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Erdbeben im Kopf

Migranten leiden oft lieber somatisch: Das ist die Erfahrung von Psychiater Dr. Eckhardt Koch. Auf der interkulturellen Station der Vitos Kliniken Gießen-Marburg gibt es türkischstämmige Krankenschwestern, Dolmetscher und viel Verständnis für den kulturellen Hintergrund der Patienten.

MARBURG/GIESSEN. Als Aysun D. nach Deutschland kam, war die Ankunft ein Schock: „Meine Illusionen wurden gleich zerstört“, sagt die Türkin. Sie war eine aktive junge Frau, als die Eltern die Ehe mit einem in Deutschland aufgewachsenen Türken arrangierten. Doch sie hatte sich ein Land des Wohlstands vorgestellt. Stattdessen begegnete ihr drangvolle Enge in einem dreckigen Mietshaus – mit Betten im Wohnzimmer und Toiletten auf dem Gang.

25 Jahre lang hat Aysun D. fast ohne Pause für einen Autozulieferer und einen Paketservice gearbeitet. Selbst nach der Geburt ihrer Kinder setzte sie nicht aus. Die Familie brauchte das Geld dringend. Meist schuftete sie nachts, um tagsüber für die Kinder da sein zu können. Freunde fand sie in all den Jahren nicht. „Ich war hier keinen Tag glücklich“, sagt die heute 51-Jährige, die so freundlich lächeln kann. All die Jahre träumte sie von der Rückkehr in die Heimat. Deswegen lernte sie auch kein Deutsch. Dabei sei sie nicht diskriminiert worden, versichert sie, erzählt sogar von hilfsbereiten Vorgesetzten. Was sie so unglücklich gemacht hat? „Die Einsamkeit“, sagt sie, eine Träne im Augenwinkel.

Als die Kinder aus dem Haus gingen, zerbrach ihre Ehe. „Wir sind so unterschiedlich“, versucht sie zu erklären. Und sie wurde immer häufiger krank: Bandscheibe, Schilddrüse, Galle und Niere machten ihr zu schaffen. Einmal beging sie einen Suizidversuch: „Das Krankenhaus wurde meine zweite Wohnung“, sagt sie. Aber erst, als sie kaum noch aufstehen wollte, kam sie zunächst in die Hanauer Psychiatrie, dann auf die Station für interkulturelle Psychiatrie der Vitos Klinik nach Marburg. Dass es hier eine Dolmetscherin gibt, die ihre Worte übersetzt, macht sie froh: „Dadurch kann ich erklären, was los ist“, sagt sie.

Die Marburger Vitos Klinik hat die längste Erfahrung im Umgang mit Migranten aus der Türkei – bundesweit. Schon 1991 wurde eine türkische Sprechstunde in der Ambulanz eingerichtet, in der zwei türkische Psychologen arbeiten. Inzwischen kommen jedes Jahr mehr als 800 Migranten, um sich angesichts von Depressionen, Angststörungen, psychosomatischen Krankheiten und schweren Lebenskrisen beraten zu lassen. Dabei hat die türkische Sprechstunde überregional einen Namen. Nur 40 Prozent der Patienten kommen aus dem Kreis Marburg-Biedenkopf. Geschickt werden sie von Hausärzten und Neurologen aus ganz Hessen.

Im Laufe der Jahre wurde die Station für interkulturelle Psychiatrie aufgebaut, wo es türkischstämmige Krankenschwestern und Dolmetscher gibt. Jedes Jahr werden etwa 100 Patienten mit Migrationshintergrund auf der 20-Betten-Station aufgenommen. Die meisten stammen aus der Türkei, aber auch Russlanddeutsche, Italiener und Portugiesen kommen. 60 Prozent der Patienten sind Deutsche. Schließlich soll die Station auch als integratives Modell dienen.

Im Wintergarten der Station sitzen Türkinnen und Deutsche bunt durcheinander. Sie trinken türkischen Tee aus einem Samowar. Jede hat den Anfang eines selbst gestrickten Schals in der Hand. Auch Aysun D. nimmt die Stricknadeln auf: „Hier gibt es ein Gefühl der Zusammengehörigkeit“, sagt die 51-Jährige. „Ich hätte viel früher herkommen sollen“, ergänzt eine junge Mutter mit Kopftuch. An der Wand hängt eine Landkarte der Türkei. Der Wochenplan wird zweisprachig ausgedruckt. Die Küche ist auf Muslime eingerichtet.

NACH UMWEGEN IN DIE PSYCHIATRIE

„Das sind Gesten, die eine Menge ausmachen“, sagt Dr. Eckhardt Koch, der leitende Arzt für interkulturelle Psychiatrie der Klinik. Schon in den 80er Jahren in der Ambulanz in Fulda stieß er auf die besonderen Probleme der türkischen Patienten, für die er eigene Konzepte entwickelte. Oft kamen diese Menschen erst nach vielen Umwegen in die Psychiatrie. Im Vordergrund stehen nämlich körperliche Klagen: „Migranten leiden lieber somatisch“, erklärt Koch. Deshalb dauere es oft sehr lang, bis die Fachärzte merkten, worum es gehe.

Doch er hatte ein Ohr für die türkischen Patienten. Schließlich hat der Arzt die Türkei schon früh – zunächst als Reisender – kennen und lieben gelernt. Er erzählt von beeindruckenden historischen Städten, großartigen Landschaften, einer hervorragenden Küche und sehr freundlichen Menschen. Und so verstand er schnell, was die Zuwanderer sagen wollten, wenn sie vom „Erdbeben im Kopf“ sprachen. „Dann braucht man keine Computertomographie“, sagt Koch: „Dann muss man danach fragen, was in diesem Leben zusammengebrochen ist.“ Aber vorsichtig. Wenn man zu schnell auf psychische Schwierigkeiten zu sprechen komme, verprelle man die Patienten leicht. Doch viele deutsche Ärzte könnten mit den türkischen Krankheitsdarstellungen wenig anfangen. Für ihre Ohren klängen die Schilderungen oft übertrieben. Man brauche Verständnis für den kulturellen Hintergrund. Koch spricht inzwischen selbst türkisch und reist mindestens viermal pro Jahr in die Türkei.

Dass Migration an sich krank macht, glaubt der Psychiater nicht: „Aber sie kann ein Belastungsfaktor sein, der zum Entstehen von psychischen Krankheiten führen kann.“ Das Spektrum der Krankheiten ist bei türkischen Patienten identisch mit dem deutscher Patienten, berichtet Koch. Besonders häufig sind indes chronische oder versteckte Depressionen.

Da ist zum Beispiel der 45-jährige Familienvater, der seinen Namen nicht nennen möchte. Im Gegensatz zu Aysun D. kann er sich sehr gut in Deutsch ausdrücken. Aber auch er sagt: „Es gibt Begriffe, die sich nicht übersetzen lassen.“ Der Arbeiter hat mehrere Schicksalsschläge verkraften müssen: Seine erstgeborene Tochter starb im Alter von fünf Jahren. Sein zweites Kind starb während der Schwangerschaft. Von den Nachgeborenen erzählt er voller Stolz, welch gute Schüler sie geworden sind. Vor zwölf Jahren erlitt er einen Schlaganfall. Dass er zu den ersten gehörte, denen in der Schraubenfabrik gekündigt wurde, kann er nicht verstehen. Vor zwei Jahren trennte sich seine Frau von ihm: „Da ist für mich die Welt zusammengebrochen“, sagt er. Er wurde depressiv.

STATUSVERLUST

Typisch für türkische Patienten sei das Problem des Statusverlusts, erklärt Koch. Wenn der Mann arbeitslos wird, verliere er seine klassische Rolle als Familienoberhaupt. Wenn eine Frau Witwe oder geschieden wird, habe sie nicht mehr das Ansehen einer verheirateten Frau. Ähnliche Schwierigkeiten gebe es bei Zuwanderern mit einem hohen Bildungsniveau, die einfache Arbeiten verrichten müssten.

Unter den Patienten sind auch viele Heiratsmigranten. Der Arzt erzählt von einer hier geborenen und aufgewachsenen jungen Frau mit Berufsabschluss. Ihre Eltern wollten, dass sie einen Cousin aus der Türkei heiratet. Doch kurz vor der Hochzeit in der Türkei wird sie mit großen Herzschmerzen und Angstzuständen in die Klinik eingeliefert: „Sie wollte auf keinen Fall heiraten“, sagt Koch. „Ihr Zustand hängt mit der sozialen Situation zusammen, die nicht zu ertragen ist.“

Die Ärzte und Psychologen der Station versuchen aber nicht nur, die junge Frau zu stärken. Sie holen auch grundsätzlich die Familie mit ins Boot, um nach Lösungen zu suchen. „In den meisten Fällen können wir helfen“, sagt Koch. Manchmal sei dies aber nicht möglich.

Für die Patienten gibt es eine große Palette von Angeboten: Psychotherapeutische Einzel- und Gruppengespräche, Ergotherapie, Kunsttherapie, Entspannung, Bewegungstherapie, Sozialtherapie und Sport. Zudem wird eine Gruppe für soziale Kompetenzen angeboten, wo man etwa lernt, einen Überweisungsträger auszufüllen.

Unter den Patienten sind viele Gastarbeiter der ersten Generation, aber auch junge Leute, die andere Vorstellungen vom Leben haben als ihre Eltern – etwa bei Heirat und Berufswahl. Koch warnt aber davor, die eigenen Konzepte überzustülpen: „Man muss behutsam sein“, sagt er. „Viele können und wollen sich gar nicht mit ihren Eltern überwerfen.“

Aysum D. möchte gern in ihre Heimat zurückkehren. Doch inzwischen ist ihr klar, dass sie schon wegen ihrer eigenen Kinder und Enkel zwischen beiden Welten pendeln muss. Den Aufenthalt in der Psychiatrie sieht sie als Zeit für sich. Ihr Ziel: „Ich möchte mir so viel Selbstvertrauen aneignen, dass ich es schaffe, allein zu leben.“ Gesa Coordes


 

HINTERGRUND

MIGRATIONSBEAUFTRAGTER FÜR VITOS

MARBURG/GIESSEN. Seit Dezember ist Dr. Eckhardt Koch Migrationsbeauftragter für die Vitos Kliniken Gießen-Marburg. Dadurch sollen die großen Psychiatrischen Krankenhäuser auch insgesamt kultursensibler werden, erklärt der Ärztliche Direktor Dr. Matthias Müller: „Wir wollen mehr tun, damit Migranten die psychiatrischen Einrichtungen in Anspruch nehmen.“ Zudem könne man die Zuwanderer auch nicht gut behandeln, wenn man auf ihre Kultur nicht eingehe, sagt Müller.

Konkret sollen Dolmetschersysteme für die Kliniken eingerichtet sowie Formulare, Merkblätter und Flyer übersetzt werden. Im Intranet sollen die relevanten Informationen für die Mitarbeiter zusammengefasst werden. Die Zahl und die besonderen Belastungsfaktoren der Zuwanderer sollen systematisch erfasst werden. Koch wird Fortbildungen und interkulturelles Training für die Mitarbeiter organisieren: „Die Fremdheit kann man überwinden“, sagt der Psychiater. Zudem ist ein Austausch mit anderen psychiatrischen Einrichtungen geplant.

„Bislang ist interkulturelle Kompetenz in den Kliniken noch nicht ausreichend verbreitet“, sagt Koch. Professionelle Übersetzer seien selten. Bis in die 80er Jahre hinein sei das Thema Migration in den Kliniken weitgehend ignoriert worden. Erst seit der Jahrtausendwende gebe es mehr Psychiatrische Krankenhäuser, die sich damit befassen.

Koch ist bereits seit 15 Jahren Vorsitzender der Deutsch- Türkischen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und psychosoziale Gesundheit. Ziel der binationalen Organisation ist es, ein Forum für den Austausch von Fachleuten aus Deutschland und der Türkei zu schaffen. Vom 21. bis zum 25. September ist der nächste große Kongress der Deutsch-Türkischen Gesellschaft in Berlin geplant. Etwa 400 Besucher werden zu Vorträgen und Workshops erwartet, die sich um
„Kulturräume“ drehen. gec