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Ein Ort, an dem Seelen gesund werden

Die Übergangswohneinrichtung der Heilsarmee in Kassel-Niederzwehren gibt wohnungslosen Frauen neuen Halt. Petra F. ist eine von ihnen.

 

KASSEL. „Ein Satz liegt mir am Herzen“, sagt Petra. „Wenn man am Boden liegt, dann bekommt man hier eine Chance. Das ist mehr als ein Aufbewahrungsort.“ Die dunkelhaarige Frau, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, weil sie in Nordhessen bekannt ist, lebt seit einigen Monaten in der Übergangseinrichtung der Heilsarmee in Kassel-Niederzwehren. Anfangs hatte sie ein ganz kleines Zimmer, inzwischen bewohnt sie das größte und schönste des Hauses. „Das Wichtigste ist, eine Tür zu haben, die man schließen kann. Da kommt niemand rein, wenn ich das nicht will“, sagt sie.

Petra ist Bauzeichnerin. Sie hatte früher einen festen Job. Dann lernte sie einen Mann kennen und brach alle Zelte in Nordhessen ab. Sie ging nach Bremen. Doch schon fünf Monate später war klar, dass sie nicht bleiben konnte. „Ich war dort seelisch eingesperrt. Deshalb bin ich geflohen.“ Sie hat alles zurückgelassen, was sie besaß, auch die Fotoalben. Das schmerzt sie am meisten. Der Mann, mit dem sie zusammengelebt hat, gibt sie nicht raus.

 

GEWALT ERLEBT

Die Trennung war traumatisch. Petra kam wegen schwerer Depressionen in die Psychiatrie. Der Sozialdienst stellte anschließend den Kontakt zur Heilsarmee her. Petra hatte buchstäblich nichts mehr, sie zog in die Übergangseinrichtung für Frauen. „Viele von den Frauen hier laufen auf Samtpfoten“, sagt sie. „Wir kennen die Geschichten der anderen nicht.“ „Fast alle haben Gewalt erlebt“, ergänzt Birgit Mann, die die Übergangseinrichtung mit einer Kollegin leitet.

Petra verbringt die Tage mit Stricken, Malen, Basteln. Sie hat sich Möbel gebaut. Sie will schon bald in eigene Wohnung ziehen und ins Betreute Wohnen wechseln. Aber der ganze Ämterkram macht Ihr im Moment noch zu schaffen. „Früher bin ich mit so was täglich umgegangen, habe juristische Texte gelesen. Aber der Kopf erfasst das nicht mehr“, sagt sie. Man merkt, dass sie die Einschränkungen, die die Depression mit sich bringt, belasten. „Das ist alles ist ein Riesenberg. Das kriegt man nur Schubkarrenweise weg!“
Immerhin spricht sie von Schubkarren. Die 51-Jährige ist trotz allem tatkräftig. Sie würde am liebsten die Türen in der Einrichtung schleifen und neu streichen. „Ich möchte gern etwas zurückgeben. Auch mit diesem Gespräch.“

Fünf Frauen wohnen in dem Haus der Heilsarmee, das in einem ruhigen Wohngebiet liegt. Zwei Frauen leben in kleinen Außenwohnungen. Alle Bewohnerinnen nehmen jeden Mittwoch gemeinsam an der Hausbesprechung teil. Das ist Pflicht. Dort werden Probleme und Konflikte besprochen, gemeinsame Unternehmungen geplant und Hausdienste verteilt. Hier ist Raum für die Frauen, sich auszutauschen.

Jutta Raddatz nutzt diesen Tag meist, um auch ihre Wäsche zu waschen. Sie lebt zehn Minuten entfernt in einer der Außenwohnungen. Vor mehr als einem Jahr, am 19. November 2013 ist sie in das Übergangswohnheim gekommen. Ihre Geschichte ähnelt der von Petra. 2011 war sie wegen eines Mannes in die Schweiz gezogen. „Ich habe alle Brücken abgebrochen. Aber noch im selben Jahr ging die Beziehung zu Ende.“ Jutta Raddatz blieb zunächst im Haus des Mannes und zog ins Gästezimmer. Doch sehr bald war die Situation nicht mehr zu ertragen. Der Mann überwachte alles, sogar ihre Mails. Sie besorgte sich Arbeit als Pflegefachkraft und zog aus, zunächst in ein Schwesternwohnheim, dann in eine eigene Wohnung. Doch nach einer Weile verlor sie ihren Job aus betrieblichen Gründen. Da sie noch nicht zwei Jahre lang ohne Unterbrechung gearbeitet hatte, bekam sie kein Arbeitslosengeld, sondern Grundsicherung. Auch die Miete wurde übernommen, aber nur für ein halbes Jahr. Dann hatte sie einen Zusammenbruch, war drei Monate lang in Behandlung. Schließlich verlor sie die Wohnung und stand vor dem Nichts. Vier Tage lebte sie auf der Straße.

„Von meinem letzten Geld habe ich eine Fahrkarte gekauft und bin zu einer Freundin gefahren. Meinen Koffer habe ich am Bahnhof eingeschlossen.“ Sie wandte sich schließlich an Via, eine Einrichtung für Menschen in Not, und kam zur Heilsarmee in Winterthur. Die wiederum nahm Kontakt mit der Heilsarmee in Kassel auf. Denn Jutta Raddatz kommt aus Sontra. Sie bekam Geld für den Zug und für das Schließfach, in dem ihr Koffer lag, und fuhr nach Kassel.
„Normalerweise legen wir Wert darauf, neue Bewohnerinnen vorher kennenzulernen“, betont Birgit Mann. „Wir möchten gern im Vorfeld klären, ob unser Angebot das richtige ist. Wer hier einzieht, muss bereit sein, sein Leben zu ändern.“ Jutta Raddatz aber fügte sich schnell ein. „Neue Frauen werden von der Gruppe in der Regel herzlich aufgenommen“, unterstreicht Mann. Die Bewohnerinnen unterstützen sich gegenseitig, wenn Birgit Mann und ihre Kollegin Ute Harland nicht da sind, abends und am Wochenende. Im Notfall ist da noch die Rufbereitschaft, die sich fünf Kollegen der Heilsarmee teilen.

 

KEIN ALKOHOL, KEINE DROGEN

Im Haus gelten feste Regeln: Kein Alkohol, keine Drogen, keine Gewalt, kein Diebstahl. Und Gäste bleiben niemals über Nacht. „Jeder Besucher wird außerdem vorgestellt“, ergänzt Petra. „Wenn eine von uns jemanden ablehnt, dann darf derjenige nicht mehr ins Haus.“

Die Frauen genießen es, in einem Haus nur für Frauen zu sein. „In Winterthur“, erzählt Jutta Raddatz, „lebten Männer und Frauen zusammen in einer Einrichtung. Da gab es ständig Beziehungsstress, selbst beim Mittagessen hatte man keine Ruhe“, sagt sie. Ruhe gibt es hier. „Man spürt, dass die anderen eine ähnliche Geschichte haben. Dadurch entsteht eine Vertrautheit“, erklärt Petra. „Mit Männern wäre das nicht so.“
Wie eng das Zusammenleben ist, hängt immer von der Gruppe ab. Die Altersunterschiede sind groß. „Viele sind unter 25“, erklärt Birgit Mann. Petra und Jutta sind über 50. Meist versorgen sich die Frauen selbst mit Essen. Ein- bis zweimal im Monat laden die Sozialarbeiterinnen zum gemeinsamen Kochen ein.

Jutta Raddatz lebt schon seit ein paar Monaten in der Außenwohnung. „Ich bin es gewohnt, allein zu leben“, sagt sie. Die Verbindung zum Haus ist geblieben und einmal in der Woche kommt eine Sozialarbeiterin. Sie möchte psychisch noch stabiler werden, dann hofft sie, wieder in ihrem Beruf arbeiten zu können und eine eigene Wohnung zu finden.

Petra ist unsicher, ob sie diesen Schritt in die Selbstständigkeit jetzt schon schafft. „Wie kann ich der Seele sagen, in soundso vielen Stunden musst du gesund werden“, sagt sie zweifelnd. Aber ganz allein muss sie ihren Weg auch in Zukunft nicht gehen. Sie würde zunächst ins Betreute Wohnen wechseln. Auf eins aber freut sie sich: „Dann hole ich endlich wieder meine Tiere zu mir! Ich habe mich früher als Beraterin um Frettchen in ganz Deutschland gekümmert“, erzählt sie stolz.

Elke Bockhorst

www.heilsarmee.de/sozial-center-kassel 

 


 

HINTERGRUND

 

EINE EIGENE WOHNUNG ALS ZIEL

 

Über 900 Plätze gibt es in Hessen für Menschen, die ehemals ohne Wohnung waren und nun wieder Fuß fassen wollen. Sie sind auf 38 Einrichtungen verteilt. Sechs dieser Einrichtungen sind nur für Frauen, in ihnen stehen 74 Plätze zur Verfügung. Sie befinden sich in Kassel, Gießen, Frankfurt und Dieburg. Eine siebte Wohneinrichtung in Darmstadt ist in Planung. „Ganz spezifische Angebote für Frauen anzubieten, hat sich aus unserer Sicht bewährt“, betont Carsten-Jens Reuter, beim LWV zuständig für Planungs- und Investitionsfragen zu Einrichtungen nach Paragraf 67 des Sozialgesetzbuches XII. „Denn diese Frauen brauchen besonderen Schutz. Es fällt Frauen schwerer sich in ein Hilfesystem zu begeben. Viele haben ein hohes Schamgefühl vor Männern und meiden daher gemischtgeschlechtliche Einrichtungen.“

Die Bewohnerinnen können bis zu zwei Jahre bleiben. Fast die Hälfte von ihnen war im vergangenen Jahr unter 28 Jahre alt, der Altersdurchschnitt liegt damit bei den Frauen deutlich niedriger als bei wohnungslosen Männern, die Hilfe suchen. Ziel der Arbeit der Wohneinrichtungen ist es, die Frauen so zu unterstützen, dass sie ihren Lebensunterhalt wieder selbst bestreiten und/oder selbstständig in einer eigenen Wohnung leben können (gegebenenfalls mit einer psychosozialen Betreuung wie im Betreuten Wohnen). Auch familiäre und soziale Beziehungen sollen die Frauen wieder aufnehmen können. Bei der überwiegenden Mehrzahl der Frauen trägt der LWV Hessen die Kosten, in einzelnen Fällen auch die Jugendämter.

ebo