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Vom Glück der Arbeit

Wer es auf einen Betriebsintegrierten Beschäftigungsplatz geschafft hat, legt den Schalter noch einmal um: Diese Mitarbeiter sind hoch motiviert, zuverlässig und selten krank. Ursula Stanjek-Büchel macht ihre Arbeit sogar glücklich.

 

BAD WILDUNGEN. Das schwarz-blaue Büchlein trägt sie immer bei sich. Alle wichtigen Aufgaben hat sie darin notiert: Wie sie der 89-jährigen Dame von Station N2 am bestem beim Essen helfen kann, wo die Handtücher aufgestapelt werden und vor allem Namen. Die kann sie sich auf diese Weise viel schneller merken. Seit acht Monaten arbeitet Ursula Stanjek-Büchel im Pflege- und Betreuungszentrum Waldeck in Bad Wildungen. Dort hat sie einen sogenannten Betriebsintegrierten Beschäftigungsplatz (BiB). Das sind Arbeitsplätze für Mitarbeiter aus Werkstätten für behinderte Menschen, die in "normalen" Unternehmen arbeiten.

"Es gibt ja viele Leute, die einen seelischen Knacks haben, der aber gar nicht auffällt, wenn sie eine gute Umgebung haben", sagt Stanjek-Büchel. Anmerken würde man ihr den "Knacks" freilich kaum. Für die Senioren ist sie einfach nur "Ursula". Schließlich trägt sie den gleichen blauen Kittel wie alle anderen Schwestern und Pfleger. "Ich freue mich immer, wenn sie kommt", sagt eine 73-Jährige, mit der sie häufig "Mensch ärgere Dich nicht" spielt.

Wenn sie morgens auf die Station kommt, biegt Stanjek-Büchel gleich ab in das erste Zimmer rechts. Ganz vorsichtig hilft sie einer 89-jährigen Dame beim Frühstücken. Unterhalten kann sie sich leider nicht mehr mit ihr. Aber sie versucht zu begreifen, was die Rentnerin möchte. Die alte Dame hat kalte Hände. Stanjek-Büchel wärmt sie so lange, bis die Seniorin lächelt.

Im Flur trifft sie eine Rollstuhlfahrerin, die sie ins Spielzimmer mitnimmt. Eine Freundin gesellt sich dazu. Memory wird ausgepackt. Und während die Mitspieler nach den passenden Kärtchen suchen, wird geplaudert. Eine Seniorin erzählt von den Tieren auf dem Bauernhof, auf dem sie ihr Leben verbracht hat. "30 Kühe, acht Schweine und vier Ziegen hatten wir." Stanjek-Büchel lächelt, auch wenn sie manche Geschichte schon kennt. Die Rentnerinnen freuen sich, wenn "Ursula" kommt: "Das ist eine ganz Tüchtige", sagt die Rolli-Fahrerin. 

 

 

NUR GUTE KRITIKEN

Das bestätigt auch Giuseppe Carciola, der Geschäftsführer von Wicker Gesundheit und Pflege: "Ich höre nur Positives." Und Karl-Heinz Ködding vom Lebenshilfe-Werk Waldeck-Frankenberg ergänzt: "Ich habe selten eine Mitarbeiterin gesehen, die immer zufrieden und glücklich ist und nur gute Kritiken bekommt. Aber bei ihr ist das so." Ködding ist hier der sogenannte FBI, die Fachkraft für Berufliche Integration.

32 Werkstattmitarbeiter des Lebenshilfewerks Waldeck-Frankenberg arbeiten zurzeit auf BiB-Plätzen. In den kommenden Jahren soll ihre Zahl auf 52 steigen. Sie arbeiten in Altenheimen, Krankenhäusern und Kindergärten, in Supermärkten, Sanitätshäusern und Spülkuchen, aber auch in der Produktion - etwa bei Möbelhersteller Thonet, Heizungsbauer Viessmann oder bei der Firma Heitec, Heißkanaltechnik. Ein Beschäftigter ist sogar in einem Buchladen tätig. "Damit wollen wir unseren Mitarbeitern weitere berufliche Perspektiven bieten", erklärt Olaf Stapel vom Vorstand des Lebenshilfe-Werks. Zudem seien unter den psychisch kranken Menschen viele mit einer guten Ausbildung.

Dazu gehört auch Ursula Stanjek-Büchel. Die gebürtige Fritzlarerin hat einst Krankenschwester gelernt und im Hospital zum Heiligen Geist gearbeitet. Das Hegen und Pflegen liegt ihr. Doch nach einer Wochenbett-Depression wurde sie krank. Über viele Jahre fühlte sie sich ihrem Alltag kaum gewachsen, traute sich nichts mehr zu und musste mehrfach in die Klinik. Sie war erst 38, als die Ärzte ihr eine chronische Grunderkrankung bescheinigten.

FREIE KAPAZITÄTEN

Gar nicht mehr zu arbeiten konnte sie sich allerdings nicht vorstellen. "Krank sein ist keine Schande", sagt Stanjek-Büchel: "Aber liegen bleiben sollte man nicht." 2011 ging sie erst in eine Werkstatt des Berufsbildungswerks in Warburg, wo sie in der Elektromontage arbeitete. 2015 wechselte sie nach Bad Wildungen, weil sie im Fritzlarer Stadtteil Ungedanken ein Häuschen geerbt hatte. In der Lebenshilfe-Werkstatt saß sie an der Nähmaschine und reparierte Krankenhauswäsche. Eine sehr gute Mitarbeiterin, sagt der Abteilungsleiter. Doch ihr wurde langweilig: "Nach einer gewissen Weile sah ein OP-Hemdchen aus wie das andere", so Stanjek-Büchel. Zudem hatte sie nach der Renovierung des Häuschens und der Hochzeit mit einem früheren Kollegen wieder Kraft und Kapazitaten frei. Sie wollte wieder unter Menschen in ihrem Berufsbereich arbeiten, "auch wenn man für den ersten Arbeitsmarkt vielleicht nicht mehr so taufrisch ist.

Sie ging zu Karl-Heinz Ködding, der sich auf die Suche nach einer passenden Stelle machte. Schließlich sollen die Wünsche und Fähigkeiten der Mitarbeiter gut zum Arbeitgeber passen. Im Pflegezentrum Waldeck ließ man sich gern auf das Experiment ein. Im November startete Stanjek-Büchel mit einem Praktikum. Die probeweise Beschäftigung ist die Regel. Schließlich klaffen die Vorstellungen der Mitarbeiter und die Realitat vor Ort mitunter etwas auseinander, berichtet Ködding. Doch Stanjek-Büchel war von Anfang an begeistert: "Ich arbeite schrecklich gern hier", sagt sie.

 

 

ALLTAGSBEGLEITUNG

Aufmerksam geht Stanjek-Büchel auf die Menschen zu. Einem alten Herrn liest sie aus der Zeitung vor. Anderen kämmt sie die Haare oder geht mit ihnen im Kurpark spazieren. Sie spielt Schwarzer Peter, Bingo und "Mensch ärgere dich nicht", malt Mandalas, besorgt Zeitungen und Busfahrpläne und holt die Rollifahrer in den Speiseraum. Im Spielzimmer trifft sie sich auch regelmäßig mit Bewohnerinnen und Bewohnern, um Handtücher zusammenzulegen - das fördert die Koordination der Hände.

Karl-Heinz Ködding kommt mindestens dreimal im Monat vorbei: "Die Betreuung ist natürlich nicht ganz so intensiv wie in der Werkstatt, wo jederzeit ein Sozialarbeiter vor Ort ist", sagt er. Freilich räumt er viele Schwierigkeiten schon im Vorfeld aus. So gibt es vorbereitende Seminare für die angehenden Mitarbeiter. Ködding achtet aber auch darauf, dass die Arbeitszeitmodelle stimmen. Schließlich gibt es Mitarbeiter, die nicht länger als drei Stunden am Stück arbeiten können oder noch einen Tag in der Woche in der Werkstatt tätig sein wollen. Andere kommen mit Großraumbüros absolut nicht klar. Wichtig ist auch, dass die Mitarbeiter mit dem Bus zu ihren Betrieben kommen können. Vor Ort geht es in der Regel darum, zwischenmenschliche Missverständnisse aufzuklären. Ködding sieht sich dabei nicht als Betreuer: "Ich bin eher das Sicherheits-Backup im Hintergrund", sagt der Fachmann für berufliche Integration.

 

 

PUNKTEN MIT ZUVERLÄSSIGKEIT

Doch die meisten wissen die Chance zu nutzen. "Diese Menschen legen den Hebel noch einmal um", erzählt Ködding: "Sie fühlen sich gebraucht." Dass ein Mitarbeiter für einen begrenzten Zeitraum zurück in die Werkstatt muss, ist selten. Die meisten punkten mit Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit. Selbst krankheitsbedingte Fehlzeiten sind niedrig. Einer seiner BiB-Beschäftigten hat nur zwei Krankmeldungen in zehn Jahren abgegeben. Dass auch das Gehalt steigt, hebt die Motivation natürlich noch einmal. Die Beschäftigten auf den BiBs sind aufgrund ihrer besonderen Leistungsfähigkeit beim Werkstattlohn im oberen Bereich angesiedelt. Acht Mitarbeiter haben es in den vergangenen vier Jahren sogar auf den allgemeinen Arbeitsmarkt geschafft. Ködding nennt das "die Königsklasse". Auch Ursula Stanjek-Büchel freut sich, dass sie nun etwas mehr Geld bekommt. Aber sie ist auch froh, dass sie im Vergleich zu ihrer früheren Tätigkeit als Krankenschwester mehr Zeit hat und keine Spritzen geben muss. Die 52-Jährige will auf jeden Fall bis zur Rente im Pflegezentrum bleiben. Sie sagt: "Ich komme glücklicher heim, als ich morgens gestartet bin."

Gesa Coordes

 


 

HINTERGRUND

MEHR BETRIEBSINTEGRIERTE BESCHÄFTIGUNGSPLÄTZE

In den kommenden vier Jahren sollen mehr als 400 neue Betriebsintegrierte Beschäftigungsplatze (BiB) für behinderte Menschen in Hessen entstehen. Dies hat der Landeswohlfahrtsverband Hessen mit der Liga der Freien Wohlfahrtspflege und den Verbänden privater Träger in einer Rahmenzielvereinbarung festgelegt. Insgesamt wächst die Zahl der BiB damit auf 1.550. Dabei handelt es sich um Arbeitsplätze in privaten und öffentlichen Unternehmen, die durch die Werkstätten für behinderte Menschen vermittelt werden. Die Beschäftigten gehören weiterhin zur Werkstatt und werden von deren Fachkräften begleitet. Auf diese Weise können sie sich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erproben und später in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis wechseln.

Mit den einzelnen Werkstatt-Trägern wird derzeit in gesonderten Zielvereinbarungen festgelegt, wie viele BiB sie in Zukunft pro Werkstatt anbieten. Dabei werden Teile der Personalkosten für die Fachkräfte für Berufliche Integration in den Werkstätten weiterhin als freiwillige Leistung durch den LWV finanziert. Bereits 2013 wurde eine ähnliche Rahmenzielvereinbarung abgeschlossen. Dadurch stieg die Zahl der BiB von 600 auf 1.075 innerhalb von vier Jahren. Im gleichen Zeitraum konnten im Schnitt jährlich 43 behinderte Beschäftigte in den allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelt werden.

gec