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Wenn die Psyche aus den Fugen gerät

Wenn die Psyche von Müttern aus den Fugen gerät, dann brauchen sie selbst, aber auch ihre Kinder Hilfe. Die finden sie auf der Mutter-Kind-Station der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Heppenheim.

HEPPENHEIM. Zielstrebig läuft der 18 Monate alte Christoph zum Regal, streckt die Ärmchen nach einem Plüsch-Affen, dreht sich mit fragendem Blick zu seiner Mutter Susanne Gärtner-Koske um. Sie lächelt, gibt ihm das Stofftier.

Was aussieht wie eine normale Alltagssituation, mussten Susanne und ihr Sohn erst wieder lernen. Auf der Mutter-Kind-Station der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Heppenheim. Hier bekommen Frauen Unterstützung, deren Psyche nach der Geburt eines Kindes aus dem Gleichgewicht geraten ist. Das Besondere: Die Mütter werden gemeinsam mit ihrem Kind, manchmal auch mit zwei oder sogar drei Kindern aufgenommen. Solche Einrichtungen sind rar in Deutschland (ein ähnliches Angebot gibt es in der Vitos Klinik Lahnhöhe in Marburg), entsprechend lang ist die Warteliste.

Christoph sitzt unter dem Tisch und lutscht an einem gelben Bauklotz. Als er sich den Kopf stößt, klettert er auf Susannes Schoß. „Als wir hier ankamen, wollte er sich von mir nicht mal mehr anfassen lassen“, erzählt sie. Zu groß war seine Angst vor ihrer Unberechenbarkeit. „Ich wollte dieses Kind nicht haben“, gesteht die 30-Jährige. Es fällt ihr noch immer schwer, darüber zu sprechen. Zumal es für die meisten unvorstellbar ist, dass eine Mutter ihr Kind ablehnt. „Junge Mütter sind glücklich, alles andere kann gar nicht sein“, sagt sie. Doch sie selbst hat – wie alle elf Frauen auf dieser Station – andere Erfahrungen gemacht. Nach der Geburt des ersten Sohnes litt sie an einer schweren Depression. Dabei war das Kind ein kleines Wunder: „Mein Mann und ich hatten uns schon damit abgefunden, dass wir nie Kinder bekommen können – und plötzlich war ich schwanger.“ Bis zur Geburt läuft alles gut, sie freuen sich. Doch danach wird es dunkel, Susanne findet lange keinen Ausweg aus der Depression. Als sie erneut schwanger wird, „macht sich in mir nur Ablehnung breit“. Die Diabetikerin verweigert ihre Medikamente, „wohl wissend, dass dies für mein ungeborenes Kind im Extremfall den Tod bedeuten kann“. Die Ablehnung schlägt nach der Geburt in Aggression um. „Ich wusste nicht mehr, ob ich Christoph geschlagen hatte oder nicht“, schildert sie. Hier in Heppenheim lernt sie andere Frauen mit schwierigen Mutter-Kind-Beziehungen kennen. Sonja H. zum Beispiel, der es nach der Geburt ihres zweiten Kindes den Boden unter den Füßen wegzieht: „Irgendwann fing ich an, mich selbst zu verletzen, meinen Kopf gegen die Wand zu schlagen.“ Oder Silke T., deren Mann sich nach der Geburt vernachlässigt fühlt. Er will die Trennung; sie hat Tag und Nacht den Kleinen, der stundenlang weint.

Während der Behandlung lernen die Mütter, auf ihre Kinder einzugehen, erkennen, dass deren Handlungen oft die Gefühle der Mutter widerspiegeln. Ist sie traurig, weint das Kind. Ist sie nervös, wird es unruhig. Ist sie zornig, wird das Kind aggressiv. Mit Unterstützung ihres Therapeuten und anhand von Videos, die Susanne mit ihrem Sohn beim Spielen zeigen, hat sie gelernt, „dass er nur ein Kind ist, kein Erwachsener, der mir absichtlich wehtut“. Als sie in der Therapie erzählt, dass sie keine Kinderhand sieht, die ihr ins Gesicht patscht, sondern eine Erwachsenenhand, die mit Wucht zuschlägt, wird deutlich, dass ihre Depression und die Erfahrungen ihrer Kindheit sich bündeln in der Ablehnung Christophs. Eine schmerzvolle Erkenntnis, ein beschwerlicher Weg. „Man wird hier nicht nur mit Samthandschuhen angefasst, mit meiner Bezugspflege habe ich mich auch gestritten“, berichtet Susanne. Und dabei gelernt: „Ich kann auch mal meine Meinung sagen und werde trotzdem angenommen.“ Die immer gleichen Ansprechpartner begleiten die Patientinnen in der Regel vom Erstgespräch über die stationäre Aufnahme bis zur Entlassung. „Die Bezugspflege sitzt auch einfach mal neben mir und gibt Ratschläge, wie ich aus einer schwierigen Situation mit dem Kind herausfinde“, erzählt die 30-Jährige.

Christoph möchte nach dem Mittagessen mit Susanne aufs blaue Sofa im Tagesraum. „Das ist unser Lieblingsplatz“, erklärt sie. Ein Platz, den sie sich mit den anderen Frauen und deren Kindern teilen muss. Denn die fünf Einzel- und drei Doppelzimmer sind klein. Für viel mehr als Bett, Kinderbett und Schrank ist da kein Platz. Im Tagesraum spielt sich vom Frühstück bis zum Abendessen das meiste Leben auf der Station ab. Ein Viertelstündchen bleibt noch zum Schmusen. Dann muss Susanne zur Gruppensitzung. Christoph bleibt im Spielzimmer, dessen Wand ein üppiger Baum mit roten Äpfeln ziert. Die Kinder beschäftigen sich hier oder toben draußen, buddeln im Sandkasten.

Nach der Sitzung steht Susanne auf dem Flur bei einer jungen Frau, die an diesem Tag gekommen ist. Susanne redet beruhigend auf die weinende Frau ein. „Die erste Zeit ist für alle schwer. Das Ziel scheint weit weg, das Leben mit Kind eine endlose Überforderung“, sagt Susanne. Inzwischen sind Christoph und sie an den Wochenenden regelmäßig daheim, erleben den Alltag als Familie. „Ich weiß, dass ich nach meiner Entlassung weiterhin psychosoziale Therapie brauche. Aber ich weiß auch, dass wir es schaffen können“, ist sie zuversichtlich.
Stella Dammbach

 


 

JEDER FALL EINE ENORME HERAUSFORDERUNG

Interview mit Dr. Hans-Peter Hartmann, Ärztlicher Direktor der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Heppenheim

Die Mutter-Kind-Station ist belegt, die Frauen warten manchmal Monate bis zur Aufnahme. Woher diese große Resonanz?
Das liegt an unserer Art zu arbeiten. Für uns ist wichtig zu sehen, wie die Interaktion zwischen Mutter und Kind abläuft. Die Frauen kommen zu uns, weil sie sich mit dem Kind oder ihren Kindern überfordert fühlen. Wir schauen, worin die Überforderung besteht. Das gelingt nur, wenn wir das Zusammensein von Mutter und Kind beobachten.

War das von Beginn an so?
Auf dieser Station, die seit 2003 besteht, schon. Aber als ich vor 20 Jahren, damals noch in Weilmünster, begonnen habe, Frauen mit Kindern aufzunehmen, hatten wir ein anderes Anliegen: Wir wollten die Trennung vermeiden. Denn was muten wir Müttern und ihren Kindern damit zu? Eine junge Mutter, die wegen einer seelischen Störung behandelt wird, findet nach drei Monaten ein Kind vor, das ihr völlig fremd ist und von dem sie nicht weiß, wie sie mit ihm umgehen soll. Das Kind wiederum hat sich längst auf eine neue Bezugsperson eingestellt. Wie wichtig das Zusammensein von Mutter und Kind ist, hat uns die Geschichte einer ehemaligen Patientin gelehrt. Nach der Geburt ihres ersten Kindes kam sie wegen einer Wochenbettpsychose ohne ihren Säugling in Behandlung, nach der Geburt des zweiten Kindes wurde sie mit Baby aufgenommen – die Beziehung zum jüngeren Kind ist bis heute viel inniger als die zum Erstgeborenen.

Welche Frauen kommen zu Ihnen?
Eher selten sind Fälle von Wochenbettpsychosen, relativ häufig hingegen mittelgradige Formen der Wochenbettdepression, zum Beispiel übermäßige Ängste, dem Kind könnte etwas passieren, oder Zwangsvorstellungen, dass zum Beispiel alle Messer weggeräumt werden müssen, weil die Patientin Angst hat, ihr Kind damit zu verletzen. Und jeder Fall ist eine enorme Herausforderung für das Team.

Inwiefern?
Anfangs ist eine ständige Beobachtung notwendig. Da kann es passieren, dass die Patientin ihr Kind wickeln möchte, das Baby dann auf dem Wickeltisch liegen lässt und weggeht, um zu rauchen. Aber die Erfahrung zeigt: Das bessert sich nach rund zwei Wochen bei etwa 95 Prozent der Frauen. Trotzdem sind damit hohe Belastungen verbun den. Deshalb entscheidet grundsätzlich das Team, welche Frauen wir aufnehmen. Der Therapeut, der das Vorgespräch führt und in der Regel auch die Therapie auf der Station übernimmt, schildert den Fall in der Teambesprechung. Hier überlegen wir dann gemeinsam, ob wir uns die Behandlung zutrauen und welches Team die Bezugspflege dieses Mutter- Kind-Paares übernimmt.

Was prägt diese Behandlung?
Natürlich die regelmäßigen Therapiegespräche mit der Mutter, bei denen das Kind meist dabei ist. In den Gruppensitzungen, die zweimal pro Woche stattfinden, geht es mehr um die Beziehungen zwischen den Frauen. Auch die Art, wie sich die Frauen in der Gruppe verhalten, sagt oft viel über die möglichen Ursachen ihrer Probleme. Ganz wichtig ist für uns die Videobeobachtung und das gemeinsame Auswerten solcher Aufnahmen mit den Patientinnen. An diesen Interaktionen zwischen Mutter und Kind kann der Therapeut meist schnell feststellen, woher die Probleme rühren. Sehr oft liegen die Wurzeln in der Kindheit der Patientin.

Warum treten diese psychischen Störungen der Frauen oft ausgerechnet kurz nach der Geburt eines Kindes auf?
In dieser Zeit hat eine Frau den größten Zugang zur eigenen Kindheit. Je nachdem, was sie selbst erlebt hat, kann dies zu Störungen führen. Deshalb ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Kindheit ganz wichtig. Hinzu kommen die veränderten Familienstrukturen unserer Gesellschaft. Viele Frauen sind alleinerziehend. Und selbst wenn ein Partner da ist und die Beziehung intakt, sind junge Mütter heutzutage sehr auf sich allein gestellt. Früher gab es immer eine Großmutter oder eine kinderlose Tante in der Nähe, die der Mutter das Kind mal für eine gewisse Zeit abnehmen konnte. Heute geht der Partner zum Geldverdienen morgens aus dem Haus. Die Mutter bleibt mit dem Säugling allein, trägt rund um die Uhr Verantwortung für das Kind. Diese mangelnde Unterstützung ist ein entscheidender Risikofaktor. Bis heute wird auch viel zu wenig berücksichtigt, dass man die Fähigkeit zur Mutterschaft erwerben muss. Die Frau muss lernen, die Verantwortung für ihr Kind zu übernehmen. Und Mann und Frau müssen ihre Partnerschaft neu strukturieren, sobald eine dritte Person, das Kind, dazukommt.

Die Patientinnen erzählen, dass sie auch hier den größten Teil des Tages mit ihren Kindern zusammen sind, kaum entlastet werden. Ist das Teil des Konzepts?
Nur bedingt. Wir wünschen uns durchaus mehr Möglichkeiten für die Patientinnen, hier ihre Kinder auch mal abgeben zu können. Schließlich brauchen sie Auszeiten. Die Therapie verlangt ihnen enorm viel ab. Dennoch muss man auch sehen, dass die Mütter hier im Vergleich zu ihrer häuslichen Situation durchaus entlastet werden. Sie müssen nicht kochen, nicht putzen, nahezu alle Arbeiten, die im Haushalt anfallen, werden ihnen abgenommen. Dennoch wünschen wir uns für die Patientinnen, dass ihre Kinder bei uns zu festen Zeiten betreut werden können.

Warum passiert das nicht?
Dafür reicht das Personal nicht und unsere finanzielle Lage ist desaströs. Bezahlt wird nur der Pflegesatz für die Mutter, für die Kinder zahlen die Krankenkassen nicht.

Was Ihnen die Arbeit erschwert...
Ja, klar. Vor allem ist es kurzsichtig: Wir betreiben klassische Prävention. Mütter und Kinder bauen belastbare Bindungen auf. Die Kinder bleiben in der Familie, ihre seelische Gesundheit bleibt intakt. Um es ganz deutlich zu sagen: Wir haben das Glück, dass wir von einer Stiftung unterstützt werden, die sogar einen Teil der Personalkosten trägt. Ohne diese Stiftung und ohne unser äußerst engagiertes Team, das über erhebliche Zusatzqualifikationen verfügt und selbstverständlich, wann immer möglich, unsere Patientinnen entlastet, wäre die Arbeit, die wir leisten, so nicht möglich.

Dr. Hans-Peter Hartmann arbeitet seit rund 20 Jahren auf diesem Gebiet. Das Interview führte Stella Dammbach.