und so war ich schließlich, nach knapp einem halben Jahr Martyrium, bei 48,5 Kilo angelangt. Ich war kräftemäßig am Ende und hatte einzig den Gedanken ans Essen und die fesselnde Angst vorm Alleinsein im Kopf, unfähig, aus diesem Kreislauf zu entkommen. Wenn Sie mich zu der damaligen Zeit gefragt hätten, ob ich glaubte, ein Problem zu haben, geschweige denn an einer Krankheit zu leiden, hätte ich Sie ausgelacht. (...)

Mein Vater brachte mich dann schließlich zu einem Freund, einem angesehenen Psychologen. Vorerst sollte ich mich nur einmal mit ihm unterhalten. Doch keine zwei Minuten, nachdem er mich sah, sagte er mir schon ins Gesicht, dass mein Körper nicht mehr lange mit mir dieses Spiel spielen würde und ich wahrscheinlich schon bald gegen die Krankheit Magersucht, an der ich litt, verloren haben würde. Dies traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich noch nie mit dem Gedanken auseinander gesetzt, dass ich an dem, was ich da tat, sterben könnte. Er besprach mit meiner Mutter meine stationäre Einweisung, welche eine Woche später erfolgen sollte, und er beruhigte sie, da sie jetzt erst verstand, was mit mir los war. Ich weiß noch genau, dass ich an diesem Abend seit langer Zeit etwas aß, da meine Angst um Anerkennung, mein Kreislauf im Kopf, durch diese Nachricht wie blockiert waren. Am nächsten Tag klappte ich dann zusammen. Ich war kaum noch in der Lage zu laufen, und da mein Kopf mich wieder ins Fitnessstudio treiben wollte, bat ich meine Mutter, mich in die Kinderklinik zu bringen. Dort wurde ich dann stationär aufgenommen und aß meine erste warme Mahlzeit seit Langem. Doch es sollte nicht lange dauern, bis mein Kopf die Kontrolle über mich zurückgewann und ich begann, die Nahrung, welche ich dort unbeaufsichtigt zu mir nehmen konnte, zu entsorgen und heimlich Liegestütze zu machen. Ich nutzte die Treppen, um Kalorien zu verbrennen, ich schmuggelte eine Waage in die Klinik, mit der ich schon bald das morgendliche Wiegen der Ärzte durch gezieltes Trinken manipulierte. (...)

"Schockzustand"

So langsam merkten die Ärzte, dass Sie mit mir nicht weiterkamen, da sie mir auch keine Therapien anbieten konnten und der Versuch, mich auf ein Normalgewicht zu bringen, durch mich bedingt scheiterte. Also wurde ich in eine Psychosomatische Klinik eingewiesen, wo ich sofort nur noch unter Aufsicht mit anderen meine zubereiteten Mahlzeiten einnehmen durfte und auch täglich zu unterschiedlichen Uhrzeiten gewogen wurde. Des weiteren bekam ich Bewegungs-, Musikund Maltherapie, kombiniert mit Gesprächstherapie. Zu Beginn beeindruckte mich das alles sehr und mein Schockzustand, den ich bereits von der ersten Klinikeinweisung kannte, stellte sich wieder ein. Doch schon bald begann ich wieder mit den Manipulationen am Gewicht durch Wasser, da ich die Wiegezeiten durchschaut hatte, und auch mein heimlicher Sport wurde wieder ausgeübt. (...)

"Jugendpsychiatrie"

Nach fast einem Dreivierteljahr erhielt ich einen Termin in der Klinik Rheinhöhe, einer hessischen Kinder- und Jugendpsychiatrie. Allein dieser Name löste in mir einen Schock aus, und ich fragte mich zum ersten Mal an diesem Punkt, nach dreivierteljährigem Klinikaufenthalt, ob ich wirklich krank sei. An diesem Nachmittag jedoch, wo ich das erste Mal mit einer Jugendpsychiaterin sprach, zusammen mit meinen beiden Eltern in einer Runde, kann ich heute sagen, bekam ich Leben zurück. Nach Wochen, in denen ich niemanden sehen und hören durfte, was für mich das Schlimmste war, da ich kein Mitleid, keine Aufmerksamkeit und keine Liebe bekam, was doch genau das war, was ich wollte, schlug die Fachfrau meinen Eltern schließlich auf die Frage hin, wie es weitergehen sollte, vor, mich mit nach Hause zu nehmen. Ich war wie vor den Kopf gestoßen! Ich meine, nach fast einem Jahr in zwei Kliniken ohne eigentliche Erfolge sollte ich nach Hause kommen. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, es geschafft zu haben, alle getäuscht zu haben und gleichzeitig durchzog mich eine tiefe Angst, wieder allein mit mir zu sein. Aber nicht nur ich war verwundert, auch mein Vater und meine Mutter konnten es kaum glauben. Sie mussten zweimal nachfragen, ob dies ernst gemeint sei. Dies wurde von ihr bejaht, jedoch stellte sie mehrere Bedingungen auf. Sie verlangte von meinen Eltern, dass sie sich mindestens zweimal täglich zum Mittagund Abendessen zusammensetzen und mit mir zusammen eine Mahlzeit gestalten sollten. Die weitere Bedingung war, ständig Kontakt zu halten zur Therapeutin, so dass im Falle einer Nahrungsverweigerung meinerseits eine sofortige stationäre Aufnahme in die Jugendpsychiatrie erfolgen könnte. (...)

Doch wirklich bewusst, dass sich mein Denken geändert hatte, wurde mir erst, als ich mich zwei Jahre später, lange nach dem letzten Gespräch auf der Rheinhöhe, zurück erinnerte und mein damaliges mit meinem derzeitigen Denken und Handeln verglich. Auch fiel mir auf, dass meine Gewichtszunahme von zehn Kilo nicht so schrecklich wie angenommen für mich war. Heute bin ich fast 19 Jahre alt und schaue dankbar auf diese Zeit zurück. Dankbar, weil ich viele wichtige Dinge fürs Leben gelernt habe, weil ich viel über mich in dieser schweren Zeit gelernt habe und auch dankbar, weil ich einer einzigen Therapiemaßnahme mein Leben verdanke. (...)

"67 ungelogene Kilo"

Wenn mich heute jemand fragen würde, ob ich mich als ganz geheilt einschätzen würde, würde ich ehrlich sagen, „Nein“. Aber ich glaube auch nicht, dass, wenn man einmal so schwer krank war, man wieder so wie früher werden kann. (...) Heute wiege ich 67 ungelogene Kilo, und ich versuche weder zu- noch abzunehmen. (...) Ich habe gelernt, die Anerkennung anderer Leute nicht überzubewerten und Kritik einzustecken, was ich zu Zeiten meiner Krankheit nicht konnte. (...) Es geht nicht darum, einfach nicht mehr in der Lage zu sein, zu essen. Es geht darum, auf der Suche nach Liebe, Anerkennung und Respekt von anderen einem falschen gesellschaftlichen Ideal nachzueifern.

Weitere Informationen:
Leitlinien für Diagnostik und Therapie der Deutschen Gesellschaft für
Kinder-und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V.
Internet: www.dgkjp.de



Essstörung konzeptioneller Ansatz der Rheinhöhe

Ein magersüchtiger Mensch ist u. a. darin krank, dass er/sie keinen wirklichen Leidensdruck in der akuten Situation des Gewichtverlusts hat. Im Gegenteil: Er/sie verwendet seine gesamten, zumeist überdurchschnittlichen Energien darauf, weitere Kilo zu verlieren. Auf der Rheinhöhe werden gerade in der ersten, der akuten Phase, die Eltern als Motoren der Veränderung genutzt. Das bedeutet konkret, dass sie angeleitet werden, in Stellvertretung für das Kind/den Jugendlichen vorübergehend die Verantwortung für Essen, Kalorienaufnahme bzw. -verbrauch zu übernehmen. Das heißt, dass die Eltern - mit fachlicher Beratung - entscheiden, was Sohn oder Tochter isst, wie viel Bewegung er oder sie hat usw. Dies führt in der Anfangssituation nicht selten zu machtkampfartigen Auseinandersetzungen mit dem das Kind beherrschenden inneren Magersuchtsmonster. Dieses Vorgehen ist aber hilfreich dafür, dass der/die Kranke sich von der "Obsession, nicht zu essen" distanzieren kann. Erst dann entwickelt sich auch eine Therapiebereitschaft, sind also unsere psychotherapeutischen Maßnahmen möglich. Das Gelingen der Therapie hängt wesentlich davon ab, wie stark und eindeutig die Eltern ihre Rolle ausfüllen können. Die Therapeuten können als Fremde nicht stärker sein als die Eltern. Insofern war es für Falkos Eltern, die sich zum Zeitpunkt der Vorstellung noch in einer sehr konflikthaften Nachscheidungssituation befanden, eine Riesenaufgabe, den Sohn gemeinsam zum Essen zu bringen, und zwar in der häuslichen Lebenswelt. Das haben sie mit viel Anstrengung geschafft, und sie sind nach Einschätzung der Klinikmitarbeiter deshalb die "wahren Helden". Als dann Falko nach anfänglichem Hin und Her kontinuierlich zunahm, hätte auch eine stationäre Behandlung zur Verfügung gestanden. Dies erübrigte sich deshalb, weil die Eltern die Sicherheit signalisierten, um mit der Situation allein zurechtzukommen. Für Falko war der Eingriff in seine Autonomie rund ums Thema Essen zugleich die Wiedererlangung der Freiheit, auf gesunde und altersangemessene Weise aktiv ins Leben zurückzukehren. Eine ambulante Therapie führte hier zum gewünschten Ziel.
Doris Mallmann/(rvk)