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Wo die Blinden sehen

Markus H. führt Sehende durchs Dunkel

Im Frankfurter Dialogmuseum können Sehende erfahren, wie blinde Menschen die Welt erleben. Museumsleiterin Klara Kletzka hat die Besucher beobachtet: „Die Leute kommen mit Mitleid rein und gehen mit Respekt raus.“

FRANKFURT. Ohne den blinden Guide wären die Besucher verloren. „Folgen Sie einfach meiner Stimme“, sagt Markus H. Sehen kann ihn niemand. Und ein Trupp von acht Besuchern – Studierende mit Kindern – tapst unsicher mit dem Blindenstock umhertastend hinter ihm her.

Es ist stockdunkel in den Ausstellungsräumen des Frankfurter Dialogmuseums. Die Geräusche klingen plötzlich doppelt so laut: Vogelgezwitscher, Wasserplätschern, Froschgequake. Die Gruppe geht über weichen Waldboden zu einer wackeligen Hängebrücke. „Aua, das war mein Ellbogen“, stöhnt eine männliche Stimme. Aber ohne Tuchfühlung geht in diesem Museum nichts. Eine kleine Kinderhand greift nach unbekannten Erwachsenen. „O Gott, o Gott“, entfährt es einer Frau auf der schwankenden Brücke.
Die Besucher klettern über einen schmalen Steg in ein Ausflugsschiff. Ohne die Hilfe von Markus H. käme kaum jemand ins Boot. Die jungen Leute schalten um: Statt die Kulisse des Mains zu bewundern, lassen sie sich den Fahrtwind um die Nase wehen. Gischt spritzt über die Reling. Einer kann sogar hören, dass das Schiff nun unter dem Eisernen Steg hindurchfährt. Wie es den Mitarbeitern des Museums gelungen ist, eine so lebensnahe Szenerie zu zaubern, bleibt ihr Geheimnis. Für die Besucher eröffnet sich eine neue Welt.

Mit Perspektivwechseln kennt sich Markus H. aus. Bis vor acht Jahren hat der Guide gut gesehen. Er arbeitete als Florist in Bielefeld, sein Traumberuf, als ein Raubüberfall sein Leben gründlich veränderte. Er war nur etwas früher als gewöhnlich in den Tresorraum gegangen, um die Geldbomben seiner Firma abzuliefern, als dunkle Schatten neben ihm auftauchten. Bevor er reagieren konnte, sprühten ihm Räuber eine Art Pfefferspray in die Augen. Seine Netzhaut verklebte und löste sich innerhalb weniger Wochen ab. Markus H. erblindete. Die Räuber wurden nie gefasst. „Seitdem komme ich lieber ein bisschen zu spät“, sagt der 35-Jährige.

Markus H. lacht ein leises Lachen. Das Drama um den Verlust seines Augenlichts scheint lange vorbei zu sein. Ein Jahr kämpfte er, um sich im Alltag wieder zurecht zu finden. Seine Liebe zerbrach. Nach einer Umschulung zog er in ein Dorf im Rhein-Main-Gebiet und startete zunächst als Praktikant im Frankfurter Dialogmuseum: „Ich finde es spannend, Sehenden zu erklären, wie es ist, nichts zu sehen“, sagt er. Seit 2006 ist H. einer der zwölf fest angestellten Guides. Zudem bedient er als Kellner im Dunkelrestaurant. Fünfmal am Tag führt er durch das Museum mit dem programmatischen Namen „Dialog im Dunkeln“: „Wenn sich die Leute darauf einlassen, macht es wahnsinnig Spaß“, sagt er.

In der stockdunklen Ausstellung findet er sich besser zurecht als draußen. Er läuft sogar rückwärts vor den Besuchern her, damit diese ihm besser folgen können.

Der „Stadtbummel“ im nächsten Raum ist eine echte Herausforderung: Mühselig tastet die Gruppe an Hauswänden, Regenrinnen und hessischen Holztüren entlang. „Können Sie erraten, was da neben Ihnen hängt?“, fragt H. „Keine Ahnung“, sagt die Studentin, die über einen glatten Kasten mit einer Klappe in Beinhöhe streicht. Es ist ein Fahrkartenautomat, absolut unbedienbar für Blinde. Eine Kreuzung muss überquert werden – glücklicherweise mit Blindenampel. Das akustische Signal ertönt. Jetzt müssen die Besucher so schnell wie möglich über die Straße laufen, ohne am Bordstein zu stolpern.

Markus H. erzählt aus seinem Alltag: Erst vor wenigen Tagen ist ein Autofahrer über seinen weißen Stock gefahren. Er hatte den Blinden offenbar völlig übersehen, der gerade in eine Straßenbahn einsteigen wollte. Gehalten hat der Autofahrer nicht. „Die wahren Blinden sind die Sehenden“, sagt H. trocken.

Zum Abschluss geht es in die Dunkelbar. Verblüffend schnell gibt der Barkeeper das passende Wechselgeld heraus. Beim Plaudern in der dunklen Kneipe ist es leicht, Markus H. nach dem Leben ohne Augenlicht zu fragen. Mit seinem „Arbeitsunfall“, wie er ihn nennt, hadert er nicht mehr: „Ich kann heute genauer hören, riechen und fühlen. Wenn ein Sinn wegfällt, schärfen sich die anderen Sinne“, sagt er.

Zu sehen ist er erstmals beim Verlassen der Ausstellung: Ein sehr schmaler Mann mit dunklem Schnauzbart und einer schwarzen Mütze auf dem Kopf. Wenn er das Museum verlässt, hilft ihm Blindenhund Billy, im Frankfurter Stadtverkehr klarzukommen. Über die Reaktion der Gäste freut sich Museumsleiterin Klara Kletzka: „Die Leute kommen mit Mitleid rein und gehen mit Respekt raus.“ Gesa Coordes

 

HINTERGRUND

DAS FRANKFURTER DIALOGMUSEUM

Das Frankfurter Dialogmuseum wurde 2005 am Ostbahnhof gegründet. Es geht auf eine Idee von Dr. Andreas Heinecke zurück, der schon vor 20 Jahren eine Ausstellung in völliger Dunkelheit konzipierte. Ziel ist es, für die Belange blinder Menschen zu sensibilisieren und Barrieren abzubauen. Zudem ist das Museum ein Integrationsbetrieb, in dem zwei Drittel der Mitarbeiter schwerbehindert sind. Die Investitionskosten wurden zu 75 Prozent vom Landeswohlfahrtsverband getragen.

Kernstück ist die Ausstellung „Dialog im Dunkeln“ – sechs Räume, in denen vernachlässigte Sinne geschärft werden müssen. Zudem gibt es ein Dunkel-Restaurant, in dem Vier-Gänge-Menues serviert werden, sowie das „Casino for Communication“, in dem Teams spielerisch kommunikative Fähigkeiten verbessern können.
Jedes Jahr kommen 80.000 Besucher – zur Hälfte Schüler, die in kleinen Gruppen durch die Ausstellung geführt werden. Damit ist das Museum zu 90 Prozent ausgelastet. Es gibt 48 Mitarbeiter (davon 28 fest angestellt). Die behinderten Beschäftigten werden vom LWV gefördert.

2009 musste die Stadt Frankfurt eine finanzielle Nothilfe von 90.000 Euro organisieren, weil Firmenkunden – vor allem Banken – in der Wirtschaftskrise ausblieben. Sie hatten in der Vergangenheit Trainingsangebote für Teams und Führungskräfte genutzt, denen der Perspektivenwechsel als wertvoller Impuls in Teamprozessen diente. Mit den Angeboten für die Firmen wurde das Museum querfinanziert. gec

Weitere Informationen: www.dialogmuseum.de