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Schrittweise zum Ziel

Ein schlüssiges System für die Eingliederungshilfe zu entwickeln, das ist das Ziel von PerSEH, der Personenzentrierten Steuerung der Eingliederungshilfe in Hessen. Sie soll die Angebote noch besser auf den wirklichen Bedarf behinderter Menschen zuschneiden. So wie bei Thomas B. aus Wiesbaden. Wir haben ihn besucht.

WIESBADEN. Im Radio läuft „Seems it never rains in California“. Thomas B. und seine Kollegen sitzen im zweiten Stock eines Geschäftshauses in Wiesbaden. Jeder hat einen Stapel Papiere vor sich. Klick – die Heftklammer wird entfernt, dann wandert wieder ein Schriftsatz in eins der roten Kästchen. Zwischendrin ein paar Worte und ein kleines Lachen.

Aktenerfassung – das ist ihr Job. Große und kleine Firmen schicken ihre alten Ordner hierher: Steuerunterlagen, Rechnungen, Auftragszettel. In der Reha-Werkstatt von EVIM (Evangelischer Verein für Innere Mission) werden sie auf Film oder DVD kopiert und können anschließend vernichtet werden. Das spart den Auftraggebern Platz. Für Thomas B. ist es eine Chance. Eine Chance auf ein geregeltes Leben und vielleicht sogar ein Sprungbrett, um auf dem ersten Arbeitsmarkt zu landen.

Das hat er als Ziel formuliert im Integrierten Teilhabeplan (ITP). „Den habe ich vor kurzem mit Herrn Zachariants ausgefüllt.“ Herr Zachariants, das ist sein Betreuer im Betreuten Wohnen. Und im ITP steht alles, was wichtig ist, damit Thomas B. sein Leben zumindest teilweise in seine eigenen Hände nehmen kann. Auch, welche Unterstützung er dabei braucht.

Erster Arbeitsmarkt – wie ehrgeizig dieses Ziel ist, wird klar, wenn er seine Lebensgeschichte erzählt: „Mit fünfzehn habe ich angefangen zu kiffen. Ecstasy habe ich auch genommen. Da war ich das erste Mal auf dem Eichberg.“ Dort ist die Kinderund Jugendpsychiatrie Rheinhöhe. Die Diagnose: Drogeninduzierte Psychose. Als er wieder herauskam, dauerte es nicht lange, und die Drogen kamen erneut ins Spiel. Diesmal spritzte er Heroin. „Meine Eltern haben das damals nicht gemerkt“, sagt er. Thomas B. kommt aus einer gutbürgerlichen Familie.

Ab dann wird seine Erzählung unübersichtlich: Es folgen Wohnungslosigkeit, Beschaffungskriminalität, Gefängnis, Rückfall, ein erstes Arbeitsverhältnis in der Reha-Werkstatt („Nach einem Jahr habe ich gekündigt“), wieder Drogen, erneute Straffälligkeit und schließlich die forensische (gerichtliche) psychiatrische Klinik in Gießen. Erst da schafft er es, von den Drogen loszukommen.

Er wirkt stolz, als er bei diesem Punkt angekommen ist. Sind auch seine Eltern stolz auf ihn? „Na ja, die freuen sich natürlich. Denen habe ich ganz schön was zugemutet.“ Jetzt ist Thomas B. 30, lebt allein und wird vom Suchthilfezentrums (SHZ) Wiesbaden betreut. In der Klinik wurde festgestellt, dass er auch unter einer so genannten hebephrenen Schizophrenie leidet. Thomas B. muss Medikamente nehmen und jede Woche zur Urinprobe: Drogentest. Aber seinen Alltag bekommt er ziemlich gut hin.

Bis es so weit war, haben viele geholfen. „Eine Betreuerin aus der Klinik ist mit mir mehrfach nach Wiesbaden gefahren, damit ich eine Wohnung suchen konnte,“ erzählt Thomas B. Eine wichtige Unterstützung. Auch den Kontakt zu EVIM hat die Klinik hergestellt, und die haben wegen der Suchtproblematik das Suchthilfezentrum mit ins Boot geholt.

Dass so viele die Hände im Spiel hatten, war kein Nachteil. „Im Gegenteil,“ sagt Konstantin Loukas vom SHZ. „Im Fall von Herrn B. war es ein Glücksfall.“ Denn die Klinik hatte den zu erwartenden Betreuungsaufwand sehr hoch angesetzt. Immerhin hatte Herr B. mehr als zehn Jahre lang Drogen genommen. Die Rückfallwahrscheinlichkeit wurde sehr hoch eingeschätzt. „Andererseits hätte es dazu geführt, dass Herr B. beinahe jeden Tag einen Betreuer im Haus gehabt hätte. Denn einen gesetzlichen Vertreter hat er ja auch noch“, sagt Loukas. „Und zugleich sollte er in der Werkstatt Fuß fassen und einen neuen Freundeskreis aufbauen.“ Konstantin Loukas trug seine Bedenken vor, und nun wurde ein neuer Hilfeplan gemacht. Dort floss der Standpunkt der Klinik ebenso ein, wie der von EVIM und dem Suchthilfezentrum. „Das war der zweite Glücksfall“, sagt Loukas. Denn inzwischen war in Wiesbaden der hessenweit erste Praxistest zu PerSEH (Personenzentrierte Steuerung der Eingliederungshilfe in Hessen) angelaufen. Und der alte Hilfeplan wurde vom ITP abgelöst. „Statt Aussagen wie‚ ‚die Abstinenzmotivation soll gefördert werden’, steht da jetzt unter dem Stichwort Ziele: ‚Herr B. trifft sich regelmäßig mit Personen, die keine Drogen konsumieren und er nimmt regelmäßig seine Medikamente’.“ Mit so konkret formulierten Vorgaben seien die Ziele nicht nur einfacher umzusetzen, sondern auch besser zu kontrollieren, sagt Loukas. „Der ITP ermöglicht eine exaktere Fixierung auf die Personen und ihre Ziele.“

Auf diese Weise konnte der Betreuungsaufwand von Thomas B. von Stufe drei auf Stufe eins verringert werden. Er hat neben der Arbeit Zeit für Fortbildungen und Freizeit. Er geht regelmäßig zum Basketballtraining und nimmt an Kursen in Englisch, Entspannungsübungen und Schwimmen teil. Seinen Haushalt bekommt er hin, und auch einen vollen Arbeitstag schafft er. „Seit du von den Drogen weg bist, hast du dich sehr zum Positiven verändert,“ attestiert ihm seine Tischnachbarin in der Werkstatt. Er kennt sie schon, seit er das erste Mal bei EVIM arbeitete.

Der nächste Schritt: Thomas B. hofft, bald ein Praktikum bei Ikea beginnen zu können. In der Warenrücknahme möchte er gern für drei Monate in den ersten Arbeitsmarkt reinschnuppern. „Wenn es gut läuft, dann kann ich das auch verlängern“, sagt er. Und dann ist er seinem großen Ziel schon wieder ein Stück näher gekommen. ebo

HINTERGRUND 

PERSONENZENTRIERTE STEUERUNG DER EINGLIEDERUNGSHILFE IN HESSEN (PERSEH)

2003 haben Kommunen und der Landeswohlfahrtsverband (LWV) begonnen, ein schlüssiges System für die Eingliederungshilfe zu entwickeln, das die Angebote auf den wirklichen Bedarf behinderter Menschen zuschneidet. Die jüngste Etappe auf diesem Weg ist PerSEH (Personenzentrierte Steuerung der Eingliederungshilfe in Hessen). Gemeinsam mit Wissenschaftlern, dem Evangelischen Verein für Innere Mission und dem Suchthilfezentrum Wiesbaden wurde dieser Ansatz 2008 in einem Praxistest erprobt und weiterentwickelt.

PerSEH stützt sich auf drei Säulen:

  • den Integrierten Teilhabeplan (ITP). Er wird von Betreuten und Betreuern gemeinsam ausgefüllt und beschreibt das Lebensumfeld, die Fähigkeiten und Ziele.

  • eine Hilfeplankonferenz, in der sich alle Beteiligten darüber verständigen, wie eine Begleitung im Alltag organisiert wird.

  • eine zeitbasierte Leistungsvergütung auf der Grundlage des Integrierten Teilhabeplans mit sieben Leistungsstufen.

Seit März 2009 laufen Vorbereitungen in zwei Pilotregionen (Landkreis Fulda und Werra-Meißner-Kreis), im Februar 2010 wird PerSEH hier flächendeckend für ein Jahr erprobt.