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Wohn- und Pflegeheim für Menschen mit seelischer Behinderung Eltville setzt auf Wohnverbünde

Ziel: Ein möglichst normales und erfülltes Leben in der Gemeinschaft

Die Serie “LWV-Einrichtungen stellen sich vor” zeichnet aktuelle Porträts von Einrichtungen des LWV oder auch einzelnen Betriebszweigen. In der heutigen Folge stellt LWV-Info erstmals ein Wohn- und Pflegeheim für Menschen mit seelischer Behinderung vor. Sie gibt es in 7 Zentren für Soziale Psychiatrie des LWV. Wohn- und Pflegeheime entstanden in den neunziger Jahren, um Patienten, die sich über eine lange Zeit meist in den geschlossenen Abteilungen der psychiatrischen Krankenhäuser aufhielten, zu enthospitalisieren. Grundlage der Arbeit in den Wohn- und Pflegeheimen ist eine professionelle Betreuung, die den einzelnen Menschen sieht und diesem bedarfsgerechte Hilfen anbietet. Die Wohn- und Pflegeheime (WPH) des LWV schaffen für seelisch behinderte Menschen einen entwicklungsfördernden Lebensraum. Das WPH des ZSP Rheinblick setzt dabei auf sog. Wohnverbünde, die sich wenig vom normalen Wohnen unterscheiden und in ein normales soziales Umfeld eingebettet sind. (jda)

Gabriela Deutschle ist immer noch glücklich, wenn sie an die Begegnung vor einigen Tagen denkt: Da kam ihr eine der Bewohnerinnen aus dem Wohnverbund für Menschen mit seelischer Behinderung in Wiesbaden auf dem Hof entgegen, ein köstlich duftendes Baguette unter dem Arm. “Das klingt so normal, ist aber etwas ganz Besonderes”, sagt die Leiterin des Wohn- und Pflegeheims (WPH) im Zentrum für Soziale Psychiatrie Rheinblick im Rheingau. Die Frau war selbst zum Bäcker gegangen, hatte das Brot ausgesucht und gekauft und brachte es nun als Imbiss heim in die Wohngemeinschaft. “Für viele Menschen hier ist das ein ganz großer Schritt”, weiß Gabriela Deutschle. “Wer die meiste Zeit seines Lebens in psychiatrischen Krankenhäusern und oft genug lange auf geschlossenen Stationen verbracht hat, für den sind solche Alltagssituationen oft nahezu unüberwindliche Hürden.”

In Rüdesheim, Geisenheim, Eltville und Wiesbaden gibt es seit einigen Jahren solche Außenwohngruppen des ZSP Rheinblick, die Menschen mit einer seelischen Behinderung über ein Wohn- und Rehabilitationsangebot größtmögliche Selbstständigkeit gewähren. “Alle Menschen, auch die so genannten ‘schwierigen’, haben schließlich ein Recht auf ein normales und erfülltes Leben in der Gesellschaft”, betont Britta Sommer, die Leiterin der Wiesbadener Einrichtung. Und auf den ersten Blick sind es auch ganz normale Wohngemeinschaften, die sich hier zusammengefunden haben. In Wiesbaden-Biebrich, eine Querstraße vom Rhein entfernt, leben vier Männer zwischen 30 und 50 Jahren in einem hübschen, etwas verwinkelten Häuschen zusammen. Nebenan in der Nachbarwohnung sind es drei Frauen, die weitgehend selbstständig ihren Alltag zu bewältigen versuchen. Rundherum leben “ganz normale” Familien, Kindergeschrei hallt über den Hof. Der 51-jährige Manfred Clasen freut sich, er kennt alle Kinder beim Namen und spielt gern mit ihnen. Letzthin hat ihn sogar eine Mutter aus der Nachbarschaft gebeten, doch für eine Weile auf ihre beiden Sprösslinge aufzupassen.

"Hier will ich bleiben"

Stolz erzählt er, dass er jetzt seit vier Jahren in Biebrich wohnt: “Nur einen kleinen Rückfall hatte ich voriges Jahr.” Eine großartige Leistung, ergänzt Astrid Oettgen, die Sozialpädagogin vor Ort, denn Clasen ist schwer krank. Die Hälfte seines Lebens hat er in psychiatrischen Einrichtungen verbracht, viele Jahre auch auf geschlossenen Stationen. Er hat massive Angstattacken, verhält sich auffällig, wenn er unterwegs ist, rennt dann plötzlich einfach los und will nur noch nach Hause, blind für den Straßenverkehr und andere Gefahren um ihn herum. “Aber hier geht´s mir so gut, hier möchte ich bleiben, bis ich sterbe”, sagt der 51-Jährige. Das Schönste in Biebrich, sagt er, sei der Mittwoch. Da geht er zum Malen zu dem Kunsttherapeuten und Sozialarbeiter Alfred Niedecken und malt großformatige Bilder oder auch kleine Aquarelle, die er zu Weihnachts- oder Osterkarten verarbeitet und verkauft.

Niedecken, der sein Atelier um die Ecke hat und mit mehreren Patienten des Zentrums für Soziale Psychiatrie arbeitet, weiß aus Erfahrung, wie gut den Menschen das Malen tut. “Man bekommt beim Malen ganz andere Informationen über sich selbst”, sagt er, “kann Ängste erkennen und anschließend über erkannte Probleme besser reden.” Deshalb ist es ihm auch wichtig, dass gelegentlich auch Betreuer und Therapeuten bei ihm malen. Die Themen gibt er dabei nicht vor, aber gegenständlich sollte das Motiv schon sein: “Bei abstrakten Bildern kann man sich eher herausreden”, meint er mit einem Augenzwinkern. Außerdem hätten Untersuchungen erwiesen, dass das menschliche Gehirn gemalte Bilder ähnlich wie erlebte Situationen akzeptiert und in die Erinnerung aufnimmt, ein wichtiges Moment in der Therapie. Auch bei schwerst gestörten Menschen gelinge es, über Sozio- und Kunsttherapie in Kontakt zu kommen.

Einmal in der Woche ist Markttag

Die vier Männer in der Biebricher Wohngemeinschaft haben immer wieder Gelegenheit auszuprobieren, wo ihre Stärken liegen, was ihnen gut tut. Sieben Mitarbeiter kümmern sich um die insgesamt 17 Bewohner im Wohnverbund Wiesbaden. Ihren Dienstplan erstellen sie je nach Notwendigkeit. Da gibt es Arztbesuche, zu denen sie die Bewohner begleiten, Einkäufe oder einen Theaterbesuch. Höhepunkt der Woche aber ist der Marktstand, den die Bewohner immer freitags auf dem Biebricher Wochenmarkt aufbauen. Hier verkaufen sie Pflanzen und frische Kräuter aus einer Gärtnerei der Jugendhilfe, Sekt und Wein vom Eichberg, dem Weinberg des ZSP Rheinblick, selbst gemachtes Pesto oder kunstvoll bemalte Blumentöpfe. “Da sind jede Woche viele Arbeiten nötig”, erläutert Britta Sommer, “vom Planen und Einkaufen bis zum Aufbauen des Standes und Verkaufen der Waren”.

Auch der 30-jährige Thomas Heide (Name geändert) findet da Arbeit, seit dem vergangenen Sommer lebt er in Biebrich und hat sich inzwischen in die Abrechnung eingearbeitet. Immer wieder setzt er sich an den Computer, gibt Daten für die Buchhaltung ein, hilft die Budgets der einzelnen Wohngruppen zu verwalten. Jede Wohngruppe hat einen Etat, über den sie selbst bestimmen kann. So können die Betreuer flexibel auf die Bedürfnisse der Bewohner reagieren, kleinere Anschaffungen ermöglichen oder Arbeitsbelohnungen auszahlen. Denn mit zusätzlichen Arbeiten können sich die Bewohner etwas zu ihrem Taschengeld hinzuverdienen. Tun müssen sie allerdings etwas dafür: Als Bärbel Braunfels (Name geändert) Britta Sommer um einen Vorschuss bittet, weil sie schon Mitte der Woche ihr ganzes Geld für Zigaretten verbraucht hat, empfiehlt die freundlich, doch bei der Renovierung der Wohnung zu helfen, damit könne das Taschengeld aufgebessert werden. Doch das will Frau Braunfels nicht so gern. “Ich gehe gern einkaufen, aber hier mit Pins el und Farbe arbeiten, ach nee.” Sie lächelt und verschwindet in ihrem Zimmer. Mitarbeiterin Rosalie pinselt allein weiter das Wohnzimmer in der benachbarten Frauen-WG.

Wichtig ist eine alltägliche Struktur

Der Tag muss für die Bewohnerinnen und Bewohner eine sinnvolle Struktur erhalten. “Der Alltag soll möglichst normal gestaltet werden”, sagt Britta Sommer. Das heißt, dass die Bewohner nicht “den ganzen Tag nur schlafen” können, wie es der 36-jährige Iraner Fatih Sadegh (Name geändert) am liebsten tun würde, wie er lachend gesteht. Notwendige alltägliche Tätigkeiten wie Hilfe beim Einkaufen und Kochen wechseln ab mit gezielten Angeboten für jeden Einzelnen: das Einüben sozialer Beziehungen, eine gelingende Kommunikation, eine eigenverantwortliche Gesundheitsvorsorge, die Teilnahme am kulturellen Leben der Stadt. Alles Dinge, die für Menschen ohne Behinderung selbstverständlich sind – hier müssen sie gezielt trainiert und immer wieder eingefordert werden.

Der Begriff “Wohn- und Pflegeheim im Zentrum für Soziale Psychiatrie Rheinblick” vermittelt zwar den Eindruck eines einheitlichen Heimes, doch die Angebote im so genannten WPH sind vielfältig. Unter dem Dach des Wohn- und Pflegeheims verbergen sich vier voneinander völlig getrennte Bereiche, erläutert die Leiterin Gabriela Deutschle. Da gibt es eine Pflegeeinrichtung mit 28 Plätzen und acht Kurzzeitplätzen auf dem Eichberg, das Wohn- und Rehabilitationsangebot mit 60 Plätzen in Rüdesheim, Eltville, Geisenheim und Wiesbaden, ein Wohnangebot speziell für Menschen mit alkoholbedingten Hirnschädigungen mit 12 Plätzen auf dem Eichberg sowie ein Wohnangebot mit 15 Plätzen für chronisch mehrfach Abhängige in Wiesbaden. Alle Angebote richten sich individuell nach dem Bedarf der Patienten.

Für chronisch Kranke und Nicht-Angepasste

Auslöser für die Betreuung seelisch behinderter Menschen in einem Wohnverbund war 1993 der Auftrag des Landeswohlfahrtsverbandes zur Enthospitalisierung. Damals war die Forderung populär geworden, Menschen mit Behinderungen wo immer möglich besser ambulant als stationär zu behandeln. Schon zwei Jahre zuvor waren die ersten Patienten von der Krankenhausstation in eine gemeindenahe Betreuung freier Träger entlassen worden. 1993 gab es noch 197 Langzeitpatienten im Psychiatrischen Krankenhaus Eichberg. Für sie hatte sich kein passendes gemeindenahes Angebot gefunden. Viele der Patienten hatten auch Angst vor der Veränderung und “beharrten auf ihrem Heimatrecht”, wie es Gabriela Deutschle beschreibt. Für diese Gruppe musste ein eigenes Konzept geschaffen werden. “Das sind oft Menschen, die überall ausgeschlossen werden, chronisch Kranke und Nicht-Angepasste.” Manchmal fragt sich Gabriela Deutschle heute noch, woher sie eigentlich damals den Mut aufgebracht haben, diese Menschen außerhalb geschlossener Anstaltsmauern unterzubringen. Doch die Bilanz ist positiv: In sieben Jahren konnten 75 Wohnplätze außerhalb des Krankenhausgeländes geschaffen werden, davon 15 im Betreuten Wohnen. 1997 wurde, in einem ersten Schritt, mit der Pflegeversicherung eine Vereinbarung getroffen und das eigenständige Wohn- und Pflegeheim entwickelt. Dem schlossen sich Verhandlungen mit dem LWV als überörtlichem Sozialhilfeträger für die Eingliederungshilfe an.

Zielgruppe sind Erwachsene mit einer andauernden seelischen Behinderung, meist ausgelöst von einer Psychose. Die meisten von ihnen leiden zudem an schweren Hospitalisierungsschäden aufgrund des oft langjährigen Aufenthaltes in psychiatrischen Einrichtungen. Spürbar sind außerdem die Nebenwirkungen der schweren Psychopharmaka, die die Patienten über all die Jahre schlucken mussten. Wichtig ist Gabriela Deutschle, dass das Wohn- und Pflegeheim “keine Ausschlusskriterien” kennt und sich auch keinen Doppeldiagnosen verschließt: “Das heißt, wir nehmen jeden Menschen aus der Versorgungsregion auf, wenn ein Platz frei ist.” Und sie ist überzeugt, dass auch die so genannten schwierigen Patienten in der Lage sind, weitgehend selbstbestimmt und selbstverantwortlich in einer Wohngemeinschaft zu leben. Und wenn sich dann alle das Baguette schmecken lassen, das so ein vermeintlich hoffnungsloser “Fall” vom Einkaufen mitgebracht hat, dann weiß die Leiterin des Wohn- und Pflegeheims wieder einmal, dass sich der Einsatz gelohnt hat.
Doris Wiese-Gutheil

Wohnverbünde

Zurzeit leben 60 Menschen mit seelischen Behinderungen in mehreren Häusern und Wohnungen des WPH Eltville an unterschiedlichen Standorten. Zu jedem Wohnverbund gehört ein mobiles Team aus Sozialpädagogen, Pflegekräften, Ergotherapeuten und Hauswirtschaftskräften. Die Bewohner erhalten Unterstützung nach einem individuellen Hilfeplan. Die Wohnverbünde sind in die Gemeinde integriert. Aus der Einbindung in die Gemeinde und aus der Tagesstruktur ergeben sich für die Bewohner eine Vielzahl von Sozialkontakten. Wohnverbünde sind auch hinsichtlich des Umfanges der Betreuung flexibel: Jeder Bewohner, der mehr Selbstständigkeit entwickelt, kann ohne belastenden Wechsel des Wohnortes und des Betreuers die Versorgungsart ändern.