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Systemwechsel in der Behindertenhilfe:

Die Einführung Personenzentrierter Hilfen in Hessen

„Für den LWV Hessen steht der ‚Mensch mit seinem individuellen Hilfebedarf’ im Mittelpunkt. Der personenzentrierte Ansatz und die Anpassung der Finanzierungssystematik für den gesamten Bereich der Hilfen für Menschen mit Behinderungen gem. SGB XII sind deshalb weiter zu entwickeln und konsequent umzusetzen.“ So heißt es in einem Beschluss des LWV-Verwaltungsausschusses (VA) vom November 2007. Jetzt, rund ein Jahr später, knüpft die Verbandsversammlung (VV) daran an und beschließt die Einführung der Personenzentrierten Hilfen inklusive der Leistungsvergütung für alle Zielgruppen in der Eingliederungshilfe.

Zu dem personenzentrierten Hilfeplanverfahren gehöre ein einheitliches Hilfeplaninstrument und die verbindliche Verankerung von Hilfeplankonferenzen, heißt es im Beschluss. Der VA wird beauftragt, „dieses neue personenzentrierte Hilfeplanverfahren in drei Regionen umzusetzen“. Nach den Pilotprojekten, die sowohl sozialwissenschaftlich als auch betriebswirtschaftlich begleitet werden, soll über die flächendeckende Einführung der personenzentrierten Hilfen und der darauf abgestimmten zeitbasierten Vergütung entschieden werden.

Blick zurück

Um die Entwicklung des vergangenen Jahres und den Stand von heute richtig einordnen zu können, muss man zunächst einen Blick in die Vergangenheit werfen. Die Grundlage der Behindertenhilfe – auch der in Hessen – war von 1962 an das Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Auf dieser Grundlage vollzog sich die Entwicklung und Organisation der Eingliederungshilfe einrichtungsbezogen, gesteuert durch die Finanzierung: jede Einrichtung erhielt für jeden Betreuten eine Summe, die nicht auf die Unterschiedlichkeit der Menschen und ihrer Bedürfnisse abgestellt war. Mit der Umsetzung gesetzlicher Änderungen 1996 im BSHG gab es dann in Hessen eine „kleine“ Reform: die Unterschiede im zeitlichen Bedarf wurden ab 2000 in fünf Hilfebedarfsgruppen abgebildet und die Finanzierung auf Basis dieser Hilfebedarfsgruppen-Zuordnung nach Metzler eingeführt. Dieses Verfahren zur Erhebung des Hilfebedarfs von Menschen mit Behinderung ist nach Dr. Heidrun Metzler benannt. Parallel dazu gab es im ambulanten Bereich des Betreuten Wohnens eine Vergütung über so genannte Personalschlüssel. In verschiedenen Gebietskörperschaften wurden für alle Leistungen bei Menschen mit seelischen Behinderungen die personenzentrierten Hilfen (2003) und ab 2005 die „zeitbasierte“ Vergütung umgesetzt. Auch im Betreuten Wohnen wurde für alle Zielgruppen 2006 die „zeitbasierte“ Finanzierung in Form der Fachleistungsstunde eingeführt.

Mit dem SGB IX und später mit der Ablösung des BSHG durch das SGB XII setzte nochmals eine verstärkte Hinwendung zur personenzentrierten Sicht der Eingliederungshilfe ein. Selbstbestimmung und Selbstständigkeit der Menschen mit Behinderung, ihre Fähigkeiten und Ressourcen sollten weiter in den Fokus der Hilfeplanung rücken: Was kann der einzelne Mensch mit Behinderung und wie ist er zu unterstützen, damit er seine Fähigkeiten und Fertigkeiten ausbauen kann? Ein weiteres Ziel war, ausgehend vom Leistungsberechtigten, die Durchlässigkeit des Hilfesystems zu erhöhen, also dem Menschen jederzeit schnell und unbürokratisch die Hilfe zukommen zu lassen, die er braucht. Aus Verwaltungssicht nicht zu unterschätzen war das Ziel, eine einheitliche Vergütungsform für die gesamte Eingliederungshilfe zu erreichen, die die inhaltlichen Ziele unterstützt. Also: es musste ein System erarbeitet werden, das personenbezogene Hilfeleistungen bietet, eine personenzentrierte Gesamtsteuerung und eine einheitliche Finanzierung möglich macht. Dieses System soll für alle Zielgruppen geeignet sein und alle Lebensbereiche Wohnen, Arbeit und Gestaltung des Tages einbeziehen. Eine Herkulesaufgabe!

Vielfältige Projekte im Bereich für Menschen mit seelischer Behinderung

Über Jahrzehnte bestehende Strukturen und praktizierte Regelungen mussten von allen Beteiligten hinterfragt werden. Ausgehend von einem Bundesmodellprojekt zur Gemeindepsychiatrie, dessen Ergebnisse 1999 vorgestellt wurden, entwickelten sich in Hessen unter Beteiligung des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, der Aktion Psychisch Kranke und örtlichen Trägern der Gemeindepsychiatrie diverse weitere Teilprojekte im Bereich Hilfen für Menschen mit seelischer Behinderung, mit denen neue Wege in der Behindertenhilfe erprobt wurden. Hilfeplan und Hilfeplankonferenzen standen im Zentrum des Projektes „Implementation personenzentrierter Hilfen in der hessischen Gemeindepsychiatrie“, das seit 2003 in zehn hessischen Gebietskörperschaften die systematische individuelle Hilfeplanung zum Thema hat. Darauf aufbauend wurde das Projekt „Leistungsfinanzierung“ im Wetteraukreis und in Wiesbaden erprobt und in den Alltag überführt. Hier stand die zeitbasierte Leistungsvergütung im Mittelpunkt. Dies sind zwei von mehreren Projekten, deren bewährte Elemente in ein Gesamtkonzept einfließen sollen. Ziel dieses Gesamtkonzeptes ist es, ein einheitliches System für eine personenzentrierte Zugangs- und Verlaufssteuerung der Eingliederungshilfe in Hessen einzuführen.

Praxistest und Pilotprojekte von PerSEH

Die Entwicklung des Gesamtkonzeptes läuft beim LWV unter dem Namen PerSEH: Personenzentrierte Steuerung der Eingliederungshilfe in Hessen. Die Eckpunkte dieses Konzeptes wurden zwischen LWV, Hessischem Landkreistag, Hessischem Städtetag, Liga der Freien Wohlfahrtspflege sowie den Verbänden privater Anbieter vereinbart und im Mai 2008 unterzeichnet. Zu den Kernelementen des neuen Konzeptes gehört der Integrierte Teilhabeplan (ITP), der die aktive Beteiligung der leistungsberechtigten Person bzw. Ihres gesetzlichen Betreuers sicherstellt. Durch die standardisierte schriftlich fixierte Form der Teilhabeplanung soll sich auch der verwaltungstechnische Aufwand zwischen den beteiligten Institutionen verringern sowie die Qualitätsentwicklung unterstützt werden. Weiteres Element ist ein einheitliches Vergütungssystem, das aus einem Basisbetrag und einem zeitbasierten Maßnahmebetrag besteht, der die individuelle Förderung abbildet. Die in den regionalen Hilfeplankonferenzen gewonnenen Informationen sollen die Datenbasis für die örtliche und überörtliche Sozialplanung verbessern und eine umfassende Sozialberichterstattung ermöglichen. Zudem soll die Orientierung an der Klassifikation der WHO, dem „ICF“ (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit), ein gemeinsames Verständnis fördern.

Unter zwei Aspekten – Instrument zur Teilhabeplanung und Konzept Finanzierungssystematik - ist und wird das Erarbeitete auf den Prüfstand gestellt. Der erarbeitete ITP ist einem Praxistest in der Region Wiesbaden beim Einrichtungsträger Evangelischer Verein für innere Mission und bei dem Träger Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. unterzogen worden. Die Region Wiesbaden wurde gewählt, weil bereits Erfahrungen mit dem neuen System vorhanden waren. Für den Praxistest wurden die entsprechenden Mitarbeiter intensiv geschult, Befragungen durchgeführt und immer wieder Verbesserungen umgesetzt. Parallel wurde das Konzept der zeitbasierten Finanzierungssystematik - auf den bereits gemachten Erfahrungen – auf die Zielgruppen des Praxistests erweitert. Das so erarbeitete Konzept einschließlich ITP soll im nächsten Schritt unter Federführung der Steuerungsgruppe in Pilotprojekten in verschiedenen anderen Regionen (Fulda und Werra-Meißner-Kreis) erprobt werden. Bis dahin müssen sowohl beim LWV als auch bei den Leistungsträgern noch Vorbereitungen getroffen, die Abläufe mit den Beteiligten festgelegt werden und dann Schulungen der Mitarbeiter vor Ort stattfinden.

Geplant ist, dass die Pilotprojekte begleitet und ausgewertet werden. Die Auswertung wird dann die Entscheidungsgrundlage dafür sein, wie die Personenzentrierte Steuerung und eine damit verknüpfte zeitbasierte Vergütung der Eingliederungshilfe in Hessen umgesetzt wird. (rvk)

 

Dokumentiert: Eckpunkte zur Weiterentwicklung personenzentrierter Hilfen und einer zeitbasierten Vergütungssystematik in der Eingliederungshilfe in Hessen

Präambel

In den Regionen Wiesbaden und Wetterau wurde modellhaft eine Finanzierungssystematik für Leistungen der Eingliederungshilfe nach §§ 53 ff Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) entwickelt und für die Zielgruppe Menschen mit vorrangig seelischer Behinderung erprobt. Eine Arbeitsgruppe der Vertragskommission (Liga der Freien Wohlfahrtspflege, Verbände privater Anbieter, Hess. Städtetag, Hess. Landkreistag, Landeswohlfahrtsverband Hessen) hat im Auftrag der Vertragskommission ein „Eckpunktepapier“ erarbeitet.

Die nachfolgenden Eckpunkte dienen zur Weiterentwicklung der personenzentrierten Hilfen und der erprobten zeitbasierten Vergütungssystematik sowie deren weiterer Umsetzung in Hessen. Der Hessische Rahmenvertrag nach § 79 Abs. 1 SGB XII wird entsprechend fortgeschrieben. Die leistungsberechtigte Person hat Anspruch auf bedarfsgerechte individuelle Leistungen der Eingliederungshilfe nach §§ 53 ff SGB XII.

Ein wesentlicher Bestandteil für den Gesamtplan des Leistungsträgers nach § 58 SGB XII ist die individuelle Hilfeplanung; sie bildet den Rahmen für die Erbringung der bewilligten Leistungen. Die Zusammenarbeit mit der leistungsberechtigten Person hat in der schriftlichen Festlegung der Hilfeplanung den gemeinsamen Bezugspunkt und ist insofern auch die Basis für das ergebnisorientierte berufliche Handeln (Leistungsträger und Leistungserbringer) sowie die Fortschreibung der Hilfeplanung im Verlauf.

Bei entsprechenden Bedarfen der leistungsberechtigten Person finden neben der Eingliederungshilfe auch Leistungen anderer Rehabilitationsträger Berücksichtigung. Gemeinsame Grundorientierung ist die ICF1; sie stellt ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Sprache her.

Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO)

1. Zielgruppe

Erwachsene Menschen mit Behinderung, die nach §§ 53 ff SGB XII Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe haben.

2. Strategische Ziele

  • Förderung von Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Selbsthilfepotentialen

  • Annäherung der Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen an die allgemeinen Lebensbedingungen (Normalisierungsprinzip)

  • Leistungen nach Maßgabe des individuellen Bedarfs und der persönlichen Lebensumstände

3. Operative Ziele

Zur Erreichung dieser strategischen Ziele wird für die og. Zielgruppe ein in sich schlüssiges System für die Behindertenhilfe in Hessen entwickelt und implementiert. Dies gilt für die örtlichen und den überörtlichen Träger der Sozialhilfe sowie die Leistungserbringer gleichermaßen.

Dieses System enthält folgende Elemente:

  • Niedrigschwellige Zugänge zum Teilhabesystem

  • Individuelle und zielorientierte Teilhabeplanungen

  • Verbesserte Steuerung und Wirkungserfassung

  • Hilfen werden ergebnisorientiert erbracht

  • Auf Bedarfe und eintretende Veränderungen wird flexibel reagiert

  • Grundlage ist ein personenzentriertes Verfahren mit individueller Hilfeplanung, die alle Lebensbereiche berücksichtigt

  • Die Finanzierungssystematik unterstützt die personenzentrierte Hilfe

4. Eckpunkte (Ziele) für die Umsetzung

4.1 Umsetzungselemente Hilfeplanung (Verfahren und Instrument):

Die Umsetzung erfolgt mit einem geeigneten konsensfähigen Instrument, das die Hilfeplanung methodisch unterstützt, und kompetenten Hilfeplankonferenzen.

  • Ein einheitlicher Hilfeplan wird für alle Zielgruppen zur Hilfeplanung eingesetzt, nachdem er im Praxistest für alle Zielgruppen optimiert wurde.

  • Die datenverarbeitungstechnische Unterstützung des Instruments wird im nächsten Schritt gemeinsam so entwickelt, dass damit wesentliche Ansprüche zur Dokumentation im Einzelfall ohne Doppelarbeit bei Leistungserbringer und Leistungsträger zu erfüllen sind.

  • Die Erstellung des Hilfeplans erfolgt in der Regel durch Fachkräfte der Leistungserbringer (analog Verfahren Betreutes Wohnen) unter aktiver Beteiligung der leistungsberechtigten Person oder ihres gesetzlichen Vertreters.

  • Für die Hilfeplankonferenzen wird durch die Vertragskommission ein verbindlicher Rahmen gemeinsam entwickelt und vereinbart und durch die Beteiligten in den Gebietskörperschaften implementiert.

  • Qualitätsentwicklung und -sicherung aller Umsetzungselemente der Hilfeplanung (Verfahren und Instrument).

4.2 Umsetzungselemente Finanzierung:

Grundlage der zukünftigen Finanzierung ist eine zeitbasierte Vergütung. Basis sind die in den Hilfeplanungen ermittelten individuellen Bedarfe. Hierzu werden die in den Modellregionen (Regionen Wetterau und Wiesbaden) erprobten Kernelemente weiterentwickelt und implementiert:

  • Differenzierung der Vergütung in einen „basisbezogenen Teil“ (Basisbetrag) und einen „zeitbasierten Teil“ (Maßnahmebetrag).

  • Vereinheitlichung der Finanzierungssystematik hin zu einer bezogen auf die Maßnahme zeitbasierten Systematik.

  • Vereinheitlichung der Preisgestaltung des zeitbasierten Teils zwischen den Angebotsbereichen eines Leistungserbringers.

4.3 Umsetzungselemente Sozialplanung:

  • Strukturen werden entwickelt und implementiert, die gewährleisten, dass die durch die individuellen Planungen sichtbar werdenden Bedarfe aus den Hilfeplankonferenzen in die regionalen Planungsgremien und in eine mögliche übergreifende Berichterstattung einfließen.

  • Qualitätsentwicklung und -sicherung

Das gemeinsame Eckpunktepapier der Leistungserbringer und Leistungsträger in Hessen wurde am 26. Mai 2008 durch die Hessische Vertragskommission beschlossen.