Logo LWVblog

Barrierefrei im Kopf

Zwei Ensemblemitglieder im Rollstuhl – das steht im Staatstheater Darmstadt seit einem Jahr fest auf dem Spielplan. Jana Zöll und Samuel Koch zeigen, dass Schauspielerei vor allem eines ist: Leidenschaft. Das LWV Hessen Integrationsamt unterstützt sie dabei.

 

DARMSTADT. Nahezu lautlos gleiten die Räder seines Rollstuhls über die Bretter, die die Welt bedeuten. Im Kammerspiel des Staatstheaters Darmstadt liegt die Bühne ebenerdig vor den Zuschauerrängen, der Boden ist glatt und schwarz. Für „Die Räuber“ von Friedrich Schiller bildet ein lang ausgerollter Teppich vor der ersten Reihe die imaginäre Rampe, rückwärtig begrenzt ein Vorhang aus Bändern die Spielfläche. Schnell kommt der Räuber unter „Roller-auf-den-Gassen“-Rufen durch die wie Lametta flatternden Bänder, saust über den Teppich bis sein Rollstuhl zum Halten kommt. Perfekte Probe für den Regisseur. Nicht für den Schauspieler: „Kann ich das noch mal machen, ich meine, nicht, dass das nur eine Eintagsfliege war?“

Samuel Koch wird später, nach der Probe, sagen, dass ihn eine Hassliebe mit seinem Rollstuhl verbindet. Der ihm einerseits Mobilität schenkt und zugleich vor Augen hält, wie viel Freiheit zu dem Leben fehlt, das er vor seinem Unfall bei der Show „Wetten, dass“ geführt hat. Dass er auf der Bühne mit dem Rollstuhl arbeiten lernen muss, wie ein jeder Schauspieler mit einem Requisit seiner Rolle. Und dass er sich gerade deswegen auf der Bühne im Rollstuhl wohler fühlt, als privat, zu Hause. Wenn er nicht der Schauspieler ist, der sich in seiner Rolle verstecken kann, sondern Samuel Koch, der von den Schultern abwärts querschnittgelähmt ist.

 

GUT AUFGENOMMEN

Seit einem Jahr hat der Schauspieler ein festes Engagement im Staatstheater Darmstadt. Ebenso wie seine Kollegin Jana Zöll, die, wie er, einen Rollstuhl benötigt. Sie hat die Glasknochenkrankheit und ihr Körper hat das Wachstum bei 90 Zentimetern eingestellt. Kein Hinderungsgrund für sie, eine Schauspielausbildung an der Akademie für Darstellende Kunst in Ulm zu absolvieren. Über die Schauspiel-AG des Gymnasiums, an dem sie das Abitur machte, fand sie den Weg ans Theater. Samuel Koch hatte sich vor seinem Unfall im Jahr 2010 bereits für die Schauspiel- und Stuntman-Karriere entschieden. Fechten und Akrobatik stand auf dem Lehrplan an der Hochschule für Theater in Hannover, das hatte den Kunstturner gereizt.

„Nach dem Unfall dachte ich erst, was soll das für einen Sinn machen, in meinem Zustand zurück an die Schauspielschule zu gehen. Aber ich wurde so gut aufgenommen, von Kommilitonen und auch einigen Dozenten, dass ich es doch versucht habe“, erzählt Koch.

Er sitzt in der Mittagspause in der Kantine des Darmstädter Theaters, hat ein Bein hochgelagert, der Heizlüfter auf dem Stuhl daneben liefert die nötige Wärme, die sein Körper nicht mehr allein erzeugen kann. Tim, sein Assistent, hält sich dezent im Hintergrund, weiß aber auf ein Kopfnicken hin sofort, was Koch benötigt. „Bis eine Beziehung zu einem Assistenten wirklich organisch ist, kann schon ein Jahr vergehen“, sagt der.

Die Arbeitsassistenz, die über den Landeswohlfahrtsverband Hessen finanziert wird, ist unabdingbare Voraussetzung für Sa-muel Koch und Jana Zöll, um ihrem Beruf nachgehen zu können.

 

DIE WELT SPIEGELN

Tim sorgt nicht nur für regelmäßiges Trinken, er ist auch der notwendige Helfer in der Not: Wenn tatsächlich einmal eine Evakuierung des Theaterhauses notwendig wäre, würde er dafür sorgen, dass Koch das Gebäude verlassen könnte. Die vorhandenen Schleusen- und Schlupftüren konnten nicht rollstuhlgerecht umgebaut werden, anders als Garderobe und Dusche sowie einige Türen im Gebäude. Doch die baulichen Fragen sind meist zu lösen. Schwieriger ist es, die Barrieren im Kopf vieler Menschen niederzureißen.

Der Intendant des Theaters, Karsten Wiegand, will aber genau das erreichen: „Das Theater soll die Welt, in der wir leben, spiegeln. Dazu gehört es, die Vielfalt auf die Bühne zu bringen.“ Die Frage nach dem, was normal ist, stellt sich schließlich im Theater permanent. Die Zusammensetzung des Ensembles war für Wiegand, als er 2014 die Intendanz in Darmstadt antrat, die Grundsteinlegung für sein Theaterkonzept. „Ich möchte, dass viele verschiedene Menschen ins Theater kommen, verschiedene Generationen, unterschiedlicher Herkunft und Lebenserfahrungen. Man soll im Theater Erlebnisse haben, Erfahrungen machen, hier wollen wir alle Dinge des Lebens behandeln. Kunst ist nicht einfach und konsumierbar. Sie zu erfahren, kostet auch eine Anstrengung.“

Wenn also der Theaterbesucher auf der Bühne Schauspieler erlebt, die nicht der Erwartungshaltung „mitteleuropäisch, gut gebaut und körperlich unversehrt“ entsprechen, ist der erste Denkanstoß gegeben.

 

KEINE FREAKSHOW

Vorausgesetzt, ihr Einsatz gerät nicht zur „Freakshow“, wie Jana Zöll es nennt. Sie wünscht sich, ungeachtet ihres Körpers, für Rollen besetzt zu werden. Ist aber realistisch genug zu sehen, dass dieses Ziel noch nicht erreicht ist. „Es ist klar, dass man für bestimmte Sachen, die ich körperlich einfach nicht kann, Lösungen finden muss. Damit muss man spielen. Das muss ich auch für mich selbst noch erforschen.“ Sie erkundet ihre Grenzen. „Ich bevorzuge eine Spielweise, die nicht unnötigerweise die Behinderung betont. Ich werde gerne als Special Effect eingesetzt. Das ist als Teil meines Repertoires völlig in Ordnung. Aber das darf nicht alles sein. Denn die Ideen nutzen sich doch schnell ab, nicht nur für mich, auch fürs Publikum. Ich will nicht die Berührungsängste und die falschen Vorstellungen über das Leben mit Behinderung im Kopf der Leute mitspielen. Ich will so spielen, als ob es all das nicht mehr gäbe.“

Dass das gelingen kann, zeigt die Reaktion vieler Kinder, die im vergangenen Jahr „Mio, mein Mio“ mit Jana Zöll in der Hauptrolle sahen. Später, wenn sie sie auf der Straße trafen, sprachen sie die Schauspielerin an und sagten nur: „Du bist doch der Mio“. Anders als eine Lehrerin, die das Kartenkontingent für die Vorstellung mit der Begründung zurückgab, sie wolle zu Weihnachten keinen behinderten Menschen auf der Bühne sehen, das sei auch den Kindern nicht zumutbar. Oder das Ehepaar, das einen „schönen Abend“ im Theater verbringen wollte und sich über die Präsenz behinderter Schauspieler empörte. Da wünscht sich das Theater Barrierefreiheit im Kopf der Zuschauer – und arbeitet mit jeder Inszenierung daran. Bis, und das ist das erklärte Ziel, das Publikum die Behinderung eines Schauspielers nicht mehr wahrnimmt.

 

KEINE OPFEROLLE

Dieses Ziel hat auch Samuel Koch vor Augen. Er spricht leise, konzentriert, mit großem Ernst, den er immer wieder mit einer humorvollen, trockenen Bemerkung bricht. „Mir ist wichtig, dass ich keine Opfer- oder Behindertenrollen spiele“, sagt er. Aber, und auch das macht er deutlich, er will als junger Schauspieler in jeder Hinsicht ernst genommen werden, auch, was die Arbeitsbelastung angeht. Sieben Premieren hat er in der letzten Spielzeit gefeiert, vier waren ursprünglich mit dem Theater ausgemacht. „Ich kann schlecht ‚nein‘ sagen“, begründet er, „viele Projekte waren für mich so spannend, da wollte ich einfach dabei sein.“ Parallel laufen Lesereisen für seine Bücher, im Herbst ist sein neuer Titel „Rolle vorwärts“ erschienen. Ein Privatleben hat er auch noch: Im August verlobte er sich mit seiner Freundin und Schauspielkollegin Sarah Elena Timpe, die er bei Dreharbeiten zu „Sturm der Liebe“ kennen lernte.

Kochs Terminkalender ist voll. Das kostet viel organisatorischen Aufwand und Kraft. Wenn er für seine Lesungen unterwegs ist, muss er immer vorausplanen, in welcher Stadt welcher Assistent bereit ist. Dafür hat er sich schon ein kleines Netz aufgebaut. Wird er begleitet, muss er die Reisekosten für den Assistenten selbst tragen. Seine Kollegin Jana Zöll verzichtet aus diesen Gründen darauf, zu reisen. Zu aufwändig sei das für sie. Koch aber ist innerlich noch immer der Leistungssportler, der er war. Auch wenn sein Körper diese große Energie nicht mehr umzusetzen vermag. So musste er im Sommer wegen einer Sepsis für mehrere Wochen ins Krankenhaus.

 

DER BESTE BERUF

Dabei war die Schauspielerei ursprünglich gar nicht sein Traumberuf. Als 12-Jähriger bekam er einen Stunt- und Schauspiel- Kurs für Kinder geschenkt: „Die Stuntschule fiel mir als Kunstturner leicht. Aber wir mussten auch zu Titanic-Musik im Kreis laufen und uns schmachtende Blicke zuwerfen – das fand ich furchtbar, da hab’ ich mich lieber anzünden lassen.“ Er lächelt. Und ist heute froh, dass ihn einige Umwege doch ans Theater gebracht haben. Auch wenn ihn bisweilen Zweifel beschleichen. Er sei selbst sein größter Kritiker, sagt er und fragt sich dann und wann, ob er sein Engagement nicht vielleicht doch nur seinem Namen, seiner Geschichte und weniger seiner Leistung zu verdanken hat. Bis der Applaus ihn wieder bestätigt und er für sich erkennen kann: „Es ist eigentlich der beste Beruf für mich. Auch wenn ich nur begrenzt Gesten einsetzen kann und mir fast nur das Sprechen bleibt, so ist doch die Essenz der Schauspielkunst geblieben: Menschen zum Lachen, Weinen und Nachdenken zu bringen.“

Katja Gußmann

 


 

„Dezent inszeniert“

Doris Lotze-Wessel, Integrationsamt Darmstadt

„Das Integrationsamt Darmstadt hat einen guten Kontakt zum Staatstheater als Arbeitgeber schwerbehinderter Menschen, so kam das Theater im Sommer 2014 auf uns zu. Wir haben uns gemeinsam mit unserem technischen Beratungsdienst mit dem Intendanten, dem damaligen Schauspieldirektor und dem Schwerbehindertenvertrauensmann zur einer Begehung des Gebäudes getroffen. Vor einigen Jahren wurde das Theater komplett saniert und es ist schon weitestgehend barrierefrei. So mussten nur die persönlichen Bereiche der beiden Schauspieler angepasst werden, also Dusche und Garderobe. Das hat das Integrationsamt finanziert. Der größere Posten ist die Arbeitsassistenz, die die beiden praktisch rund um die Arbeit benötigen. In den ersten drei Jahren bekommen wir die Kosten hierfür von der Agentur für Arbeit erstattet. Im Anschluss daran sind wir Kostenträger, wenn das Arbeitsverhältnis weiter geführt wird. Die Arbeitsassistenten unterstützen nicht nur beim Umkleiden, sondern teils auch auf der Bühne. Im ‚Prinz von Homburg‘ zum Beispiel hebt der Assistent Samuel Koch vom Holzpferd herunter und setzt ihn in seinen Rollstuhl. Das ist sehr dezent inszeniert: Eine Schauspielerin im Barockkleid verdeckt die Szene, bis Samuel Koch gut platziert ist.

Im Vordergrund stehen die schauspielerische Leistung und der Mensch, die Behinderung spielt keine Rolle auf der Bühne. Nach vielen Jahren im Integrationsamt kann ich nur sagen: Geht doch!“