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Da ist Musik drin

Die Caritas hat im Bahnhofsgebäude Darmstadt-Weiterstadt ein Gemeindepsychiatrisches Zentrum mit Betreutem Wohnen und Tagesstätte eröffnet. Im Erdgeschoss betreibt der Verein Kulturbahnhof Weiterstadt eine Musikkneipe: Kontakt ausdrücklich erwünscht!

 

WEITERSTADT. Hefeweizen einschenken? Na klar! Alessio Kramer* nimmt lächelnd das Glas in die Linke und lässt langsam das Bier hineinlaufen bis zum schaumkrönenden Ende. Er steht heute zum ersten Mal hinter der Theke des Kulturbahnhofs Weiterstadt e.V. kurz: KuBa. Im Kühlschrank das Bier, hinter der Theke die Kasse, dort die Gläser; alles überschaubar und dennoch für den jungen Mann eine neue Herausforderung. Während auf der Bühne ein Musiker seine Gitarre stimmt und ein Kollege den Soundcheck übernimmt, kommen die ersten Gäste ins Lokal, die an diesem Mittwochabend dabei sein wollen, wenn einige Bands ihr Bestes geben. Es ist "Open Stage" im Kulturbahnhof, alle sind gespannt auf die Musik des Abends. Wer wird so überzeugend auftreten, dass er offiziell im KuBa ein Konzert geben darf? Auch der KuBa-Vereinsvorsitzende Matthias Lemke ist vor Ort, um mit zu entscheiden. Und er freut sich über die Unterstützung am Tresen.

Alessio Kramer gibt auch sein Bestes. Beim dritten Weizenbier, das er einschenkt, hat er den Bogen raus und nach und nach weicht die erste Nervosität der Freude. Kaum zu glauben, dass der junge Mann seine Wohnung noch vor einigen Monaten am liebsten gar nicht verlassen wollte.

 

STRUKTUR UND STABILITÄT

Seit April besucht er regelmäßig die neue Tagesstätte der Caritas im Kulturbahnhof und nimmt dort am Programm teil: Einkaufen gehen, Kochen, Backen, im Kreativraum arbeiten oder Gedächtnistraining am Computer. Zurückhaltend ist der junge Mann, er spricht mit sanfter Stimme. "Die Tagesstätte gibt mir Struktur und Stabilität", sagt der 29-Jährige. Ihm hilft auch der Kontakt zu den anderen Klienten: "Ich habe hier schon sehr gute Gespräche geführt." Zurzeit sind sie noch zu sechst, langfristig können bis zu 20 Menschen betreut werden auf ihrem Weg zurück in die Selbstständigkeit. Mit dem Schritt hinter die Theke der Musikkneipe hat Alessio Kramer die richtige Richtung eingeschlagen, um wieder am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Der Wunsch, die Tagesstätte so offen wie möglich anzulegen, steht hinter dem Konzept. Tagsüber wird das Lokal als Raum der Tagesstätte genutzt, abends kann der Kulturverein dort Veranstaltungen organisieren. Oder, wie es der Vereinsvorsitzende Matthias Lemke formuliert: "Wir haben die Nachtschicht, die Caritas die Tagesschicht, das passt." Wie es zu diesem ungewöhnlichen Konzept kommen konnte, erklärt Caritas Vorstandsreferent Bastian Ripper: "Wir waren in Weiterstadt jahrelang auf der Suche nach geeigneten Räumen für eine Tagesstätte, als ich hörte, dass die Musicstation, die Musikkneipe im Bahnhof, schließt. Da kam mir die Idee, den Bahnhof zu mieten." Gedacht, getan, setzte Ripper alle Hebel in Bewegung, alle Interessierten ins Boot zu holen. Aus den Stammgästen der Musicstation gründete sich der Verein Kulturbahnhof Weiterstadt mit inzwischen rund 50 Mitgliedern, der am Abend und am Wochenende die Gaststätte bespielt. Die Caritas mietete die gesamte Bahnhofsimmobilie mit 240 Quadratmetern. Neun Monate lang wurde renoviert, bis die Arbeit Ende 2016 aufgenommen werden konnte.

 

RÜCKENWIND GEBEN

Neben den Räumen der Tagesstätte befinden sich noch zwei Wohnungen unter dem Dach im Haus, die für Betreutes Wohnen zur Verfügung stehen. Ausgelegt ist das Konzept auf 15 bis 20 Menschen, die in der Tagesstätte ihren Anlaufpunkt im Leben finden können. Aber, und das ist Ripper sehr wichtig: nur auf Zeit. Ziel der Tagesstätte ist es, die psychisch erkrankten Menschen zu stabilisieren und ihnen einen Wiedereinstieg in ein Leben in der Gesellschaft zu erleichtern. "Wir müssen die Menschen stark machen, ihnen Selbstbewusstsein und Rückenwind geben", sagt Ripper. Zu lange seien Tagesstätten zu "Sonderwelten" geraten, die keinen Bezug zur Außenwelt mehr pflegen. Bei den Erkrankten setze eine Gewöhnung an solche Strukturen ein, die nicht zur Heilung führe. Gerade dann, wenn Familie und Freundschaften vernachlässigt werden.

"Es darf nicht sein, dass der Psychologe oder der Sozialarbeiter die einzigen Bezugspersonen sind", betont Ripper. Basis der Beziehung ist die Krankheit - bei einer Gesundung fiele die letzte zwischenmenschliche Bindung weg, also besteht kein Anreiz zur Besserung des Zustands. Deswegen schult die Caritas ihre Mitarbeiter seit 2013 sukzessive in einem neuen Beratungsansatz, der das soziale Netzwerk der Betroffenen einbezieht, den "Offenen Dialog" mit Netzwerkgesprächen. Der Betroffene zeichnet eine "Netzwerkkarte" mit allen bedeutsamen Bezugspersonen seines bisherigen Lebens. Gemeinsam wird geschaut, wie sie am Behandlungsprozess beteiligt werden können.

 

BEZIEHUNGEN AUFFRISCHEN

Vernachlässigte Beziehungen werden wieder aufgefrischt und damit ins Bewusstsein gerufen, dass es Menschen im Leben gab und gibt, die wichtig sind. "Im Leben kristallisieren sich ein paar Menschen heraus, die einem zur Seite stehen, andere entfernen sich", sagt Alessio Kramer. Er hat Menschen in seinem Umfeld, die zu ihm halten. Früher studierte er Biologie und Chemie an der TU-Darmstadt. Noch immer liest er Fachartikel, hält sich informiert, würde vielleicht gerne einmal einen Ausbildungsberuf im naturwissenschaftlichen Bereich machen. Die Tagesstätte hilft ihm jetzt erst einmal dabei, einen Rhythmus in sein Leben zu bekommen. "Ich freue mich morgens darauf, hier her zu kommen, sonst würde ich es nicht tun", sagt er. Bastian Ripper erklärt, dass zum Konzept auch gehört, für die Klienten Praktika bei örtlich ansässigen Unternehmen, zum Beispiel einem Möbelhaus im Weiterstädter Gewerbegebiet, zu finden. Über einen Praktikumsplatz können die Klienten wieder am Leben außerhalb der eigenen vier Wände und der Tagesstätte teilnehmen und sich an einen Lebensrhythmus gewöhnen, der ihnen zur Selbstständigkeit verhilft und mittelfristig wieder eine Unabhängigkeit von der Tagesstätte ermöglicht.

 

OFFENES CAFÉ

Doch zuvor gilt es für einige, sich überhaupt erst einmal wieder im Kontakt mit anderen Menschen zu üben. Eine schöne Möglichkeit bietet die Tagesstätte dafür mit ihrem "offenen Café" jeden Donnerstagnachmittag an. Erst backen die Klienten Kuchen, dann servieren sie ihn den Weiterstädter Bürgern, die zu Besuch kommen. Hier hat Alessio Kramer auch erste Theken-Erfahrung gesammelt. "Der Umgang mit den Menschen macht mir Spaß. Je mehr kommen, desto besser", sagt er. "Ich hatte eine sehr schwierige Zeit, in der ich mich stark isoliert hatte. Jetzt lerne ich Schritt für Schritt, aus meinem Schneckenhäuschen rauszukommen", erzählt er.

Die Krankheit war ein harter Einschnitt in sein Leben, das mit 17 Jahren einen turbulenten Verlauf nahm, als er 2005 bei der dritten Staffel von Deutschland sucht den Superstar antrat und unter die letzten 20 kam. Im Jahr darauf erfolgte die Diagnose seiner psychischen Erkrankung. Doch Alessio Kramer ist überzeugt, dass die Erkrankung nichts mit seiner Teilnahme an DSDS zu tun habe. Der 29-Jährige erinnert sich gern an diese Zeit zurück, erzählt mit Freude von dem Erlebnis, vor großem Publikum zu singen. Und er singt noch immer, sein Vorbild ist Eros Ramazotti. Wenn er sich etwas für die Tagesstätte wünschen dürfte, dann wäre das ein Chor. Das Angebot, im Kulturbahnhof aufzutreten, hat er schon. Aber so weit ist er noch nicht. Bis dahin wird er noch das ein oder andere Weizenbier einschenken.

Katja Gußmann

*Name von der Redaktion geändert

 

HINTERGRUND

ACHT GEMEINDEPSYCHIATRISCHE ZENTREN

Der Caritasverband Darmstadt e.V. beschäftigt mehr als 1.200 hauptamtliche Mitarbeiter und ist für die Stadt Darmstadt, den Landkreis Darmstadt-Dieburg, den Landkreis Bergstraße und den Odenwaldkreis zuständig. Dort leben 850.000 Menschen. Im Bereich der Psychiatrie betreibt die Caritas unter anderem acht gemeindepsychiatrische Zentren, einen Krisendienst, ein Wohnheim und verschiedene Arbeitsprojekte (Hotel, Cafés, Bistros). Direktorin ist Stefanie Rhein. Das gemeindepsychiatrische Zentrum Weiterstadt wurde in 8 Monaten umgebaut. Der LWV bezuschusste das Projekt mit 48.720 Euro. Im Zentrum befinden sich die Psychosoziale Kontakt- und Beratungsstelle, die Tagesstätte und das Büro für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Betreuten Wohnens. Vier Mitarbeiter sind dort beschäftigt, die Tagesstätte bietet 16 Plätze. Zwei Wohnungen für Menschen mit Suchtproblematik (Betreutes Wohnen Sucht) befinden sich im Dachgeschoss.

gus