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"Wie andere Leute auch ..."

2. März 2005: LWV-Landesdirektor Lutz Bauer überreicht einenBewilligungsbescheid über 182.000 an Ernst Georg Eberhardt, Leiter der Diakonie-Wohnstätten, zur Errichtung einer Wohngemeinschaft mit sechs Plätzen im Rahmen des Stationär Begleiteten Wohnens. So die Nachricht. Und hinter jeder Nachricht gibt es oft eine Geschichte, die sich zu erzählen lohnt. So wie hier. Die Redakteurin des LWV-Info hat sich mehrmals mit den (zukünftigen) Bewohnern vor Ort getroffen und wird über deren Alltag, Wünsche und auch Ängste berichten.

Am oben erwähnten 2. März ist ebenfalls Richtfest, spricht der Zimmermann den Richtspruch. Grund zum Feiern, was die zukünftigen Bewohner, ihre Betreuer, Nachbarn und Geldgeber in kleinem Rahmen auch tun. Zu diesem Zeitpunkt ist bereits zu erahnen, wie das Gebäude in wenigen Monaten nach Fertigstellung aussehen wird. Das war Antje Binder, Krystian Kuklinski, Martin Schill, Sigrid Scheiding und Klaus Dieter Welch bereits früher klar, hatte der Architekt ihnen doch ein kleines Modell des Hauses – ihres neuen Zuhauses – gebaut.

Modell

Als ich mich das erste Mal wenige Wochen nach dem Richtfest mit den fünf zukünftigen Bewohnern treffe, baut dieses Modell dann auch eine Brücke zwischen uns - der Fremden, die so viel wissen will, und den Bewohnern, die zurückhaltend und abwartend sind. Als das Modell zwischen uns auf dem Tisch steht, ist die Scheu weg: Die fünf sprechen durcheinander, zeigen ihre Wohnungen, erklären die Zimmerbelegung, und deutlich tritt ihre Ungeduld zu Tage, wird ihre Vorfreude spürbar. Sie öffnen sich, und auf den Grund ihrer Freude angesprochen, bringt Sigrid Scheiding es für alle auf den Punkt: Sie freuen sich auf ihren Umzug, weil sie dann "draußen wohnen". "So wie andere Leute auch", unterstreicht die rothaarige Frau. Klaus-Dieter Welch ergänzt: "Selbstständig!". "Er", so erklärt Sigrid Scheiding weiter mit Blick auf ihren Partner Martin Schill, "hat seinen Kleiderschrank schon abgebaut. Meiner steht aber noch." Ruhig abwarten können sie aber wohl alle nicht, denn sie haben bereits alle schon, wie Dusanka Cecic, Abteilungsleiterin in der Gustav-Heinemann-Wohnanlage, berichtet, Kartons gepackt. Und gedanklich sind sie auch viel weiter. So steht bereits fest, dass Antje Binder und Krystian Kuklinski eine beige Küche und Sigrid und Martin eine blaue Küche bekommen – mit Spülmaschine. Das ist allen ganz wichtig, und sie haben lange und engagiert mit der Einrichtungsleitung darüber debattiert.

Auch Probleme

Gemeinsam haben sie einen fairen Kompromiss ausgehandelt. Die Küchenmöbel finanzieren die Diakonie-Wohnstätten, die Spülmaschine finanzieren sie selbst. Das ist für alle so in Ordnung. "Wir mussten im Vorfeld schon Einiges klären und Grenzen setzen", sagt Ernst Georg Eberhardt. "Die fünf haben in ihrer Euphorie manchmal die Wirklichkeit aus den Augen verloren und eine Anspruchshaltung aufgebaut, die überzogen war. Klar ist jetzt, dass zur größeren Selbstständigkeit beispielsweise auch gehört, für manche Dinge zu sparen." Und die Anschaffung einer Spülmaschine steht völlig außer Frage. Zum Einen kennen sie es vom Leben im Heim nicht anders und: So etwas gehört einfach dazu. Ebenso wie die Waschmaschine und der Trockner. Die Wäsche, so sind sich die beiden Frauen einig, wird einfach schöner, weicher. Für Klaus-Dieter Welch, der alleine eine Wohnung bezieht, ist das noch nicht so wichtig. Auch kein Problem: "Klaus braucht das auch nicht. Er kann bei uns waschen", erklärt Antje Binder gleich fürsorglich. Ich spüre als Außenstehende eine unausgesprochene Verbundenheit, die Menschen mit dem gleichen Ziel oft haben. Das hilft über Konflikte hinweg, die überall auftauchen, wo Menschen eng zusammenleben und viel Zeit miteinander verbringen. Die haben die Fünf auch miteinander auszufechten. Einig sind sie sich wieder, als es ums Thema "Fliesen" für die Bäder geht, die sie sich selbst aussuchen. Ja, überwiegend weiß sollen sie wohl sein, aber auch ein bisschen farbig: "Farbe muss sein". Die dürfen sie dann auch für die Wände in den Zimmern selbst aussuchen. Der eigene Geschmack zählt und wird umgesetzt. Vorausgesetzt, es bleibt im finanziellen Rahmen. Bevor die neue Rauhfaser gestrichen werden kann, steht in einigen Räumen ein Tapetenwechsel an. "Kann", so fragt Ernst Georg Eberhardt, „einer von Ihnen beim Tapeten lösen helfen?“ Was für eine Frage – klar, sie wollen und können. Jeder wird im Rahmen seiner Fähigkeiten mit anfassen. Nötig, so denke ich, wird ihre Hilfe bei der Arbeit wohl nicht sein. Aber, so wird mir im Lauf des Gesprächs klar, sie ist wichtig, um Verantwortung herauszubilden, die "Normalität" außerhalb der gewohnten Einrichtung, die sich die Bewohner wünschen, zu üben. Aber sie sind in dieser Hinsicht selbst sehr aktiv: An der Baustelle haben sie bereits Kontakt zu ihren Nachbarn aufgenommen und sich etwa Gartengeräte ausgeliehen. "Die Nachbarn", erklärt Krystian Kuklinski, "die sind nett". "Die neuen Nachbarn freuen sich auch schon", fügt Martin Schill hinzu. Das freut mich für die Fünf, denen offensichtlich nicht klar ist, dass nicht alle Wohngemeinschaften von Menschen mit Behinderungen positiv eingestellte Nachbarn haben. Die Selbstständigkeits-Bestrebungen der Fünf sind nicht immer unproblematisch. So hatten sie bereits – ohne Absprache mit den Betreuern – ein Gartenhaus aus Holz bestellt. Da war dann erst einmal ein Krisengespräch fällig – über Geld, Anschaffungen sowie Rechte und Pflichten.

Alltag

Die Zeit zwischen Richtfest und Einzug vergeht. Es wird länger als gedacht dauern, bis sie umziehen können und doch ist das neue Haus bereits ein fester Bestandteil ihres Alltags geworden. Neben der Beschäftigung mit der zukünftigen Einrichtung nehmen sie regen Anteil am Baugeschehen. Täglich nach der Arbeit treffen Sie sich, laufen zur Baustelle und verfolgen den Fortgang der Arbeiten am Haus. Einmal begleite ich drei Bewohner. Martin Schill, so erfahre ich von seiner Freundin, geht in der Werkstatt dem Hausmeister zur Hand, muss noch länger arbeiten. Antje Binder kommt später hinzu. Sie kommt immer etwas später, weil sie mit dem Bus fahren muss. Die drei anderen kennen sich im Rohbau gut aus, bewegen sich sicher über wacklige Balken und provisorische Treppen. Sie können die Funktion der einzelnen Räume benennen, wobei auch klar wird, dass sie sich noch gar nicht vorstellen können, wie es aussieht, wenn alles fertig ist. Das erste Mal ist ein wenig Unsicherheit bei ihnen zu spüren. Die ist aber schnell verflogen, als Antje Binder vor dem Haus mit uns zusammentrifft und sich bei Krystian Kuklinski erkundigt: "Schatz, wie sieht´s aus?" "Gut", lautet die Antwort.

Volles Programm

Auf dem 10-minütigen Weg von der Baustelle zur Gustav-Heinemann-Wohnanlage, auf dem ich sie bei meinem zweiten Besuch begleite, um ihr derzeitiges Zuhause zu sehen, wenden sie sich dann wieder anderen Dingen zu, wie etwa dem neuen Fahrrad, das Antje Binder möglichst schnell haben will, oder ihren Ferien. Urlaub machen drei von ihnen vor dem Umzug auch noch. Martin Schill und Sigrid Scheiding waren schon in Kroatien. Den anderen steht der Urlaub noch bevor. Sie fahren mit ihrer Gruppe aus dem "Haus Kaufungen". Zwischen den Diakonie-Wohnstätten und einer kroatischen Behinderteneinrichtung gibt es seit einigen Jahren enge Kontakte, die mit Besuchen hier und dort gut gepflegt werden. Und Krystian Kuklinski hat sogar noch mehr vor: Er spielt mit der Fußball-Mannschaft der Diakonie-Wohnstätten bei den Special-Olympics, einem internationalen Turnier, mit. Die Zeit bis zum Umzug, so bin ich mir bei ihren Berichten sicher, wird für sie schneller vergehen, als sie jetzt annehmen. Bis dahin ist vermutlich auch geklärt, ob Max und Moritz mit ihnen umziehen. Das sind die beiden Meerschweinchen von Martin Schill. Die hat er auch ohne vorherige Absprache gekauft und es ist noch unklar, ob sie mit umziehen können, weil der Käfig doch ziemlich groß ist und noch keiner weiß, wo er in dem neuen Haus Platz finden kann.
Bis zum Umzug haben die Bewohner noch alle viel vor und alle Hände voll zu tun. Überraschungen werden sich dabei nicht vermeiden lassen, denke ich, und bin gespannt auf ihren Umzug. Über den wollen wir dann in der kommenden Ausgabe berichten. (rvk)



Das Haus

Das Haus, in das die Fünf einziehen, steht in der Waitzstrasse in Kassel. Es besteht aus vier Wohnungen für sechs Personen. Zwei Zwei–Raum- Appartements sowie zwei Ein-Zimmer-Wohnungen. Es hat insgesamt rund 160 qm Nutzfläche und gehört den Diakonie-Wohnstätten. Es besteht aus einem Altbau aus den 30-er Jahren und einem neuen Anbau.



Die Bewohner

Fünf der sechs Bewohner stehen bereits fest:

Sigrid Scheiding (34 Jahre)
lebt seit 1993 in den Diakonie-Wohnstätten. Tagsüber arbeitet sie in der Kasseler Werkstatt II im Industriegebiet Waldau. In ihrer Freizeit beschäftigt sie sich gerne mit ihren Sittichen und besucht die Tanzabende der Werkstatt.
Sie zieht gemeinsam in eine Wohnung mit:
Martin Schill (28 Jahre),
der ebenfalls seit 1993 in den Diakonie-Wohnstätten lebt und in der Kasseler Werkstatt II arbeitet. In seiner Freizeit geht er gerne mit Sigrid zu den Tanzabenden, ansonsten kümmert er sich um seine Meerschweinchen oder spielt "Playstation".
Antje Binder (35)
wohnt seit 1989 in der Gustav-Heinemann-Wohnanlage der Diakonie. Sie arbeitet bei den Baunataler Werkstätten. Sie hat eine ganze Reihe von Hobbies, wie Schwimmen, Tanzen und Fahrradfahren. Außerdem gehört sie der Combo der Diakonie-Wohnstätten an. Sie bezieht gemeinsam mit
Krystian Kuklinski (49)
eine Wohnung. Er ist 1995 aus dem Elternhaus in die Einrichtung umgezogen. Er arbeitet auch in der Kasseler Werkstatt II. Fußball spielen ist seine große Leidenschaft.
Klaus-Dieter Welch (43)
wird eine der beiden Ein-Zimmer-Wohnungen beziehen. Er arbeitet in der Kasseler Werkstatt I in der Mündener Straße. Er lebt seit 1986 im stationären Bereich der Diakonie-Wohnstätten. Er versucht zum zweiten Mal außerhalb des Heimbereichs zu leben. Er guckt in seiner Freizeit gerne Fußball und verfolgt die Fußball-Bundesliga. Sein Lieblingsverein ist Borussia Dortmund.



Stationär Begleitetes Wohnen

Das vorrangige Ziel des LWV bei der Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung ist, ihnen eine größtmögliche Selbstständigkeit und damit ihre Eingliederung in das gesellschaftliche Leben zu ermöglichen. Diesem Gedanken trägt das Konzept "Wohnen im Verbund" Rechnung, weil es ein abgestuftes, vernetztes und durchlässiges System von Wohn- und Betreuungsangeboten mit unterschiedlichen Förderzielen und Betreuungsintensitäten beinhaltet. Das heißt, der Mensch mit geistiger Behinderung erhält die Hilfen und Unterstützung entsprechend seiner individuellen Möglichkeiten und Fähigkeiten nach dem Prinzip: "Soviel Hilfe wie nötig, aber soviel Selbstständigkeit wie möglich". Die Angebotsspanne reicht von der Betreuung im Wohnheim über die Außenwohngruppen, die Trainingswohnung über das Stationär Begleitete Wohnen und das Betreute Wohnen bis hin zum Selbstständigen Wohnen. Das Stationär Begleitete Wohnen stellt eine Ergänzung der bestehenden stationären Angebote für Menschen mit geistiger Behinderung dar, während das Betreute Wohnen unter die Kategorie ambulantes Angebot fällt. Bestehende Einschränkungen (Bedarfe) von Menschen mit geistiger Behinderung, z. B. in lebenspraktischer Hinsicht, die vielfach eine Aufnahme in das ambulante Betreute Wohnen bei stundenweise zugehender Betreuung ausschließen, können im Stationär Begleiteten Wohnen aufgefangen werden. Gleichwohl ist ein hohes Maß an Eigenständigkeit der Bewohner gewährleistet. Fähigkeiten und Ressourcen werden intensiv gefördert, so dass ein Wechsel in das ambulant Betreute Wohnen häufig mittel- oder kurzfristig gelingt.

Diese Hilfeform hat sich für Menschen mit geistiger Behinderung bewährt, sowohl fachlich als auch wirtschaftlich. Die Kosten für die Betreuung im Stationär Begleiteten Wohnen liegen unter denen in einem Wohnheim. Im Rahmen eines zwischen dem LWV und den Diakonie-Wohnstätten vereinbarten Gesamtkonzeptes Wohnen im Verbund wurde für den Bereich Wohnen für Menschen mit geistiger Behinderung ein Einrichtungsbudget für die Jahre 2005 bis 2008 vereinbart. Darin sind die Zielsetzungen des Wohnverbundes – eine flexible, bedarfsgerechte und personenzentrierte Leistungsgewährung – festgeschrieben. "Das Einrichtungsbudget stellt eine geeignete Planungsgrundlage für die vereinbarte Veränderung der Angebotsstrukturen hin zu mehr ambulanten Angeboten dar", beschreibt Jutta Siebert, als Regionalmanagerin zuständig für die Diakonie-Wohnstätten, einen Vorteil der Vereinbarung. Aufgrund der bereits vorliegenden positiven Erfahrungen strebt das Zielgruppenmanagement Einrichtungsbudgets mit weiteren Trägern an. (rvk)