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LWV warb für Barrierefreiheit – ZSP Bergstraße mit vielfältigem Programm dabei

Hessentag in Heppenheim

Barrierefreiheit war das Thema am Stand des LWV beim diesjährigen Hessentag in Heppenheim. Viele hundert Hessentagsbesucher wagten sich in Halle 1 der Landesausstellung auf einen mit Hindernissen gespickten Parcours, um zu erproben, wie es ist, wenn mit einem Rollstuhl der Alltag bewältigt werden muss. Für einen barrierefreien Alltag gibt es noch viel zu tun – auch der Hessentag selbst war nicht hindernisfrei. Das bemerkten Rollstuhlfahrer, die am Eingang zum Ausstellungszelt mehrere Bordsteine überwinden mussten. Keine Schwierigkeiten dagegen hatten Menschen mit Sehbehinderungen, die am Stand auf den Internetseiten des LWV unterwegs waren: Dank barrierefreier Gestaltung tritt, wenn Sprachausgabe und Braillezeile eingesetzt werden, kein Informationsverlust ein. Doch nicht nur in der Landesausstellung war der LWV dabei: Das Zentrum für Soziale Psychiatrie (ZSP) Bergstraße öffnete für zehn Tage sein weitläufiges Areal. Für ein eigenes spannendes und vielfältiges Programm, aber auch für andere Veranstaltungen des Hessentags.

Rollstuhlparcours

Alle hat er sie durchgeschleust: Ministerpräsident Roland Koch, Sozialministerin Silke Lautenschläger, die Fraktionschefs von SPD und Grünen im Landtag, Jürgen Walter und Tarek Al-Wazir. Sie konnten dem freundlich-bestimmten Angebot Wolfgang Schneiders von der Fachgruppe Behindertensport des Sozialverbandes VdK Deutschland e.V. nicht widerstehen und nahmen in einem für sie ungewohnten Fortbewegungsmittel Platz, um sich dann vorsichtig in Bewegung zu setzen. Auf großgewachsene Fahrer wie den Hessischen Ministerpräsidenten lauerte sogleich die erste Barriere: Das Startschild konnte nur durch ein kurzes Bücken unterquert werden. Roland Koch gab den Startschuss und viele folgten ihm. Vermutlich ist Wolfgang Schneider, der den Rollstuhl-Parcours am LWV-Stand an allen zehn Hessentags-Tagen betreute, nach 90 Stunden anstrengenden Coachings (und auch zwischendurch) schachmatt ins Bett gefallen. Doch auch viel Spaß gemacht hat es dem EDV-Techniker aus Selters an der Lahn, der selbst nach einem Unfall seit 18 Jahren querschnittgelähmt ist. Besonders Kinder und Jugendliche hatten keine Hemmungen, in den Sportrollstühlen Platz zu nehmen und erste, tastende Versuche zu machen, über eine Wippe zu rollen oder eine enge Kurve zu schaffen. Zumal Wolfgang Schneider immer einen guten Tipp zur Hand hatte („Beim Bergaufrollen nach vorn beugen!“) oder auch mal mit blitzschnellem Griff einen Absturz vermeiden half. Über tausend Mal wurde der Mut, sich auf etwas Unbekanntes einzulassen, belohnt: Ein Rollstuhlführerschein bescheinigte dem Besitzer, den Parcours durchfahren und sich schon (fast) perfekt bewegt zu haben.

Internet und Gebärdendolmetscher

Barrierefreiheit heißt aber nicht nur Abwesenheit von physischen Hindernissen auf den Straßen und in den Gebäuden. Auch im modernen Medium Internet droht die "digitale Spaltung", wenn blinde und sehgeschädigte Menschen vor grafikdominierten Internetseiten kapitulieren, weil diese nicht per Sprachausgabe oder Braillezeile lesbar sind.

Nach einer Online-Umfrage sind noch immer 82 % aller Webauftritte nicht barrierefrei. Für ein barrierefreies Internet gibt es aber inzwischen Normen für die Gestaltung von Webseiten. So erfüllt zum Beispiel die Domain des LWV www.lwv-hessen.de, die am Hessentagsstand präsentiert wurde, die Norm "W3C/WAI". Gleich mehrere prominente Standbesucher machten die Probe aufs Exempel und ließen ihre eigenen Internetseiten von Jürgen Wied testen, einem blinden Mitarbeiter des LWV, der an mehreren Tagen am Stand dabei war und mit nicht nachlassender Freundlichkeit seine Spezialtastatur erklärte. So nahm Staatssekretärin Oda Scheibelhuber aus dem Hessischen Innenministerium einige Hinweise mit nach Hause, und auch Petra Fuhrmann, SPD-Sozialpolitikerin im Hessischen Landtag, war froh, ihren Netztext einmal gegengecheckt zu bekommen.

Doch nimmt eine barrierefreie Internetdarstellung nicht nur auf die Bedürfnisse blinder Nutzer Rücksicht, auch sollten Anbieter darauf achten, dass Menschen mit eingeschränkter Motorik auf die Nutzung einer Maus verzichten müssen und daher mit einer einfachen Navigation über die Tastatur besser zurecht kommen. Gehörlose Menschen können mit Audio- und Videodateien im Internet wenig anfangen.

"Wie zeigt man ‚Sabine’ mit dem Fingeralphabet?", "Wie sagt man in Gebärdensprache ‚Ich habe Hunger’ oder ‚Kannst Du mir dieses Buch leihen?’" – Fragen dieser Art gab es viele, als Gebärdendolmetscherinnen am LWV-Stand an mehreren Tagen eine Einführung in die Kunst der lautlosen Kommunikation gaben. Wen es bisher wunderte, warum die Gebärdendolmetscher im Fernsehen den rasend schnell vorgetragenen Nachrichten scheinbar mühelos folgen können, wurde hier aufgeklärt: Sprache wird durch die Gebärden auf das Wesentliche reduziert. Blumige Vielredner könnten sich hier ein Beispiel nehmen.

Mitmachaktionen für Kinder

Schon Drei- oder Vierjährige testeten ihre Beweglichkeit auf dem Parcours: Für sie stand ein kleiner Kinderrollstuhl zur Verfügung. Mehr symbolischen Charakter hatte eine Ballonflugaktion: "(Barriere-) frei wie ein Ballon im Wind", hieß es hier. Diesen Gedanken ließen die Kinder mit einem roten LWV-Ballon in dem Himmel steigen. Manche legten erstaunliche Entfernungen zurück, ehe die oft arg zerfledderte Karte wieder nach Kassel zurückgesandt wurde.

Nicht ganz so viel Resonanz wie erhofft brachte ein Malwettbewerb für Kinder, der ebenfalls unter dem Motto der Barrierefreiheit stand. Durch den Trubel am Stand und die räumliche Enge hatten nur wenige Kinder Lust, sich zu einer künstlerischen Pause niederzulassen. Einige Bilder gingen in den Tagen nach dem Hessentag in Kassel ein, wohl noch inspiriert vom Rollstuhlparcours.

Neben der praktischen Übung im Rollstuhl und anschaulichen Darstellungen im Internet gab es auch handfeste Informationen zum Mitnachhausenehmen. Eine Gruppe Inspektoranwärter/innen aus der Hauptverwaltung des LWV hatte in den Wochen zuvor eine informative Broschüre erarbeitet, die über die unterschiedlichen Dimensionen von Barrierefreiheit aufklärt.

Zentrum für Soziale Psychiatrie öffnete Pforten

Offene Stationen sind in der Psychiatrie von heute die Regel. Offen für alle Besucher/innen, gleich ob sie sich für das üppige Programm des ZSP Bergstraße oder für die Veranstaltungen im Hessen-Palace interessierten, war das Gelände der LWV-Einrichtung an allen zehn Tagen des Hessentags. Bewusst habe man die Öffentlichkeit gesucht, erläuterte der Hessentagsprojektleiter des ZSP, Dieter Schwarz, um die nach wie vor bestehenden Vorurteile gegen eine psychiatrische Klinik abzubauen. So habe man ein bunt gemischtes Programm präsentiert, das in anschaulicher und genießbarer Form psychiatrische Themen näherbrachte. An fast allen Tagen fanden Hausführungen statt, die Stationen öffneten sich – mit Einverständnis der Patienten/innen - für interessierte Besucher und gaben so einen Einblick in ihre tägliche Arbeit. Auch etwas, was ansonsten auf einem Hessentag nicht zu finden ist und so zu einem kostbaren Gut wird, bot die ökumenische Klinikseelsorge: Stille. Meditative Musik in der Kapelle des ZSP abseits der "Ballermann-Meile" verleitete zu Besinnung und Ruhe. Eine Fotoausstellung unterstützte das Gefühl, vorübergehend in einer anderen Welt zu verweilen. Besucher konnten ihre Gedanken auf einer Wandzeitung ausdrücken.

Direkt am Eingang zum ZSP öffneten "Fundgrube" und Gärtnerei für die Besucher des Hessentages. Holzspielzeug, Seidentücher und Keramikartikel auf der linken Seite des Portals, Schnittblumen, Topf-, Beet- und Kübelpflanzen auf der rechten – so entstand ein heiterer und einladender erster Eindruck. Zum Abschluss der Festtage luden die LWV-ler zu einem Jazz-Brunch mit den in Südhessen bekannten Blütenweg Jazzern ein, die schon in der Vergangenheit gern gesehene Gäste im ZSP waren. Danach war bei allen Beteiligten tiefes Durchatmen angesagt. (jda)