Logo LWVblog

"Eine viel höhere gesellschaftliche Akzeptanz geschaffen" – 30 Jahre Psychiatrie-Enquete beim LWV Hessen

1971 nahm die durch die damalige Gesundheitsministerin Käthe Strobel einberufene Psychiatrie-Enquete-Kommission ihre Arbeit auf, ihren Hauptbericht legte sie vor genau 30 Jahren, im September 1975, vor. Die Kommission widmete sich der anspruchsvollen Aufgabe, eine Bestandsaufnahme der psychiatrischen Versorgung in Deutschland vorzunehmen und Reformvorschläge zu unterbreiten. Zu den Initiatoren der Enquete gehörte Walter Picard, Mitglied des Bundestags und der LWV-Verbandsversammlung und Mitbegründer der bundesweiten überparteilichen "Aktion psychisch Kranke". 1975 wurden die zentralen Forderungen formuliert: Gemeindenahe Versorgung, bedarfsgerechte und umfassende Versorgung aller psychisch Kranken und Behinderten, Koordination aller Versorgungsangebote, Gleichstellung von psychisch und somatisch Kranken. Mit den Ergebnissen der Enquete und den Reformbeschlüssen der Verbandsversammlung setzte in den psychiatrischen Einrichtungen des LWV ein Umdenken und Umlenken ein. Über Ziele, Ergebnisse und Perspektiven der Psychiatrie-Enquete sprach LWV-Info mit Joachim Hübner, stellvertretender Leiter des Fachbereichs Einrichtungen beim LWV, zugleich neu gewählter Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Träger psychiatrischer Krankenhäuser, Prof. Dr. Heinrich Kunze, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im ZSP Kurhessen, Bad Emstal, und stellvertretender Vorsitzender der "Aktion psychisch Kranke e. V.", Bonn, sowie mit Dr. Rolf Speier, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im ZSP Haina (Kloster). Speier ist auch Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der ärztlichen Leitungen psychiatrischer Fachkliniken und –abteilungen in Hessen.

LWV-Info: Wie war die Situation in den "psychiatrischen Anstalten", als die Psychiatrie-Enquete-Kommission mit ihrer Arbeit begann?

Kunze: Das habe ich als Assistenzarzt noch mit erlebt. Damals waren die psychiatrischen Anstalten Inseln der Inhumanität, die Verhältnisse waren skandalös. So waren die Patienten beispielsweise in großen geschlossenen Stationen untergebracht, in Sälen mit bis zu 30 Betten. Die Patienten hatten keine Schränke, keine Nachttische, nichts für ihre persönlichen Gegenstände, sie hatten Anstaltskleidung. Und entsprechend restriktiv war auch ihr Tagesablauf. Diese Lebensverhältnisse haben die Patienten viel stärker geschädigt als ihre Krankheit. Dass die Psychiatrie noch in den 1960-er Jahren so ärmlich, so anders ausgestattet war als die übrige Medizin, hatte historische Wurzeln. Im Kaiserreich gab die Gesellschaft für psychisch kranke Menschen noch viel Geld aus, nach damaligem Standard waren die Anstalten fortschrittlich gebaut und hatten einen hohen humanitären Status. Der Niedergang begann mit der Wirtschaftskrise Ende des Ersten Weltkrieges. Dann kam die Nazizeit mit der Ermordung psychisch kranker Menschen – was es bis dahin nicht gegeben hatte und hoffentlich nie wieder gibt. Davon hat sich die Psychiatrie erst seit Anfang der 70-er Jahre wieder erholt.

Hübner: Die damaligen Anstalten waren die einzigen Einrichtungen, die sich um psychisch Kranke und Behinderte kümmerten. Sie hatten Asylfunktion für alle Menschen, die in der Gesellschaft ohne Hilfen nicht mehr leben konnten. Es gab außer einigen Nervenärzten kein Hilfesystem außerhalb dieser Einrichtungen. Hinzu kam, dass die Zahl der Patienten eklatant anstieg: Anstalten, die für 200 Patienten gebaut worden waren, waren plötzlich mit 800 oder 900 Patienten völlig überfüllt.

Speier: Über diese Zustände erschien 1973 ein Artikel im "Stern". Ein Reporter hatte sich in Gießen in eine Klinik eingeschlichen, Fotos gemacht und über die Verhältnisse dort berichtet. Das fanden viele Mitarbeiter der Anstalten zunächst unmöglich, sie merkten dann aber, welche Chancen für Veränderungen damit entstanden waren.

LWV-Info: Was waren die Ziele der Psychiatrie-Enquete?

Hübner: Das war ein ganzes Bündel von Zielen. Zwar wurden die Zustände in den Krankenhäusern kritisiert und man forderte eine Änderung der Versorgungsstrukturen in den Kliniken und auch, psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern einzurichten. Im Vordergrund aber standen gesellschaftliche und politische Forderungen, nämlich eine gemeindenahe Versorgung psychisch kranker und behinderter Menschen, der Aufbau eines bedarfsgerechten Versorgungssystems mit unterschiedlichen ambulanten und stationären Angeboten, dann die Koordination aller Versorgungsdienste und die Gleichstellung psychisch Kranker mit somatisch Kranken.

Speier: Aus medizinischer Sicht kann man sagen: Weg von einer überkommenen Verwahr-Psychiatrie – hin zu einem modernen medizinischen Fach mit all den Facetten, die die somatischen Fächer schon hatten. Dazu gehörten zeitlich begrenzte stationäre Behandlungen und der Einsatz der heute für uns alle selbstverständlichen vielfältigen therapeutischen Möglichkeiten, insbesondere auch der Psychotherapie.

Kunze: Es ging aber nicht nur um die medizinische Versorgung. In den früheren Heil- und Pflegeanstalten blieben viele der Patientinnen und Patienten so lange, bis sie starben oder entlassen wurden. Heute sagen wir, wie bei somatisch Kranken auch: Eine psychiatrische Klinik ist ein Krankenhaus und kein Ort zum Wohnen. Die Kliniken behandeln, und der Behandelte hat einen Ort zum Wohnen – oder es muss einer geschaffen werden. So entstanden Wohnheime, dann das Betreute Wohnen, es wurden Angebote für diejenigen entwickelt, die nicht in der freien Wirtschaft arbeiten können: Werkstätten für Behinderte, später auch andere, in die Wirtschaft integrierte beschützte Arbeitsplätze. Nicht zuletzt entstanden auch Freizeitangebote. Das alles hat auch die Verweildauern in den Einrichtungen verkürzt.

LWV-Info: Wie hat man beim LWV die Reformen durchgesetzt?

Hübner: Beim LWV begann die Diskussion ab Mitte der 60-er Jahre, und die Verbandsversammlung verabschiedete schon 1969 erste Beschlüsse über Reformvorhaben der Krankenhauspsychiatrie in Hessen, die sich weitgehend deckten mit dem, was am Ende in der Psychiatrie-Enquete stand. Trotzdem kam die Veränderung unserer Häuser auch erst Mitte der 70-er Jahre in Gang. Damals hatten sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen verbessert, erstmals seit Anfang der 70-er Jahre gab es ein Krankenhaus-Finanzierungsgesetz, das einen Anspruch auf staatliche Investitionsmittel festschrieb. Wir haben in diesen Jahren dann auch erste Weiterbildungen in der Fachkrankenpflege angeboten. 1972 gab es den ersten Krankenhaus-Plan in Hessen, der damals für die Psychiatrie noch 9.200 Betten umfasste und prognostizierte, die Bettenzahl müsse auf über 11.000 steigen. Der aktuelle Krankenhaus-Plan umfasst in ganz Hessen 4.400 Betten – das zeigt, dass sich in den vergangenen 30 Jahren Entscheidendes verändert hat. Alle anderen Schritte – mit dem Aufbau der Tageskliniken und Ambulanzen – kamen erst in den 80-er Jahren.

Kunze: Ich will mal einen Bogen spannen von den Hospitälern zur Gemeindepsychiatrie. Die Hospitäler waren aus der Klostertradition heraus bis in die Mitte der 1970-er Jahre reine Männer- oder Frauenanstalten. So war Haina für alle Männer von der westfälischen Grenze bis zum eisernen Vorhang zuständig und Merxhausen im selben Gebiet für Frauen. Das hatte mit Gemeindenähe nichts zu tun. Dass die Einzugsbereiche verkleinert werden konnten, hing auch zusammen mit dem Paradigmenwechsel in der Psychiatrie unter dem Stichwort Normalisierung – dass nämlich in den Stationen eines Krankenhauses Männer und Frauen zusammen leben, bis auf den Schlaf- und Sanitärbereich. Dafür mussten erst mal die baulichen Voraussetzungen geschaffen werden. Anschließend konnte Merxhausen auch für Männer und Haina für Frauen geöffnet werden, schon dadurch wurden die Einzugsgebiete kleiner. Der nächste Schritt war, dass Abteilungen an allgemeinen Krankenhäusern entstanden. Dass die Kliniken näher an den Wohnorten der Patienten liegen, hat ambulante und teilstationäre Behandlungen, bei denen das Lebensumfeld, aber auch Hausärzte, Fachärzte, Sozialstationen, Pflegeheime oder das Arbeitsamt einbezogen werden, erst möglich gemacht.

LWV-Info: Was hat sich in den Einrichtungen personell verändert?

Kunze: Wir haben heute im Unterschied zu damals qualifiziertes, medizinisch gut ausgebildetes Personal, wir haben Psychotherapeuten und Mitarbeiter mit sozialtherapeutischen Kompetenzen. Das bedeutet, dass wir mit den Patienten ganz anders umgehen. Früher wurden beispielsweise Patienten, die suizidgefährdet waren, am Suizid gehindert, indem man sie (nur) kontrollierte und dazu die Station geschlossen führte. Heute ist für die Suizidprophylaxe die Beziehungsarbeit entscheidend, ggf. auch für eine medikamentöse Behandlung: Wir bemühen uns um eine so gute therapeutische Beziehung zu den Patienten, dass wir die aktuelle Gefährdung damit auffangen können, und müssen deshalb sehr viel weniger als früher zu anderen Mitteln greifen.

LWV-Info: Also hat sich auch die Rolle der Patienten verändert?

Kunze: Ja, denn wir geben den Patienten sehr viel früher die Verantwortung zurück und handhaben das differenziert auf der Grundlage einer therapeutischen Beziehung. Ganz entscheidend ist, dass die Angehörigen mit einbezogen sind. So hat sich der Stil im Umgang mit den Patienten verändert, früher war es ein paternalistischautoritärer Stil. Heute heißt es: Überzeugen, Behandeln als Verhandeln, denn nur, wenn die Patienten selber merken, dass ihnen die Therapie hilft, und wenn auch die Angehörigen überzeugt sind, wenn sie Experten für ihre Krankheit geworden sind, sind sie auch in der Lage, die Therapie außerhalb der Klinik in eigener Verantwortung fortzusetzen.

Speier: Ein weiterer Meilenstein war die Psychiatrie-Personalverordnung, die die personelle Ausstattung unserer Kliniken regelt. Durch die Verordnung von 1991 hatten die Kliniken zunächst einen guten und relativ gleichmäßigen personellen Standard, was sich sehr positiv auf die Behandlungsqualität ausgewirkt hat. In Haina etwa konnte die Zahl der Sozialarbeiter verdreifacht werden, mit dieser hinzu gewonnenen Manpower konnte man dann vernünftig therapeutisch arbeiten. Wir müssen nun dafür kämpfen, dass uns das nicht klammheimlich wieder verloren geht.

LWV-Info: Konnten die Zielsetzungen der Psychiatrie-Enquete erreicht werden?

Hübner: Beim Ziel der gemeindenahen Versorgung sind wir in Hessen sehr weit gekommen. Der LWV hat auch in seiner zweiten Funktion als überörtlicher Sozialhilfeträger stark mit darauf hingewirkt, dass alle außerklinischen Leistungsangebote – Beratungsstellen, Treffpunkte und tagesstrukturierende Einrichtungen, Heime und Betreutes Wohnen – regional organisiert werden. Auch die Vorgaben für die klinische Psychiatrie sind heute in Hessen fast überall auf der Ebene der Kreise und kreisfreien Städte verwirklicht. Wir haben da gerade in den 80-er Jahren aus unseren Kliniken heraus wesentliche Impulse mitgegeben, indem wir von Marburg beispielsweise nach Fulda gegangen sind oder von Gießen nach Hanau, und aus diesen kleinen Außenstellen und Keimzellen haben sich dann psychiatrische Abteilungen entwickelt, die heute die Versorgung sicherstellen. Stichwort Vernetzung der Leistungsangebote: Heute ist es auf vielen Ebenen selbstverständlich, dass die Leistungsanbieter im ambulanten und stationären Bereich zusammen arbeiten, denn die Patienten tauchen in ihrer Krankheitskarriere in verschiedenen Bereichen auf, da muss man sich austauschen. Die niedergelassenen Ärzte sind allerdings noch nicht ausreichend eingebunden in dieses System.

Speier: In Hessen haben wir unter dem Strich genug Heimplätze, wir haben Plätze im Betreuten Wohnen, wir haben gute ambulante Angebote – und jetzt geht es darum, das vernünftig zu vernetzen, so dass jederPatient genau im richtigen Moment die richtige Behandlung bekommt. Das kann man nicht nach "Schema F" machen, da gehört sehr viel Abstimmung dazu, und ich glaube, das Thema Koordination wird uns künftig, gerade vor dem Hintergrund knapper Kassen, sehr beschäftigen. Was wir nicht wollen, sind amerikanische Verhältnisse mit einer rücksichtslosen Verkürzung stationärer Verweildauern, beispielsweise auf weniger als eine Woche bei akut schizophrenen Patienten. Dies führt zur Verelendung dieser Menschen. Wir sind jetzt bei durchschnittlich 20 bis 22 Tagen Verweildauer nahe an einer Untergrenze. Weitere Verkürzungen dieser Verweildauer führen dazu, dass die Behandlung schlechter wird. Viele Patienten kommen dann draußen nicht lange zurecht und müssen häufiger wieder in eine Klinik, so dass sich die stationäre Behandlungsdauer übers Jahr betrachtet sogar erhöht. Damit wäre dann wirklich gar nichts gewonnen.

LWV-Info: Was hat sich in den vergangenen 30 Jahren anders entwickelt als vorgesehen?

Hübner: Durch die Gemeindenähe gibt es eine viel höhere Akzeptanz als früher, aber wir sind noch nicht so akzeptiert wie somatische Krankenhäuser. Wir haben es vor noch gar nicht so langer Zeit erlebt, dass sich Bürger heftig dagegen gewandt haben, dass in ihrer Kleinstadt eine Tagesklinik entsteht, aus Angst vor psychisch Kranken. Und wenn wir für die Menschen, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankung straffällig geworden sind, Einrichtungen erweitern oder neu bauen wollen, was wir ja müssen, weil diese Patientengruppe zunimmt, dann formieren sich Bürgerinitiativen, die das verhindern wollen. Das ist eine bedenkliche Entwicklung, weil die Ängste sehr schnell auf psychiatrische Kliniken generell übertragen werden. Das, was wir uns mal zum Ziel gesetzt hatten, die Öffentlichkeit zu informieren über Psychiatrie und ihre Auswirkungen, ihre Behandlungsmöglichkeiten, das müssen wir intensivieren. Zwar gibt es diese Stigmatisierung und gesellschaftliche Ausgrenzung, wie wir sie in den 70-er Jahren noch hatten, nicht mehr: Es ist selbstverständlicher geworden, dass man einen Nervenarzt aufsucht, in eine psychiatrische Ambulanz geht oder zum Psychotherapeuten. Aber eine kritische Distanz der Öffentlichkeit psychisch kranken Menschen gegenüber besteht nach wie vor.

Speier: Man muss zumindest mal kritisch überprüfen, ob das, was wir uns in der Aufbruchstimmung von der Enthospitalisierung versprochen hatten, nämlich die chronisch psychisch Kranken, die früher viele Jahre in Anstalten gelebt haben, draußen auch wieder zu verankern, wirklich für alle Patientengruppen gelungen ist. Die zunehmende Zahl der Patienten in den forensischen Kliniken könnte damit zusammen hängen, dass für einzelne Problemgruppen draußen nicht ausreichend geschützte Lebensformen angeboten werden. Man kann diese Patienten nicht wieder in Langzeitbereiche in der Allgemeinpsychiatrie zurückholen, aber man wird sich da etwas einfallen lassen müssen, sonst wird man der wachsenden Zahl forensischer Patienten kaum Herr werden.

Kunze: Es gibt noch einen weiteren Aspekt: Untersuchungen haben gezeigt, dass die Patienten, die in die Forensik kommen, zu einem hohen Prozentsatz zuvor schon in Kontakt mit psychiatrischen Diensten standen und dann aus dieser Behandlung herausgefallen sind. Denn die Selbstbestimmung, die wir unterstützen, wird bei einem Teil der Patienten zum Problem. Das ganze System ist auf Kooperationsfähigkeit abgestellt, auf mündige Patienten. Schwer psychisch Kranke sind da aber manchmal überfordert. So müssen wir überlegen, wie wir diese Patienten gleichwohl in der therapeutischen Beziehung halten. Das können wir aber nicht zu einem Problem der Patienten machen, das ist auch unser Problem, eine Frage der Art und Weise, wie wir mit ihnen verbindlich arbeiten.

LWV-Info: Wie sind die Perspektiven? Wie sollte das psychiatrische Versorgungssystem weiterentwickelt werden?

Hübner: Es gibt einfach eine Gruppe psychisch kranker und behinderter Menschen, die einen sehr komplexen Hilfebedarf haben. Und für die muss unser System etwas umgebaut werden. Im Moment haben wir noch sehr verschiedene Leistungsträger, da muss einiges gebündelt werden, so dass man etwa bei Veränderungen im Krankheitsbild nicht die Einrichtung wechseln muss. Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Weiterentwicklung unseres psychiatrischen Versorgungssystems im außerklinischen, aber auch im klinischen Bereich.

LWV-Info: Wie wird man mit dem Kostendruck umgehen?

Kunze: Wir werden einen deutlich kleineren Teil der Hilfen, sowohl im Behandlungs- als auch im Rehabilitationsbereich, stationär realisieren, es wird sehr viel mehr teilstationäre und ambulante Angebote geben. In der Rehabilitation gibt es gerade einen Paradigmenwechsel, dort heißt teilstationär dann "ganztägig ambulant", die Menschen kommen morgens und gehen abends wieder nach Hause. Das hat den Vorteil, dass die therapeutische Arbeit im Alltag erprobt werden kann. Das ist ein Ansatz, bei dem eine Kostenoptimierung und eine therapeutische Verbesserung verbunden werden.

Hübner: Eine bessere Verknüpfung der verschiedenen Bausteine in der psychiatrischen Behandlung wäre wichtig. Es gibt die psychiatrischen Institutsambulanzen, die Tageskliniken, die vollstationären Angebote, und bisher müssen immer für jeden einzelnen Leistungsbereich eigene Budget- und Preisverhandlungen geführt werden. Wir müssen für jeden Wechsel in eine andere Einrichtung neue Kostenzusicherungen einholen. Hier entsteht viel administrativer Aufwand, den man sich sparen könnte, wenn die unterschiedlichen Leistungsbereiche auch finanziell verknüpft wären und man nur noch nach rein therapeutischen Gesichtspunkten entscheiden könnte. Das wäre eine Aufgabe für die Zukunft.

Kunze: Das wäre ein entscheidender Strukturwandel, denn es wäre katastrophal, wenn wir unter den jetzigen Bedingungen mit weniger Personal auskommen müssten.

Hübner: Die Psychiatrie-Personalverordnung muss für die Zukunft gesichert werden. Es ist heute schon aufgrund von Kostenentwicklungen und von Budgetproblemen der Krankenkassen nicht mehr möglich, das, was nach dieser Verordnung Qualitätsvorgabe und Strukturvorgabe war, zu hundert Prozent umzusetzen. Die Personalbemessungsgrundlage wird immer mehr ausgehöhlt. Da ist ein kritischer Punkt erreicht.

LWV-Info: Welche Auswirkungen sind durch die Debatte über die Zukunft der Einrichtungen und die Beschlüsse der Verbandsversammlung, sämtliche Einrichtungen in gemeinnützige GmbHs umzuwandeln, zu erwarten?

Speier: Ich bin der Ansicht, dass wir gestärkt aus dieser Debatte herauskommen werden, denn wir können inhaltlich durchaus auch mit den privaten Anbietern konkurrieren und wir haben ihnen gegenüber einen großen Vorteil: Wir müssen nicht unbedingt Profit erzielen, wir müssen schlicht und einfach kostendeckend arbeiten. Ich bin sehr gespannt, wie die privaten Anbieter mit dem Problem der personellen Ausstattung umgehen werden. Ich stelle mich gerne diesem Wettbewerb, denn wir können in unseren Kliniken nach wie vor ein Behandlungsumfeld anbieten, das uns Konkurrenzfähigkeit sichert. Für meine Klinik ist es beispielsweise selbstverständlich, dass wir einen Standard von Ein- bis Zwei-Bett-Zimmern plus Nasszelle anstreben. Das ist sicher noch nicht überall umgesetzt, aber wenn ich das mit psychiatrischen Abteilungen etwa in Unikliniken in Hessen vergleiche, dann sind wir an vielen Standorten sogar besser dran. Wir müssen aber in der Ausstattung noch besser werden; schauen Sie sich doch die attraktiven Räumlichkeiten in vielen psychotherapeutischen Kurkliniken an, beispielsweise, was die physikalische Therapie betrifft. Aber ich bin da optimistisch, dass wir durch ein wachsendes Know-how in unseren Kliniken gerade auch bei den psychotherapeutischen Angeboten durchaus konkurrenzfähig sind.

Das Interview führte Gundula Zeitz.