Logo LWVblog

Stationär und ambulant unter einem Dach

Wohnen im Verbund – das Beispiel der Lebenshilfe Waldeck-Frankenberg

Ein Fachwerkhaus mit einer grünen Tür fordert den Besucher in der Straße Hinter dem Kloster 6 in Korbach zum Eintreten auf. Hinter dem Gebäude erstreckt sich ein Garten, das Grün reicht bis an die Rückseite eines milchkaffeefarbenen Fachwerkhauses. Das Ensemble liegt im Herzen der Stadt mit 25.000 Einwohnern. Einkaufsmöglichkeiten, Apotheken, Ärzte – all das ist für Anna M. und ihre Mitbewohner bequem zu Fuß zu erreichen. Das Haus Hinter dem Kloster 8 bietet vier Menschen ein Zuhause, die Eines gemeinsam haben: Sie sind geistig behindert und benötigen deshalb Hilfe, um ihren Alltag zu meistern. Aber: Sie sind selbstständig genug, um nicht im Wohnheim des Lebenshilfe-Werks Kreis Waldeck-Frankenberg zu leben. Deshalb werden sie in ihrem Zuhause stationär begleitet, wie es in der Fachsprache heißt. Zwischen vier und sieben Stunden täglich steht den Bewohnern Fachpersonal zur Verfügung, das ihnen bei der Bewältigung des Alltags hilft. „Oft geht es dabei um lebenspraktische Dinge, wie zum Beispiel das Kochen. Sehr häufig geht es aber auch um das soziale Miteinander, den Umgang mit anderen Menschen”, sagt Theo Brömmelhaus, Fachbereichsleiter Wohnen der Lebenshilfe Waldeck-Frankenberg.

Freiheit und Privatheit – ohne Sicherheit aufzugeben

„Wohnen im Verbund” heißt das Konzept des LWV, auf das die Lebenshilfe hier setzt. In Zusammenarbeit mit dem LWV Hessen als Kostenträger, den Nutzern, also Menschen mit einer geistigen Behinderung und ihren Eltern, sowie anderen Organisationen haben es die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Lebenshilfe für die regionale Umsetzung weiterentwickelt
und Schritt für Schritt Wirklichkeit werden lassen. Ob in Frankenberg oder Korbach, Bad Wildungen oder Twistetal – an all diesen Standorten bietet die Lebenshilfe Waldeck-Frankenberg unterschiedliche Wohnformen inmitten der Gemeinden für die insgesamt 228 geistig behinderten Menschen an: In den Wohnheimen und Außenwohngruppen leben 131 Menschen, das Stationär Begleitete Wohnen bietet 17 Bewohnern ein Zuhause und im Betreuten Wohnen leben 80 Bewohner in kleineren Wohngemeinschaften oder auch einzeln. „Nur so können wir den unterschiedlichen Anforderungen und Wünschen der Bewohner gerecht werden”, unterstreicht Brömmelhaus.
Frank P. hat nach der Arbeit Lust auf einen Kaffee. Vom Wohnheim in der Bunsenstraße 1 in Korbach geht er schräg gegenüber in die Spielothek. Auch wenn der 53-Jährige nur sehr undeutlich spricht, wissen die Angestellten dort, was der Gast möchte: eine Tasse Kaffee und einen Keks. Danach geht er wieder nach Hause, sein Betreuer begleicht ein paar Tage später die Rechnung. „Für ihn, der lange Zeit in einer Psychiatrie faktisch eingeschlossen war und vor etwa 15 Jahren zu uns gekommen ist, ist das vermutlich das höchste Maß an persönlicher Freiheit, das er erreichen kann”, erläutert Brömmelhaus. Doch diese kleine Normalität ist für Frank P. eine enorme Steigerung seiner Lebensqualität, ein Stück persönliche Freiheit.
Persönliche Freiheit und Normalität - das sind die beiden wichtigsten Begriffe für die Verantwortlichen der Lebenshilfe hier. Denn mit den Jahren sind nicht nur die Bewohner der Einrichtung älter geworden, sondern auch ihre Bedürfnisse gewachsen. „Wir möchten sie nicht unterbringen, wir möchten ihnen ein Zuhause bieten”, sagt der Fachbereichsleiter Wohnen.
Ein Zuhause entsteht da, wo sich der Einzelne wohl fühlt. Doch wer sich im Wohnheim eingeengt und überversorgt vorkommt, der kommt oft noch nicht in einer Gruppe im Betreuten Wohnen zurecht. „Die Anforderungen, die im Betreuten Wohnen gestellt werden, sind sehr hoch”, begründet Brömmelhaus. Und er fügt als Beispiel an: „Welcher Student kann kochen, wenn er in seine eigene Bude zieht? Oder welcher junge Erwachsene hat schon selbst eine Waschmaschine bedient, wenn er bei den Eltern auszieht?” Das aber sind Dinge, die geistig behinderte Menschen im Betreuten Wohnen meistern müssen.

Nähe zu den Betreuern

„Deshalb ist der Schritt vom Wohnheim hin zum Betreuten Wohnen für viele der Betroffenen zu groß, den können sie nicht auf ein Mal schaffen”, unterstreicht Brömmelhaus. Darum wurde in Frankenberg eine Art Zwischenschritt etabliert: das Stationär Begleitete Wohnen. Eine solche Einrichtung hat die Lebenshilfe unter anderem in der Ritterstraße 9 in Frankenberg eingerichtet. In drei Wohnungen leben hier fünf Menschen. Im Erdgeschoss wohnt ein Paar, in der zweiten Etage haben sich zwei junge Frauen zu einer Wohngemeinschaft zusammengetan und unter dem Dach lebt ein einzelner junger Mann. Zudem sind im Haus ein Besprechungsraum und die Büros der Betreuer untergebracht. Sie leisten Hilfe zur Selbsthilfe. Und sie unterstützen die fünf Bewohner dabei, Schritt für Schritt all die Fähigkeiten zu lernen, die sie für ein selbstbestimmtes Leben benötigen. Nachmittags und an den Wochenenden ist fast immer jemand da, der offen ist für die Probleme der Bewohner und ihnen bei der Suche nach Lösungen hilft, der aber auch darauf achtet, dass es mit den Mahlzeiten klappt und der körperlichen Hygiene. So lernen die geistig behinderten Menschen in einem betreuten Umfeld Schritt für Schritt, wie sie die Anforderungen des Alltags meistern können. „Bei optimalem Verlauf wechseln die Bewohner irgendwann vom Wohnheim in eine Einrichtung des Stationär Begleiteten Wohnens, wagen dann den Schritt zum Betreuten Wohnen, um möglicherweise irgendwann ganz ohne Betreuung zurecht zu kommen”, schildert Brömmelhaus. So hat der 34-jährige Martin H. nach etwa einem Jahr im Wohnheim in Frankenberg in das Stationär Begleitete Wohnen wechseln können. „Jetzt, nach weiteren 18 Monaten, sehen wir für ihn die Perspektive, dass er vielleicht schon im kommenden Jahr ins Betreute Wohnen wechseln kann”, erzählt Brömmelhaus. In Korbach gibt es gar eine komplette Wohngemeinschaft, die seit etwas mehr als zwei Jahren stationär begleitet wird. „Im kommenden Jahr wird diese Gemeinschaft fast komplett ins Betreute Wohnen wechseln. Denn in dieser Gruppe fühlen sie sich sicher”, schildert Brömmelhaus. Ein, zwei, manchmal auch drei Jahre dauert dieser Lernprozess in den meisten Fällen.
Doch nicht alle Betroffenen können diesen Weg so gehen. „Es wird immer Menschen geben, die in einer Wohnform bleiben und den nächsten Schritt nicht schaffen”, räumt Brömmelhaus ein. Auch ihnen bietet das breite Spektrum des Wohnverbundes einen großen Vorteil, denn auch sie können entsprechend ihren Vorstellungen und Fähigkeiten ein hohes Maß an Eigenständigkeit und Normalität erreichen. „Und damit verbunden ist immer auch ein Stück mehr Privatheit”, unterstreicht Brömmelhaus. Das wiederum trägt dazu bei, dass sich die Menschen wohl fühlen.
Wichtig für den Erfolg dieses Wohnkonzepts ist, dass der Betroffene sich bewusst für eine Wohnform entscheidet. „Er muss sich die nächste Stufe zutrauen, dann meistert er sie in aller Regel auch.” Diese Beobachtung machen die Betreuer immer wieder. Denn natürlich gibt es Fälle, in denen sie ein bisschen Bauchschmerzen haben bei dem Gedanken, jemanden ins Betreute Wohnen wechseln zu lassen. „Wenn sich aber der Bewohner dieses Ziel selbst gesetzt hat, dann lernt er im Stationär Begleiteten Wohnen meist ganz schnell die Dinge, die für den weiteren Schritt noch fehlen”, haben Brömmelhaus und seine Mitarbeiter immer wieder beobachtet. Bislang habe noch keiner den Schritt vom Stationär Begleiteten Wohnen wieder zurück ins Wohnheim machen müssen.

In die Gesellschaft integriert

Dennoch brauchen diese Menschen mit geistiger Behinderung immer ein gewisses Maß an Unterstützung. So bilden ein sicheres Zuhause und ein Arbeitsplatz in einer der Werkstätten den wichtigen Rahmen. Hinzu kommen weitere Angebote, die den Tagesablauf strukturieren, beispielsweise gemeinsames Singen oder Malen, aber auch Sport. „Auch hier ermutigen wir unsere Bewohner, nach draußen zu gehen”, so Brömmelhaus. Das Konzept geht auf: Einige sind im Tischtennisverein aktiv, andere nutzen das Veranstaltungsangebot kultureller Vereine. „Und wenn es darum geht, Straßenfeste zu feiern, werden wir immer gefragt, ob wir uns beteiligen”, schildert Brömmelhaus.
Wer außerhalb des Wohnheims lebt, der ist auch integriert in die Gesellschaft. „Denn die Bewohner erledigen einen Teil der Einkäufe selbst, werden unterstützt bei Behördengängen, engagieren sich in Vereinen”, schildert Brömmelhaus. Für Karin S. aus der Neuen Gasse 1 ist es selbstverständlich, dass sie sich einen Arzt ihres Vertrauens wählt und zu ihm in die Sprechstunde geht. Auch die kleinen Besorgungen, die sie für sich und ihre Mitbewohnerin erledigt, oder das gemeinsame Kochen und Essen tragen dazu bei, dass sie trotz ihrer Behinderung Alltag erfahren kann.
Wohnen im Verbund bietet für den Träger ebenso Vorteile wie für die Betroffenen. Denn die Betreuung funktioniert nach dem Prinzip von Maria Montessori: Den Menschen wird geholfen, es selbst zu tun, die Hilfen beschränken sich auf das notwendige Maß. Das stärkt das Selbstvertrauen der behinderten Menschen und vermittelt ihnen das Gefühl, geschätzt zu werden. Es hilft ihnen, dazu zu lernen und sich weiter zu entwickeln. Es eröffnet ihnen die Möglichkeit, sich ihre Freunde und Bekannten selbst zu suchen, sich nach ihren Fähigkeiten in der Öffentlichkeit zu bewegen, sich aber auch zurückzuziehen, wenn sie das Bedürfnis nach mehr Privatsphäre haben. Auch wenn es darum geht, wer mit ihnen die Wohnung teilt, haben sie ein Mitspracherecht. „Wir als Träger können den Bewohnern die Wohnform anbieten, die sie sich für ihr Leben wünschen”, betont Brömmelhaus. Denn die behinderten Menschen bleiben auch dann in ihrem gewohnten sozialen Umfeld, wenn sie sich für eine andere Wohnform entscheiden. „Und bei eventuellen Krisen können wir flexibel reagieren, jemanden doch wieder stärker in unsere Obhut zu nehmen”, unterstreicht Brömmelhaus. All das ist möglich, ohne erneute Verhandlungen mit dem Kostenträger und langwierige bürokratische Vorgänge. Und all das spart sogar Kosten. Das Fazit des Fachbereichsleiters für das Wohnen im Verbund in der Lebenshilfe Waldeck-Frankenberg ist eindeutig: „Die geistig behinderten Menschen selbst, deren Betreuer und wir als Träger sind damit rundum zufrieden. Bisher sehen wir nur Vorteile.”
Stella Dammbach


Wohnen im Verbund

  • Das Konzept „Wohnen im Verbund“ beschloss die Verbandsversammlung des LWV im Juli dieses Jahres, um stationäre und ambulante Betreuungsangebote stärker zu vernetzen und durchlässiger zu machen. Das Konzept soll außerdem bedarfsgerechtere, auf den individuellen Hilfebedarf zugeschnittene Leistungen beim Wohnen von Menschen mit Behinderungen ermöglichen.

  • „Wohnen im Verbund“ verfolgt das Ziel, behinderten Menschen bei der Eingliederung in die Gesellschaft größtmögliche Selbstbestimmung und Selbstständigkeit zu gewährleisten.

  • Der Träger des Wohnverbundes muss sicherstellen, dass Betreuung und Wohnbedingungen an die jeweiligen individuellen Erfordernisse unter Erhalt des Lebensmittelpunktes angepasst werden.

  • „Wohnen im Verbund“ soll dazu beitragen, den Anteil des Betreuten Wohnens und anderer ambulanter Leistungsangebote in den kommenden Jahren deutlich zu steigern. Das Konzept soll die Leistungserbringer in ihrer Entscheidungsfähigkeit stärken, den Verwaltungsaufwand minimieren und zur Kostendämpfung beitragen.
    (jda)