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Weder richtig krank noch völlig gesund:

Die Idee der Salutogenese

Familie S. hat große Probleme: Herr S. ist bereits seit mehreren Jahren arbeitslos. Um die hiermit verbundenen Belastungen auszuhalten, greift er immer wieder zu alkoholischen Getränken. Im Zustand der Trunkenheit kommt es oft zu erheblichen Konflikten zwischen den Eltern – meist in Form lautstarker Auseinandersetzungen, in einigen Fällen auch in Form körperlicher Gewalt.

Auch Frau S. geht es nicht gut. Die Verantwortung für die drei gemeinsamen Kinder, die Lebenssituation ihres Partners und finanzielle Nöte machen ihr sehr zu schaffen. Sie gerät immer wieder in „depressive Krisen“, im Rahmen derer sie kaum in der Lage ist, ihre Alltagspflichten zu erfüllen.

Der älteste Sohn Michael* (17 Jahre) hat Schwierigkeiten in der Schule. Seine Freizeit verbringt er mit sozial auffälligen Jugendlichen. Im Freundeskreis ist der Konsum von alkoholischen Getränken und das „Kiffen“ gang und gäbe.

Die Tochter Sarah (14 Jahre) kann „gerade so“ noch den Leistungsanforderungen auf der Realschule standhalten. Oft fühlt sie sich von den Problemen, denen sie in ihrer Familie, der Schule und auch im Kreise der Gleichaltrigen ausgesetzt ist, überfordert. Ihren Frust scheint Sarah alleine mit sich auszumachen. Innerhalb der letzten zwei Jahre hat sie insgesamt 15 Kilo zugenommen, wodurch sie nun sichtbar übergewichtig ist.

Der jüngste Sohn Sven (9 Jahre) dagegen scheint „gar keine Probleme“ zu haben. Er besucht die dritte Klasse der Grundschule mit guten Leistungen. Sven wird zumeist als fröhliches und ausgeglichenes Kind erlebt. Nachmittags ist er ständig mit anderen Kindern unterwegs, zumeist um seiner Leidenschaft für Fußball nachzugehen.

* Namen geändert


Warum bleibt Sven gesund, obwohl er in einem sehr schwierigen Lebensumfeld aufwächst?

Warum haben die anderen Familienmitglieder dagegen so große Probleme, mit den Alltagsbelastungen umzugehen? Warum bleiben Menschen gesund? Was hilft Menschen, möglichst schnell nach Erkrankungen „heil zu werden“? Diese Fragestellungen standen im Mittelpunkt einer Fortbildungsveranstaltung der Klinik „Rheinhöhe“ am ZSP Rheinblick in Eltville, die sich mit den Konzepten der „Salutogenese“ und der „Resilienz“ auseinandersetzte.

Ein neuer Weg

Der Begriff „Salutogenese“ (Entstehen von Gesundheit) geht auf den amerikanisch–israelischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1923–1994) zurück. Antonovsky gibt in seinen wissenschaftlichen Werken der Frage, warum Menschen gesund bleiben, den Vorrang vor der Frage nach den Ursachen von Krankheiten und Risikofaktoren.

In der „Skifahrermetapher“ legt Antonovsky seine Überlegungen dar: „... wir alle fahren im Verlauf unseres Lebens eine Skipiste herunter“. Zumeist kümmert sich die Medizin um diejenigen, „die an einen Felsen gefahren sind, an einen Baum, mit einem anderen Skifahrer zusammengestoßen sind oder in eine Gletscherspalte fielen“. Die Medizin hat die Aufgabe, den Schaden zu reparieren oder empfiehlt, doch besser gar nicht mehr Ski zu fahren, um die Gesundheit zu schonen. Nach Antonovskys salutogenetischem Konzept solle an Stelle des Reparatur- oder Vermeidungsgedankens jedoch die Überlegung gestellt werden, „wie man die Menschen zu sehr guten Skifahrern machen kann ...“.

Antonovsky geht davon aus, dass es bei Menschen keine klare Abgrenzung zwischen „gesund“ und „krank“ gibt: Jeder Mensch – auch wenn er sich als überwiegend „gesund“ erlebt – hat auch „kranke“ Anteile (z. B. eine Allergie, gelegentliche Kopf- oder Rückenschmerzen, leichtere psychische Verstimmungen). Für die Befindlichkeit ist es somit bedeutungsvoll, ob sich der Mensch eher dem „Gesundheitspol“ oder aber dem „Krankheitspol“ nähert.

Das zentrale Konstrukt im Rahmen des salutogenetischen Modells ist das sog. „Kohärenzgefühl“. Je ausgeprägter das Kohärenzgefühl ist, desto gesünder ist ein Mensch, bzw. desto schneller wird er nach einer Erkrankung wieder gesund – so Antonovsky. Er beschreibt das Kohärenzgefühl als eine „grundlegende Lebenseinstellung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß jemand ein ... Gefühl der Zuversicht hat, dass sein Leben vorhersagbar ist und eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sich seine Angelegenheiten so gut entwickeln, wie man es vernünftigerweise erwarten kann ...“.

Das Kohärenzgefühl entsteht im Laufe von Kindheit und Jugend und wird ganz wesentlich durch Erfahrungen beeinflusst, die ein Mensch in seiner Familie, der Schule, im Freundeskreis und in seiner Freizeit macht.

Ressourcen statt Symptome

Antonovsky geht davon aus, dass Menschen mit einem hohen Kohärenzgefühl die Gewissheit haben, schwierige Alltagsituationen und Probleme verstehen zu können. Sie sind überzeugt, diese auch zu bewältigen und haben die Einstellung, dass Anforderungen des Lebensalltags auch „irgendwie“ sinnhaft oder bedeutungsvoll sind, so dass Probleme es wert sind, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Diese Personen haben somit relativ gute Voraussetzungen, um mit Stresssituationen umzugehen.

Antonovsky formuliert die Hypothese, dass sich das Kohärenzgefühl positiv auf den menschlichen Organismus auswirkt, indem es z. B. das Immunsystem stärkt und stressbedingte körperliche Anspannung reduziert. Hierdurch erklärt er die positiven Effekte auf Gesunderhaltung und Heilung.

Gemeinsame Aufgabe von Eltern, Verwandten, Freunden, Lehrern, Ärzten, Therapeuten, Beratern und anderen professionellen Helfern sollte es sein, die Entwicklung eines hohen Kohärenzgefühls bei Kindern und Jugendlichen zu fördern, so dass sie es schaffen – wie der kleine Sven in unserem Fallbeispiel –, trotz unterschiedlichster „Stressfaktoren“ gesund zu bleiben. Dr. Dietmar Eglinsky


Zum Weiterlesen
Aaron Antonovsky: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen 1997
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hg.): Was erhält den Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese, Diskussionsstand und Stellenwert, Köln 1998
Corinna Wustmann: Resilienz. Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern, Weinheim und Basel 2004


„Sinnhaftigkeit vermitteln“

LWV-Info: Herr Professor Berger, wie werden Kinder „resilient“?

Berger: Wichtig ist, dass man Kinder nicht überfordert. Man muss ihnen Aufgaben stellen, die innerhalb ihrer altersbedingten Möglichkeiten liegen. Wenn man ein dreijähriges Kind zum Schwimmen in ein großes Schwimmbecken schickt, wird es voraussichtlich ertrinken. Wenn man mit ihm aber in einem Nichtschwimmerbecken übt, wird es schwimmen lernen. Außerdem muss man dem Kind die Sinnhaftigkeit des Schwimmens und die Freude daran vermitteln. Leider geht die Sinnhaftigkeit in der Pädagogik gelegentlich verloren.

LWV-Info: Ist die Salutogenese in der Psychiatrie und Psychologie allgemein anerkannt?

Berger: In unserer Klinik hat die Salutogenese einen hohen Stellenwert. So war die Walter-Picard-Klinik die erste psychiatrische Klinik in der Bundesrepublik, die an einem Modellprojekt der Weltgesundheitsorganisation zur Umsetzung und Erprobung gesundheitsfördernder Maßnahmen in Krankenhäusern teilnahm. Das Projekt verlief erfolgreich, wie mehrere Veröffentlichungen belegen. Inzwischen leitet unsere Klinik ein informelles Netzwerk von cirka 100 psychiatrischen Kliniken in Europa, die sich in besonderem Maße um die Umsetzung gesundheitsfördernder Strategien in der Psychiatrie bemühen und hierüber in einem regelmäßigen Austausch stehen. In diesem Rahmen haben wir unter anderem ein besonderes Programm der Psychoedukation für Familien schizophren Erkrankter entwickelt und ausgewertet. Wir konnten dabei zeigen, dass die Krankheitsbewältigung in solcherart geschulten Familien besser gelingt und dadurch die Rückfallraten auf 20 % pro Jahr gesenkt werden können im Vergleich zu 60 % bei Familien, die nicht an der Psychoedukativen Familienintervention teilnehmen. Zudem werden wir uns dem von der EU und der WHO unterstützten Netzwerk rauchfreier Krankenhäuser anschließen. Dies ist keine leichte Aufgabe in einem Zentrum für Psychiatrie. Weiterhin scheint es mir wichtig, gerade in einem psychiatrischen Krankenhaus gesundes Essen anzubieten. Andere gelungene Beispiele für gesundheitsfördernde und präventive Maßnahmen sind die Antistigmakampagne und das Bündnis gegen Depression. Viele seelisch kranke Menschen lassen sich nämlich aus Angst vor Stigmatisierung nicht oder nicht fachgerecht behandeln. Trotz unseres Wissens über die Effektivität präventiver Maßnahmen hat Prävention und Gesundheitsförderung in der Psychiatrie nicht den Stellenwert, der ihr zukommt. Dabei wäre es alleine schon aus Kostengründen wichtig, präventiv zu arbeiten. Allerdings gibt es keine geregelte Finanzierung von Prävention und Gesundheitsförderung.

LWV-Info: Warum sind bestimmte Kinder aus Problemfamilien resilient und andere nicht?

Berger: Das liegt wahrscheinlich an unterschiedlichen Bewältigungsstrategien der Geschwister. Bei den Zweit- und Drittgeborenen sind die Eltern bei der Erziehung ruhiger und gelassener als bei den Erstgeborenen. Außerdem gibt es natürlich noch genetische Unterschiede.

Interview: Dr. Constantin Gora