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WG mit fünf Tandems

In der ersten inklusiven Wohngemeinschaft Mittelhessens wohnen fünf Studierende und fünf Berufstätige mit Unterstützungsbedarf. Das funktioniert nicht nur reibungslos, es macht auch Spaß.

Gießen. Die Gelbwurst stellt Christopher als Erstes auf den Tisch. Der 25-Jährige liebt die Wurst, von der er sich beeindruckende Mengen aufs Brot stapelt. Erst dann holt er Käse, Tomaten und Saft aus dem Kühlschrank. Unterdessen wäscht Informatikstudent Sorel den Salat.

Die beiden sind ein eingespieltes Team. Deshalb ist Sorel auch als "Tandem-Partner" für eine Mitbewohnerin eingesprungen, die krank geworden ist. Die "Tandems" kümmern sich jeden Tag darum, dass der Alltag in der "WG am Eck" klappt, dass eingekauft, gekocht und gemeinsam gegessen wird. Und dass die Bewohner, die Unterstützung brauchen, rechtzeitig aufstehen und ins Bett gehen. Die "Tandems" bestehen immer aus einem Studierenden und einem behinderten WG-Bewohner.

Christopher beugt sich tief über den Teller, um die Paprika in ganz kleine Stücke zu schnippeln. "Kikeriki" sagt er zum Salatstrunk, bevor der im Mülleimer verschwindet. "Christopher macht gern Späße", erklärt Sorel lachend. Christopher erzählt seinem Zimmernachbarn aber auch, wie sein Arbeitstag im Altersheim war, wo er - so drückt er es ironisch aus - "alte Leute in den Gängen rumschiebt".

IM JUNI ERÖFFNET

Zehn junge Leute wohnen in der "WG am Eck", die von der Lebenshilfe Gießen im Juni eröffnet wurde. Fünf haben Unterstützungsbedarf, fünf nicht. Die Idee stammt von Anke Koch-Röttering, der Mutter eines Bewohners, die sich gemeinsam mit anderen Eltern in ganz Deutschland nach Modellen dieser Art umschaute. In der inklusiven Sophie-Scholl-Schule fand sie vier Mitstreiter. Und die Lebenshilfe Gießen nahm die Idee gern auf, wie deren Vorsitzender Dirk Oßwald berichtet: "Die jungen Leute wollten wie ihre Geschwister in eine WG ziehen", erzählt er. Um allein zu leben, war ihr Unterstützungsbedarf zu groß. "In einer stationären Einrichtung fühlten sie sich aber auch nicht richtig aufgehoben", sagt Projektleiterin Frauke Koch.

Allerdings betrat die Lebenshilfe damit Neuland. Deshalb dauerte es vier Jahre, bis ein Konzept entwickelt und eine gemeinsame Wohnung gefunden wurde. Genau genommen wohnen die jungen Leute auf einer 350 Quadratmeter großen Etage mit Dachterrasse im neuen Stadtquartier "Q16" auf dem Gelände des alten Busbahnhofs am Aulweg. Von Anfang begleitet wurde das Projekt vom Landeswohlfahrtsverband, der auch die psychosoziale Betreuung und die Assistenzleistungen finanziert.

Studierende für die besondere Wohngemeinschaft zu finden, war erstaunlich unkompliziert. Nach einem Zeitungsartikel und einer Anzeige im Internet-Portal für WG-Zimmer kamen die Interessenten zu einem Kennenlerntermin zusammen. Die fünf behinderten Bewohner wählten gemeinsam mit ihren Betreuern aus - drei Informatikstudierende, eine Lehramtsstudentin und ein angehender Erziehungswissenschaftler wohnen nun zu sehr günstigen Bedingungen in der Kommune. Dafür müssen sie jede Woche eine Frühschicht, eine Nachtbereitschaft und einen Dienst von 16 bis 22 Uhr sowie etwa einmal im Monat einen Wochenenddienst übernehmen.   

SEHEN, WIE SO EIN PROJEKT "LÄUFT"

Die Miete ist aber für keinen von ihnen der entscheidende Punkt, versichert der aus Kamerun stammende Sorel. Er selbst hat wie die meisten seiner studentischen Mitbewohner vorher in einer "normalen" WG gewohnt: "Hier fühle ich mich viel wohler", sagt der 31-Jährige, der gern sehen wollte, "wie so ein Projekt läuft". Inzwischen seien sie nicht nur Mitbewohner, sondern Freunde. Regelmäßig nimmt er Christopher mit zu seinem Chor und bringt ihm ein paar Worte in Französisch bei. Gemeinsam gehen sie in die Kirche St. Albertus, wo Christopher Messdiener ist. Und er freut sich darüber, dass sein Zimmernachbar "immer bereit ist, lustige Geschichten zu erzählen". Die ganze WG war schon zum Picknick an der Lahn. Tischtennisspielen auf der Dachterrasse, gemeinsame Kneipen- und Kinobesuche gehören ohnehin dazu. Und beim Quartiersfest hat sich die Wohngemeinschaft so überzeugend eingebracht, dass es neuerdings Spielenachmittage mit den Nachbarn gibt.

WOHNKÜCHE MIT GROSSEM EICHENTISCH

Das Herz der WG ist die Wohnküche mit dem großen Eichentisch. An der Tür hängen Christophers Strichmännchen-Zeichnungen für jeden der zehn Bewohner. An den Schränken zeigen Bilder, wo sich Teller, Becher, Nudeln oder Süßigkeiten verbergen. Nachmittags trudeln die jungen Leute nacheinander ein. Die Studierenden kommen von der Uni. Christopher, Philipp, Regina, Laura und Fabian kommen von der Arbeit.

Laura, die in der Küche eines Kindergartens arbeitet, ist eine der ersten, die sich mit Teddy Paul im Arm an den Tisch setzt. Sie hat - ebenso wie die anderen behinderten Mitbewohner - vorher bei ihren Eltern gewohnt. "Aber es ist lustiger, mit den anderen abzuhängen", sagt die 25-Jährige. Gestern hat sie einen Schokokuchen gebacken. Der war so lecker, dass er noch am selben Abend komplett verputzt wurde.

Philipp hat einen anstrengenden Tag auf dem Biolandhof im nahegelegenen Buseck hinter sich: "Kehren, graben, rechen", fasst er zusammen. Der 24-Jährige sorgt dafür, dass sein Lieblingsessen - Nudeln mit Tomatensoße - oft auf den Tisch kommt. Er hat so viele Hobbys, dass sie ihm manchmal selbst nicht alle einfallen: Klavierspielen, Trommeln, Schwimmen und Skifahren. Als Sportler hat er mehrere Medaillen bei den Special Olympics geholt. Für ihn bedeutet der Einzug in die WG auch, dass er nicht mehr morgens um 6 Uhr aufstehen muss, um von seinem Heimatort Caldern nördlich von Marburg rechtzeitig zu seiner Arbeit in Buseck zu kommen. Er kann jetzt eine Stunde länger schlafen.

Regina, die als Küchenhelferin arbeitet, und Laura können heute nicht beim Abendbrot dabei sein. Sie gehen zusammen zu einem Selbstverteidigungskurs. Vorher haben sie noch ein Gespräch mit Frauke Koch geführt. Die 30-Jährige arbeitet als Projektleiterin und - zusammen mit ihrer Kollegin Silke Peppler - als pädagogische Fachkraft in der WG. Das passt gut, nicht nur wegen ihrer Erfahrungen aus dem ambulant Betreuten Wohnen. Sie lebt auch selbst seit Jahren in einer Wohngemeinschaft.    

DURCHDACHTES KONZEPT

Dass die "WG am Eck" so gut funktioniert, hat sie selbst überrascht: "Geknallt hat es noch nie", sagt Frauke Koch. Dafür sorgt allerdings auch ein durchdachtes Konzept. So kommt Strittiges vor das WG-Plenum, das einmal im Monat tagt. Dort wurde etwa beschlossen, Türampeln einzuführen: Bei Grün darf man eintreten, bei Gelb muss man anklopfen, bei Rot möchte der Bewohner nur im Notfall gestört werden. Debattiert wird natürlich auch über die gemeinsame Haushaltskasse. Und die Beschlüsse werden dann für alle sichtbar in Leichter Sprache aufgeschrieben. Schließlich haben auch alle das gleiche Stimmrecht. Ob sich die behinderten Bewohner durch die WG verändert haben? "Auf jeden Fall fällt es allen leichter zu sagen, was sie gern wollen", sagt Frauke Koch. Aber sie lernen auch so lebenspraktische Dinge wie Wäsche waschen und staubsaugen, erzählt Philipps Mutter Anke Koch-Röttering. Und es sei auch spürbar, dass sie sich vom Elternhaus abnabeln. 

"MEHR VERANTWORTUNG"

Auch für die Studierenden ist der strukturiertere Alltag neu: "Mehr Verantwortung und mehr Verpflichtung", fasst Gerrit zusammen, der ein Masterstudium für Inklusion absolviert. Und man müsse viel mehr miteinander reden. Aber es gibt offenbar auch viel mehr Zusammenhalt. "Wenn einer traurig ist, ist fast jeder traurig", sagt Informatikstudent Delvin über die Stimmung in der WG: "Wenn einer glücklich ist, ist fast jeder glücklich."

Als Letzter kommt Fabian von der Arbeit in der Montagegruppe der Dilltal-Werkstatt an den Tisch. Die Mitbewohner begrüßen ihn mit lautem Klopfen. Der 27-Jährige, der so gern Witze erzählt, braucht mehr Unterstützung als die anderen, weil er im Rollstuhl sitzt und nur einen Arm benutzen kann. Selbstverständlich wird ihm ein Brot mit Käse geschmiert und in kleine Stücke geschnitten. Um Aufgaben der Körperpflege kümmern sich die Studierenden aber nicht - das übernimmt ein Pflegedienst. Fabian, der schon den Bau des Hauses mit Spannung verfolgt hat, gefällt eigentlich "alles", wie er sagt.

Und auch die Lebenshilfe Gießen ist so überzeugt von ihrem Experiment, dass nun bereits die nächste inklusive WG geplant ist. Wenn alles gut geht, sollen die nächsten Kommunarden 2020 in einen Neubau am Stadtrand ziehen.

Gesa Coordes