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Man nehme eine Stunde täglich – Wie Büromenschen der Bewegungsarmut entkommen

LWV-Info: Welchen Stellenwert hat ausreichende Bewegung im menschlichen Leben?

Dr. Tamara Lehmann, Betriebsärztin: Ausreichende Bewegung hat einen sehr hohen Stellenwert. Sie müssen bedenken, dass wir Menschen uns eigentlich immer sehr viel bewegt haben. Von der Menschheitsentwicklung her ist es eine ganz kurze Spanne, die uns von den Jägern und Sammlern trennt, die sich ja intensiv bewegt haben. Jedermann weiß, dass innerhalb der letzten Jahrzehnte eine ungeheure Bewegungsarmut eingetreten ist, gerade in den hoch industrialisierten Ländern.

LWV-Info: Also im Grunde meinen Sie auch, dass sich der Mensch vom Organismus her in den letzten Jahrtausenden eigentlich nicht grundlegend verändert hat, was den Bewegungsapparat anbelangt.

Dr. Tamara Lehmann: Es ist sicher richtig, dass der Mensch sich nicht grundlegend geändert hat; dass wir von der Menschheitsentwicklung her eigentlich vor ganz kurzer Zeit noch auf Bäume geklettert sind. Was sich in letzter Zeit geändert hat, sind die Umgebungsbedingungen. Unser motorischer Apparat braucht eigentlich Bewegung. In den letzten Jahrzehnten haben wir sehr viel mehr Probleme mit unserem Bewegungsapparat, weil er gar nicht mehr entsprechend seinen Bedürfnissen benutzt wird.

LWV-Info: Es gibt ja auch Stimmen, die sagen, dass das Essverhalten unser eigentliches Problem ist.

Dr. Tamara Lehmann: Gesamtgesellschaftlich haben wir, bezogen auf die Gesundheit, zwei Hauptprobleme, die viel miteinander zu tun haben: der Bewegungsmangel und das Essverhalten. Beides sind sicherlich große Probleme – bei einem überwiegt das Eine, beim anderen das Andere.

LWV-Info: Inwieweit hat die Fastfood-Kultur damit zu tun?

Dr. Tamara Lehmann: Bei der Ernährung kommt es bekanntlich darauf an, ob man hochwertige Nahrungsmittel zu sich nimmt, die Vitamine und Mineralien enthalten oder überwiegend solche, die wenig Vitamine, aber viel Fett enthalten. Für Fastfood wird häufig viel Fett eingesetzt, weil Fett Geschmacksstoffe transportiert, weil’s dann einfach besser schmeckt; das ist das eine Problem. Das andere Problem entsteht dadurch, dass Sättigungsgefühl auch etwas mit der Dauer der Nahrungsaufnahme zu tun hat. Wie das Wort Fastfood schon sagt, wird häufig schnell, nicht in Ruhe und mit Genuss gegessen, so dass dann deutlich mehr verzehrt wird, bevor das Sättigungsgefühl einsetzt.

LWV-Info: Wie viel Fastfood tut denn überhaupt gut? Kann man dafür einen Richtwert angeben?

Dr. Tamara Lehmann: Das kann man nicht generell beantworten. Es gibt ja Menschen, die sich heutzutage ausschließlich von Fastfood ernähren. Es gibt im Bereich des Fastfood inzwischen auch Salate und Nahrungsmittel, die Vitamine enthalten. Man kann aber sicher sagen: Wenn man sich ausschließlich oder zu einem hohen Grad von Fastfood ernährt, ist das Risiko einer Gewichtszunahme größer. Das können wir uns in den USA ansehen, wo ja viele Entwicklungen der Alltagswelt vorweggenommen werden. Aus meiner Sicht ist nebenbei natürlich auch ein Verlust von Kultur zu beklagen, wenn nicht mehr gemeinsam zum Beispiel in der Familie oder mit Freunden an einem schön gedeckten Tisch gegessen wird.

LWV-Info: Kann man einen Richtwert angeben, wie viel Sport letztendlich gesundheitsförderlich ist oder wie oft man sich bewegen sollte?

Dr. Tamara Lehmann: Das ist natürlich vom Einzelnen abhängig; aber mal ganz generell gesagt: Es ist sicher gut, sich zumindest eine Stunde am Tag zu bewegen. Gesundheitsfördernd sind vor allen Dingen Ausdauersportarten, da wären zu nennen: Joggen, Fahrrad fahren, Schwimmen, Walken. Es gibt aber auch Sportarten, die gerade dann, wenn das Gewicht zu hoch ist, den Gelenken erheblichen Schaden zufügen können.

LWV-Info: Und die wären?

Dr. Tamara Lehmann: Von den Ausdauersportarten wäre bei Übergewicht in erster Linie das Joggen zu nennen, weil dabei die Gelenke vermehrt belastet werden; ansonsten gibt es Sportarten, angefangen vom Abfahrtsski mit seiner hohen Unfallgefahr über Squash mit einer starken Belastung der Gelenke, die relativ stark verletzungsgefährdend sind.

LWV-Info: Gängige Vorurteile besagen, durch zu viel Bewegung würden sich die Gelenke abnutzen und man würde sich letztendlich damit schaden.

Dr. Tamara Lehmann: In der Form, in der wir uns heutzutage bewegen, kann man das nicht nachvollziehen. Sicher kommt es bei schwerster körperlicher Arbeit zu einer vermehrten Abnutzung des Bewegungsapparates. Heutzutage besteht aber für die meisten das Problem darin, dass der Bewegungsapparat zu wenig benutzt wird, dass Verkürzungen im Bereich bestimmter Muskelgruppen auftreten, hingegen andere Muskelgruppen zu wenig aufgeschult sind und es dadurch zu einer Schiefstellung im Bewegungsapparat kommt. Durch ungleiche Druckverteilung kann dann dort Abnutzung auftreten. Wir müssen immer bedenken, dass der Bewegungsapparat ein dynamisches System ist, d. h., dass die Muskulatur, die benutzt wird, einen höheren Tonus hat und deshalb auch stärker an der Wirbelsäule und an Gelenken zieht. Wenn ich – um ein Beispiel zu nennen - vor dem Schreibtisch sitze und die Maus relativ weit entfernt platziert habe, deswegen also häufiger nach einer Seite arbeite, dann trainiere ich meinen Bewegungsapparat einseitig, mit der Folge, dass ich schief werde.

LWV-Info: Welche körperlichen Veränderungen werden denn ausgelöst durch Bewegung?

Dr. Tamara Lehmann: Durch eine Ausdauersportart wird vor allem das Herz-Kreislauf-System trainiert. Von einem guten Trainingseffekt ist auszugehen, wenn mindestens dreimal pro Woche eine halbe Stunde Sport getrieben wird. Außerdem gibt es einen erheblichen positiven Einfluss auf die Psyche: Typischerweise wird Stress bei körperlicher Bewegung abgebaut. Es gibt in vielen Bereichen positive Veränderungen.

LWV-Info: Also kann man auch sagen, dass durch Sport manche Krankheit verhindert werden kann?

Dr. Tamara Lehmann: Sport hilft - um im Bereich psychischer Erkrankungen zu bleiben - gegen Stresserkrankungen. Er ist auch eine Hilfe bei oder zur Vorbeugung von Angsterkrankungen. Für den Körper leisten Bewegung und Sport natürlich sehr viel zur Vorbeugung oder auch zur Behandlung von Gewichtsproblemen. Ansonsten tritt neben diesen Effekten auch eine Verbesserung unserer Immunabwehr ein. Es ist bekannt, dass Ausdauersportarten sogar vorbeugend gegen Krebserkrankungen wirken können. Zusammenfassend kann man sagen: Sport macht fit und tut uns gut. Und was uns gut tut und Freude macht, ist auch gut für unsere Gesundheit.

LWV-Info: Es gibt auch für das berufliche Umfeld zum Thema Bewegungsmangel einige interessante Aspekte. Welche Gründe gibt es denn überhaupt für Arbeitsunfähigkeitszeiten, was sind die Hauptgründe?

Dr. Tamara Lehmann: An erster Stelle stehen Erkrankungen des Bewegungsapparates. Das ist natürlich besonders wichtig für bewegungsarme Arbeitsplätze in Verwaltungen. Das finde ich einen ganz wichtigen Punkt, eben gerade auch für die einzelnen Betriebe und Unternehmen, denn da ist ein Bereich, auf den man als Unternehmer, als Betrieb, als Mitarbeiter selbst Einfluss nehmen kann.

LWV-Info: Also hat der Computer den Arbeitsplatz so verändert, dass das auch negativ sein kann für den Bewegungsapparat?

Dr. Tamara Lehmann: Negative Folgen für den Bewegungsapparat kann ich nur bestätigen. In den letzten Jahrzehnten hat sich unsere ganze Umwelt sehr stark verändert. Viele Kinder wachsen heute im Sitzen auf, mit Computerspielen und Fernsehen, und entwickeln keine leistungsfähige Muskulatur mehr, um weiterhin aufrecht durchs Leben gehen zu können. Inzwischen treffen wir auf siebzehn- und achtzehnjährige Schülerinnen und Schüler, die wir zu Bandscheibenoperationen schicken müssen. Auch für viele erwachsene Menschen ist das private Umfeld sehr bewegungsarm geworden. Sehen wir uns das betriebliche Umfeld an, dann fällt auf, dass der Anteil der Computerarbeit immer weiter gestiegen ist und wahrscheinlich weiter steigen wird. Auch dort können wir feststellen, dass durch Computerarbeit der Bewegungsapparat noch deutlich stärker fixiert wird als ohnehin bei Schreibtischarbeiten.

LWV-Info: Gibt es Zusammenhänge zwischen Betriebsunfällen oder Unfällen im privaten Bereich und Bewegungsarmut?

Dr. Tamara Lehmann: Dazu gibt es Untersuchungen, nach denen überbehütete Kinder, also Kinder, die wenig draußen spielen, sich wenig bewegen, vermehrt zu schweren Unfällen neigen. Bezogen auf den Betrieb kann man sicher nicht so ohne weiteres sagen, dass es einen direkt messbaren Zusammenhang zwischen Unfällen und Bewegungsarmut gäbe. Die meisten Berufsunfälle in der Verwaltung sind ja Wegeunfälle.

LWV-Info: Kann man denn im Büroalltag Krankheiten vorbeugen? Gibt es Strategien, die entwickelt werden können, um dieser Bewegungsarmut entgegenzuwirken?

Dr. Tamara Lehmann: Das ist möglich, und aus meiner Sicht sollten Unternehmen die Einflussmöglichkeiten, die sie auf die Gesunderhaltung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben, unbedingt nutzen. Es gibt Strategien, die Arbeit anders zu organisieren und zu planen - als positives Beispiel nenne ich den Abteilungsdrucker, der die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dazu bringt, aufzustehen, also nicht im Sitzen alle Arbeiten zu erledigen. Es gibt die Möglichkeit, Stehpulte, höhenverstellbare Schreibtische, Sideboards oder sonstige Arbeitsmittel zur Verfügung zu stellen, die den Mitarbeitern erlauben, auch mal im Stehen zu arbeiten. Als Negativbeispiel nenne ich das „papierlose Büro“ - ein „Ideal“, das in gesundheitlicher Hinsicht sehr problematisch ist, denn je stärker ich den Mitarbeiter an den PC binde, umso ungünstiger ist das für seinen Bewegungsapparat.

LWV-Info: Gibt es denn ein Büro der Zukunft, ein „progressives“ Büro?

Dr. Tamara Lehmann: Zu diesem Thema haben Gremien, die sich mit gesundheitlichen Fragen am Arbeitsplatz beschäftigen, schon viele Ideen entwickelt. Es ist sinnvoll, dass man sich diese Lösungsvorschläge ansieht. Aber natürlich muss jeder Betrieb ein Arbeitsumfeld für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gezielt entwickeln, das den betrieblichen Anforderungen und Bedürfnissen entspricht. Es ist wichtig, die Gesundheit der Mitarbeiter als eine Führungsaufgabe anzusehen. Dazu braucht es häufig eine Bewusstseinsänderung, denn das „Büro der Zukunft“ wird wenig helfen, wenn es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern übergestülpt und nicht von ihnen angenommen wird. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass bei Planungen von gesundheitsförderlichen Maßnahmen am Arbeitsplatz Ideen und Lösungsvorschläge der Betroffenen mit einbezogen werden.

LWV-Info: Können Sie uns noch etwas über den beim LWV eingerichteten Arbeitskreis Gesundheit sagen, für den Sie mit verantwortlich sind?

Dr. Tamara Lehmann: Der Arbeitskreis Gesundheit ist ein Kreis von Mitarbeitern des LWV, der sich aus dem Arbeitsschutzausschuss heraus gebildet hat. Er soll Empfehlungen zu gesundheitlichen Problemen am Arbeitsplatz geben. Der Arbeitskreis wird in Kürze seine Arbeit aufnehmen.

LWV-Info: Haben sie abschließend noch Tipps für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wie sie gesünder ihren Büroalltag gestalten und der Bewegungsarmut entgegenwirken können?

Dr. Tamara Lehmann: Möglichkeiten gibt es viele, sich bei der Arbeit und zu Hause mehr zu bewegen. Angefangen davon, dass man auf dem Weg zur Arbeit, wenn man mit der Straßenbahn fährt, eine oder zwei Haltestellen eher aussteigt. Dass man in der Mittagspause mal einen kleinen Gang macht. Dass man sich abends, statt sich vors Fernsehen zu setzen, lieber noch mal die Füße vertritt. Dass man wieder Anschluss sucht an einen Sportverein oder mit seiner Partnerin oder seinem Partner tanzen geht. Einfach, dass man versucht, wieder mehr Bewegung in seinen Alltag zu integrieren. Am Arbeitsplatz selber ist es sinnvoll, dass man sich angewöhnt, zwischendurch mal aufzustehen und dass man versucht, andere Arbeiten, also Vorgänge, die es neben der Computerarbeit noch gibt, unterzumischen. Sich auch wieder angewöhnt, Treppen zu laufen, nicht Aufzug zu fahren etc. Wir haben hier in der LWV-Hauptverwaltung eine Broschüre „Gymnastik im Büro“, die eine Anleitung für einfache Bewegungsübungen gibt. Dehn- und Kräftigungsübungen mit einem Dehnband sind ebenfalls sinnvoll.

Aber auch hierfür gilt: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!“ Mein Lieblingsbeispiel ist das Zähneputzen: Vor hundert Jahren hat niemand die Zähne geputzt, alle hatten faule Zähne. Heutzutage haben wir viel gesündere Zähne, weil uns angewöhnt haben, die Zähne zu putzen. Ganz ähnlich kann man sich auch angewöhnen, morgens und abends und evtl. zusätzlich in der Mittagspause für ein paar Minuten Bewegungsübungen zu machen. Damit kann jeder von uns, auch wenn nur „kleine Brötchen“ gebacken werden, viel für die eigene Gesundheit und das eigene Wohlbefinden tun.

Letztendlich kommt es ganz stark auf den einzelnen Menschen an. Wird der eigenen Gesundheit der hohe Stellenwert eingeräumt, den sie eigentlich haben sollte, kann und sollte jeder für sich selbst eine Strategie entwickeln, um im privaten und beruflichen Alltag der Bewegungsarmut entgegenzuwirken.

Ich freue mich auf die Mitarbeit im Arbeitskreis Gesundheit und bin gespannt, ob wir Anstöße für einen „bewegten LWV“ geben können.

Interview: Stefan Laupichler.