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LWVkonkret 03.2016

Hilfe nach Plan

Wer über Anträge psychisch kranker Menschen auf Hilfen zur sozialen Teilhabe entscheidet, braucht eine klare Vorstellung von den verschiedenen Behinderungsbildern und fachliches Know-how. Beides erhalten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des LWV Hessen bei regelmäßigen Fachtagungen. So können sie mit den Betroffenen und ihren betreuenden Ärzten und Sozialpädagogen auf Augenhöhe kommunizieren und Hilfebedarfe richtig einschätzen - zum Wohl der seelisch behinderten Menschen. Ein Fallbeispiel.

KASSEL. Ricarda Schneiders* Blick (*Name von der Redaktion geändert) ist starr auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne gerichtet, während sie von ihrem absoluten Tiefpunkt erzählt. Von der Zeit, als ihr Leben nur noch an einem seidenen Faden hing. "Wenn mich mein Bruder nicht in meiner Wohnung gefunden hätte, würde ich heute nicht mehr leben", sagt sie leise, aber bestimmt.

Fünf Jahre ist es her, dass die heute 55-Jährige in ein tiefes seelisches Loch fiel. Zuvor schon war sie wegen Depressionen in Behandlung. Psychotherapeutische Einzelsitzungen und Medikamente halfen zunächst, so dass die Therapie ohne Verlängerung auslief. Zu dem Zeitpunkt war nicht abzusehen, dass die Krankheit so schnell wiederkehren würde - und diesmal gravierender als zuvor. Ricarda Schneider zog sich in ihre Wohnung zurück, litt an krankhafter Antriebslosigkeit, konnte nicht aufstehen, ihren Haushalt regeln, einkaufen gehen, sich etwas kochen. Über Wochen aß sie so gut wie nichts, hatte auch gar keinen Appetit - ein Automatismus der Selbstzerstörung, den sie in der Phase schwerster Depressionen nicht durchbrechen konnte. Der Bruder, der sich während dieser Wochen im Ausland aufgehalten hatte, fand die Schwester kurz nach seiner Rückkehr in völlig ausgezehrtem Zustand.

Es folgten vier Wochen Intensivstation aufgrund massiver neurologischer Ausfallerscheinungen, verbunden mit dem ärztlichen Befund: Wernicke-Korsakow-Syndrom. Eine Diagnose, die meist nach chronischem Alkoholmissbrauch gestellt wird, ausgelöst durch eine extreme Unterversorgung an Vitamin B1. "Bei Ricarda Schneider war aber nicht Alkohol der Grund, sondern die Mangelernährung während der schweren Depressionen", erklärt Rike Kraft. Die Sozialpädagogin ist seit 23 Jahren bei der Sozialtherapie Kassel tätig, einem Verein, der seelisch behinderten Menschen im Rahmen ambulanter und teilstationärer Hilfen begleitet und unterstützt. Sie kennt Ricarda Schneider aus der Tagesstätte, die die 55-Jährige an vier Tagen in der Woche besucht. Kraft kennt die Diagnose. "Für unsere Arbeit ist die aber nicht wichtig. Sondern wir schauen: Was braucht jemand, vor allem was möchte jemand, das ihm bei seiner Lebensgestaltung im Alltag ganz konkret hilft?"

Für diese individuelle Bedarfsfeststellung wurde in 2004 ein spezielles Planungs-Instrument zur gesellschaftlichen Teilhabe im Rahmen der Eingliederungshilfe eingeführt: der Integrierte Behandlungs- und Rehabilitationsplan, abgekürzt IBRP. Auf ihn schauen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Landeswohlfahrtsverbandes ganz genau, wenn sie einen Antrag auf Leistungen zur Teilhabe bei wesentlicher Behinderung nach dem Zwölften Buch des Sozialgesetzbuches (SGB XII) bearbeiten. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter wie Rike Kraft beschreiben im IBRP die Störungen und Beeinträchtigungen, aber auch die Fähigkeiten und Ressourcen, die ein psychisch kranker Antragsteller im Alltag hat. Gemeinsam mit dem Klienten werden die Ziele für einen bestimmten Planungszeitraum festgelegt, um trotz Einschränkungen einen selbstbestimmten Alltag und soziale Teilhabe erreichen zu können. Hilfeplanung bedeute, personenzentriert zu arbeiten und genau zu definieren, "welche Barrieren, welche Beeinträchtigungen den einzelnen Betroffenen in seiner täglichen Lebensführung behindern", so Rike Kraft.

Landet der Integrierte Behandlungs- und Rehabilitationsplan dann - zusammen mit einem ärztlichen Gutachten - auf den Schreibtischen beim Landeswohlfahrtsverband, stößt das medizinisch- sozialpädagogische Fachwissen auf Verwaltungswissen. "Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bearbeiten ja den IBRP. Sie sind keine Ärzte oder Psychotherapeuten und nur zum Teil Sozialarbeiter. Die meisten haben einen Studienabschluss für die öffentliche Verwaltung und müssen kluge Entscheidungen treffen", umschreibt Karl-Heinz Schön die Herausforderung. Der Leiter des Fachbereichs für Menschen mit seelischer Behinderung und Abhängigkeitserkrankung beim LWV weiß, dass seine Mitarbeiter eine verantwortungsvolle Aufgabe haben. Von ihrer Prüfung und Beurteilung hängt ab, welche und wie viel Unterstützung der psychisch Erkrankte im Einzelfall erhält.

FACHBEGRIFFE VERSTEHEN

Unerlässlich dafür ist, dass die Verwaltungsmitarbeiter genau verstehen, was in den Teilhabe-Plänen und Betreuungskonzepten steht. Viele Fachbegriffe, wie sie Ärzte und Sozialarbeiter ganz selbstverständlich benutzen, erschließen sich den Entscheidern nicht ohne solide Kenntnisse in der anspruchsvollen medizinisch-sozialpädagogischen Thematik. Welcher Hilfebedarf steckt hinter Begriffen wie "entlastendes Gespräch", "Motivation", oder "Antriebsschwäche"? Schließlich müssen die Verwaltungsmitarbeiter einschätzen können: Wie intensiv muss die Betreuung sein? Wie viele Fachleistungsstunden braucht es bei diesem oder jenem Behinderungsbild?

Das Problem bei einer psychischen Erkrankung sei generell, "darzulegen, worin genau die Behinderung besteht, die der Teilhabe am Leben im Wege steht", bringt es Karl-Heinz Schön auf den Punkt. "Das ist nicht nur für unsere Mitarbeiter, sondern auch für die ärztlichen und sozialpädagogischen Fach-leute nicht immer einfach." Sein Anspruch: "Unsere Sachbearbeiter sollen ein fachliches Gespräch auf Augenhöhe mit den betreuenden Sozialarbeitern und -therapeuten führen, mit ihnen über die einzelnen Arten psychischer Behinderung kommunizieren können." Dazu brauche es Fachwissen. "An regelmäßigen Fortbildungen unserer Mitarbeiter kommen wir nicht vorbei", bekräftigt Schön. Ziel sei es, die Fortschritte in Medizin und sozialpsychiatrischer Arbeit zu kennen und bei den Behandlungsmethoden immer auf dem aktuellen Wissensstand zu sein.

RETTUNGSLEINE INS LEBEN

Für Ricarda Schneider waren die in ihrem Fall bewilligten Therapien und Hilfen die Rettungsleine zurück ins Leben. Nach intensiver Krankenhausbehandlung ging sie in eine sechswöchige neurologische Rehabilitationsmaßnahme. Dort lernte sie unter psychologischer Betreuung wieder laufen, trainierte ihren Bewegungsapparat genauso wie ihr Gedächtnis. Die 55-Jährige - selbst studierte Sozialpädagogin, die mehrere Jahrzehnte in ihrem Beruf gearbeitet hat - hat viel von ihrer früheren Energie zurückgewonnen. Wichtige Alltagsfertigkeiten hat sie sich zurückerarbeitet und an ihrem sozialen Netz geknüpft, um gegen Krisen künftig besser gewappnet zu sein. Ihr Leben hat wieder Struktur bekommen. Vier Mal in der Woche geht Ricarda Schneider in die Tagesstätte der Sozialtherapie Kassel. Ihrem individuellen Hilfeplan entsprechend, nimmt sie hier an gemeinsamen Mahlzeiten in der Gruppe teil, nutzt die Kreativangebote und Bewegungsgruppen. Der geschützte Rahmen ermöglicht ihr die soziale Teilhabe und hilft gleichzeitig, die Koordination und Motorik zu verbessern. Auch der Englischkurs, an dem sie "nur aus Spaß" teilnimmt, trainiert Gedächtnis und Konzentrationsfähigkeit.

Als jüngerer Mensch liebte Ricarda Schneider das Motorradfahren, heute geht sie privat zum therapeutischen Reiten und erhält Ergotherapie und Krankengymnastik auf Krankenschein. Die 55-Jährige ist in einem Alltag angekommen, der sie positiv nach vorne schauen lässt. Noch braucht sie Unterstützungsleistungen - die sie auch bekommt, zum Beispiel im Betreuten Wohnen beim Ludwig-Noll-Verein. Doch ihre Gedanken an die Zukunft zeugen von neuem Lebensmut: "Eines Tages möchte ich ohne Betreuung wieder in meinen vier Wänden wohnen können."

Petra Schaumburg-Reis

 


 

HINTERGRUND

"WIR SCHAFFEN UNS FACHKOMPETENZ DRAUF"

Der LWV-Fachbereich für Menschen mit seelischer Behinderung veranstaltet in regelmäßigen Abständen Fachtagungen und Fortbildungen zum Thema Behinderungsbilder. "Dabei schaffen wir unseren Kolleginnen und Kollegen die Fachkompetenz drauf, die sie für ihre Entscheidungen brauchen", sagt Jennifer Brackmann. Die ausgebildete Heilpädagogin ist Regionalmanagerin und für die Regionen Hochtaunuskreis, Limburg-Weilburg und Frankfurt zuständig. Die jüngste Tagung, die in der Fachklinik Eschenburg im Lahn-Dill-Kreis stattfand, hat sie mit organisiert. Wissensdefizite abbauen lautete die Devise - besonders wichtig für neue Verwaltungsmitarbeiter, die noch nicht so lange mit den Anträgen seelisch behinderter Menschen betraut sind.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer vom LWV absolvierten dabei ein Vortragsprogramm auf akademischem Niveau über typische Behinderungsbilder. Referenten waren ausgewiesene Experten auf ihrem Fachgebiet: eine Ärztin für Neurologie und ein Facharzt für Psychiatrie. Im Mittelpunkt standen ausgewählte Krankheitsbilder wie Schizophrenie, Borderline- Erkrankung, Depressionen und Abhängigkeitserkrankungen, mit denen die Mitarbeiter in den Anträgen auf Eingliederungshilfe häufig konfrontiert sind.

Angeleitet von Fachleuten aus der sozialpädagogischen Praxis wurden die ausgewählten Behinderungsbilder anschließend in Gruppen intensiv aufgearbeitet. Anonymisierte Teilhabe-Pläne wurden analysiert, die Sachbearbeiter konnten ihre Fragen dazu stellen.

Ergänzend ging es um Übersetzungshilfen zu den Hilfeplänen: Was bedeuten Fachtermini wie "entlastende Gespräche" oder "Motivierung" im jeweiligen Fall? Was stellen sich die Sozialpädagogen in der Praxis unter diesen Begriffen vor? Bewährte Betreuungskonzepte wurden unter der Fragestellung erörtert: Welche fachlichen Begriffe sind oft in einem Hilfeplan zu lesen, wenn es sich um ein bestimmtes Behinderungsbild handelt? "Es ging auch darum zu zeigen, dass die LWV-Sachbearbeiter mit den Mitarbeitern der Leistungserbringer gemeinsam an einem Strang ziehen, im Sinne und zum Wohle des psychisch kranken Menschen", sagt Fachbereichsleiter Karl-Heinz Schön.

ptr

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