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"Es profitieren alle davon ..."

EVIM in Wiesbaden erprobt den Integrierten Teilhabeplan

Frank M.*) lebt in einem Wohnheim für geistig behinderte Menschen des Evangelischen Vereins für Innere Mission in Nassau (EVIM) in Wiesbaden. Seine Beeinträchtigung lässt es nicht zu, dass er alleine lebt. Aber er geht in Teilzeit arbeiten in einer Werkstatt, die ebenfalls unter Regie der EVIM Behindertenhilfe steht. Außerdem leidet der 45-Jährige an einer Zwangsstörung und braucht sozialpsychiatrische Hilfe. Deshalb besucht er regelmäßig eine Tagesstätte für psychisch erkrankte Menschen. „Das ist ein ganz typischer Fall, bei dem uns der Integrierte Teilhabeplan (ITP) die Arbeit ungeheuer erleichtert“, erläutert Renate Pfautsch, Fachbereichsleiterin der EVIM Behindertenhilfe in Wiesbaden. Sie und ihr Stellvertreter Eugen Krauter sind nach der Pilotphase vom Nutzen dieses neuen Instruments überzeugt.

Der Integrierte Teilhabeplan dient zunächst einmal der Vereinheitlichung. „Früher hatten wir unterschiedlichste Verfahren, um die Hilfen zu ermitteln, die jemand braucht. Im Wohnheim galt ein Verfahren, das sich aber als ungeeignet erwiesen hat, den Betreuungsbedarf von Menschen mit psychischen Krankheiten abzubilden. Daher wurde in der Gemeindepsychiatrie der IBRP (integrierter Rehabilitations- und Behandlungsplan) eingeführt. Diese Verfahren unterschieden sich wiederum vom IHP (Integrierter Hilfeplan), der bei Menschen angewandt wurde, die im Rahmen des Betreuten Wohnens betreut wurden“, schildert Krauter die Situation vor dem Start des Praxistests. Das Resultat: Es fiel ungeheuer schwer, den Betreuungsbedarf einer Klientengruppe mit dem einer anderen zu vergleichen. Und es wurde kompliziert, sobald Betroffene – wie zum Beispiel Frank M. – Angebote verschiedener Einrichtungen nutzen wollten. „Natürlich haben wir auch vor der Einführung des ITP unseren Klienten Angebote in unseren verschiedenen Einrichtungen zugänglich gemacht. Aber wir mussten in jedem Einzelfall aufs Neue abklopfen, was funktioniert“, schildert Pfautsch. Jetzt nimmt der Klient, bildlich gesprochen, sein Zeit-Budget ganz unkompliziert von einer Einrichtung zur anderen mit, weil die Rechengröße immer gleich bleibt.

Menschen in den Mittelpunkt rücken

„Der ITP kommt uns bei unserer Arbeit aber auch in einem ganz anderen Punkt sehr entgegen. Er rückt den Menschen in den Mittelpunkt mit all den Fähigkeiten, die dieser Mensch hat, statt den Fokus auf die Behinderung zu legen“, unterstreicht Pfautsch. Und - das ist Pfautsch und Krauter wichtig – das Ausfüllen des ITP steht erst am Ende eines Prozesses. „Zunächst einmal muss ich als Betreuer mit dem Klienten ins Gespräch kommen und mit ihm verhandeln. Nur so kann ich feststellen, welche Ziele er hat, und abklopfen, welche Nahziele ich mit ihm vereinbaren kann“, so Krauter. Schließlich wolle jeder selbstständiger und selbstbewusster werden. Für den einen bedeute dies aber, dass er auch vor einer Gruppe deutlich seine Meinung vertritt. Für den anderen hingegen, dass er sich das erste Mal wieder alleine aus dem Haus traut. Die Formulierung solcher Ziele ist zentraler Bestandteil des ITP.

EDV-gestützt werden im ITP die Ausgangssituation jedes Einzelnen festgehalten und die gemeinsam vereinbarten Ziele. Natürlich spiele dabei die Art und der Grad der Behinderung eine Rolle. „Aber es geht viel stärker darum, was der Klient noch alleine leisten kann. Geht er arbeiten? Kann er sich das Essen selbst zubereiten? Was macht er in seiner Freizeit? Das sind zentrale Fragestellungen. Und auch die Frage, wie sich Familie oder Freunde in die Betreuung einbringen“, erläutert Krauter. Zudem gehe es immer auch um die Feststellung, welche Faktoren in der Umwelt den Betroffenen einschränken und mit welcher Hilfe er diese Schwierigkeiten meistern kann. Diese Betrachtung erfolgt zwar für die einzelnen Lebensbereiche wie Wohnen, Arbeit und Freizeit getrennt, wird aber schließlich im ITP zusammengefasst. Festgehalten ist darin auch, welche Hilfe der Einzelne braucht oder auch, wie viel Hilfe er zulässt. „Das ist eine schriftliche und eine verbindliche Vereinbarung. Auf die können wir uns berufen, wenn der Betroffene nicht mitarbeitet. Aber selbstverständlich kann auch der Klient uns den Bogen unter die Nase halten und uns zur Einhaltung mahnen, wenn es nötig ist“, sagt Pfautsch. Nach etwa einem Jahr werde betrachtet, ob der Klient seine Ziele erreicht hat oder ihnen zumindest ein Stück näher gekommen ist.

Wie bereits im Bereich des Betreuten Wohnens üblich, wird auch der ITP in einer Hilfeplankonferenz besprochen, bei der Leistungserbringer und Leistungsträger an einem Tisch sitzen und die jeweilige koordinierende Bezugsperson jeden einzelnen Klienten vorstellt. Im Idealfall nimmt auch der Betroffene selbst daran teil. „Da gab es insbesondere bei Einrichtungen, die geistig behinderte Menschen betreuen, große Bedenken. Viele haben befürchtet, die Betroffenen seien damit überfordert“, erinnert sich Pfautsch. Auch hier hat sich die Haltung geändert. „Mitarbeiter und Klienten schätzen inzwischen diese Konferenzen sehr. Denn sie merken, dass sie ernst genommen werden mit ihren Wünschen. Zudem zeigt die Erfahrung, dass es für beide Seiten von Vorteil ist, wenn der Betroffene seine Interessen selbst vertritt“, bekräftigt Krauter.

Die Leistungsminute ist nur Rechengröße

Besonders große Vorbehalte habe es hinsichtlich der Leistungsminuten gegeben. „Da hat es von vielen Kritikern tatsächlich Vergleiche mit den Kategorien der Pflegeversicherung gegeben wie etwa ‚Waschen – 15 Minuten‘, ‚Einkaufen - 20 Minuten‘. Aber so war das nie gedacht“, schmunzelt Krauter im Rückblick. Die Leistungsminute sei lediglich eine Rechengröße, die es ermöglichen soll, die Leistungsgruppe zu ermitteln. So gebe es im Zusammenhang mit dem ITP inzwischen sieben Leistungsgruppen und zusätzlich noch die Möglichkeit, Hilfebedarf auch unterhalb der Leistungsstufe eins bzw. oberhalb der Leistungsstufe sieben anzugeben und auch abzurechnen. Pro Leistungsstufe seien Zeitkorridore angegeben in Leistungsminuten. Aber mit einer exakten Festlegung, wie viele Minuten für eine bestimmte Tätigkeit gebraucht werden dürfe, habe dies nichts zu tun. Pfautsch nennt als Beispiel das Einkaufen: „Der eine möchte tatsächlich nur einkaufen und braucht lediglich eine Begleitung, weil er sich den Einkauf alleine nicht zutraut. Bei einem anderen hingegen weiß der Betreuer, dass man beim Einkaufen die zentralen Probleme, die dieser Mensch im Alltag hat, gut thematisieren kann. Also plant er bei diesem Klienten natürlich viel mehr Zeit ein und nutzt den Einkauf für ein intensives Gespräch.“

Der ITP macht Vieles möglich: So hat der Beirat des Wohnverbundes Lindenhaus einem Bewohner jetzt die Haltung eines Vogels gestattet. Martin O.*), der aufgrund seines unkontrollierten Sammeltriebes seine Wohnung so mit Gegenständen vollgestopft hatte, dass er sie schließlich räumen und ins Wohnheim einziehen musste, hatte über lange Zeit niemanden freiwillig in sein Zimmer gelassen. Bis er signalisierte, dass er sich ein Haustier wünschte. Nach langen Gesprächen einigten sich Betreuer, Bewohner und Heimbeirat auf einen Sittich, hielten Rechte und Pflichten des Klienten schriftlich fest. „Jetzt freut er sich so über diesen Sittich, dass er jeden zu sich einlädt und ihm den neuen Hausgenossen zeigt“, erzählt Pfautsch. Der 58-Jährige weiß aber auch, dass er das Tier nur behalten darf, wenn er sich darum kümmert, den Käfig sauber hält und für Futter und Wasser sorgt. Schließlich steht das in seinem Hilfeplan. Gleichzeitig ist darin geregelt, welche Unterstützung Martin O., braucht, um dieser Verantwortung tatsächlich auch gerecht zu werden.

Auch im Bereich der Betreuung körperlich behinderter Menschen fällt es nun leichter, besondere Situationen individuell zu regeln. „In einem unserer Wohnheime lebt ein Klient, der seinen Assistenzhund mitgebracht hat“, schildert Pfautsch. Der Königspudel hilft dem behinderten 27-Jährigen dabei, bestimmte Aufgaben im Alltag zu bewältigen. Zwar übernimmt das Tier einige alltägliche Aufgaben, die sonst vom Personal des Wohnheimes geleistet werden müssten. Andererseits aber ist Christian H. *) aufgrund seines Handicaps nicht in der Lage, den Hund völlig selbstständig zu versorgen. „Die frühere Einstufung des Hilfebedarfs sah aber nur vor, den Bedarf des Klienten zu ermitteln und diese Hilfen auch zur Verfügung zu stellen“, wirft Pfautsch ein. Hilfe für die Versorgung des Assistenzhundes war darin nicht vorgesehen. Der ITP hingegen macht dies möglich. „Und nach eingehenden Beratungen und Gesprächen im Wohnheim sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass wir diesen Schritt auch wagen“, fügt Pfautsch hinzu.

Auf dieser Basis weiterarbeiten

Pfautschs und Krauters Resümee nach knapp einem dreiviertel Jahr Praxistest ist eindeutig: „Es hat viel Arbeit gemacht, wir mussten unsere Leute schulen und vor allem unsere Arbeit zum Teil neu überdenken“, sagt Pfautsch. Natürlich habe man während dieser Testphase auch immer wieder mit der Hochschule Fulda den ITP-Bogen überarbeitet und an die Praxis angepasst. „Aber all das hat sich gelohnt und wir hoffen, dass wir auf dieser Basis weiter arbeiten können“, sind sich Pfautsch und Krauter einig. Gerade für eine Institution, die wie EVIM übergreifend über die verschiedensten Einrichtungs-angebote arbeite, sei der ITP das nahezu perfekte Instrument. „Es profitieren alle davon – unsere Klienten, wir als Leistungsanbieter und letztlich auch der Landeswohlfahrtsverband als Leistungsträger“, unterstreicht Pfautsch.
Stella Dammbach

*) Namen von der Redaktion geändert

Weitere Informationen: Öffnet externen Link in neuem Fensterwww.evim.de