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"Man muss sich was trauen"

„Nicht so, sondern so“ ist das Motto zum „Internationalen Tag des Weißen Stockes“ am 15. Oktober. An diesem Tag macht die Marburger Blindenstudienanstalt (Blista) mit Aktionen darauf aufmerksam, wie Sehende blinden Menschen helfen können. Und dazu zählt immer, zunächst zu fragen, ob sie eine Straße queren wollen. Einer, der noch nie ungebeten über die Straße geführt wurde, ist Ali-Can Pektas: Seit Klasse fünf besucht er die Blista.

 


 

MARBURG. Mit seinem weißen Langstock läuft der 17-jährige Gymnasiast so zügig durch Marburgs Gassen, dass er viele Sehende überholt. „Hilfe brauche ich nur in fremden Städten“, sagt Ali-Can Pektas. Aber Marburg kennt er wie seine Westentasche. Als Fünftklässler kam er in die Blindenstadt.

Jetzt steht er mit seinem schwarzen Rucksack an der Bushaltestelle vor Marburgs größtem Kaufhaus. Der zweieinhalb Kilometer lange Schulweg bereitet ihm schon lange keine Schwierigkeiten mehr. Scheinbar mühelos findet er den hinteren Einstieg des Stadtbusses. Wenn er Glück hat, erwischt er den Bus, der direkt bis zur Blindenstudienanstalt fährt. Heute klappt es. Meist muss er aber noch von der Elisabethkirche auf den Grassenberg hinauflaufen.

Mehr als 300 Schüler strömen jeden Tag in die zehn Gebäude auf dem weitläufigen Gelände des ältesten Blindengymnasiums Deutschlands. Aus den Klassenräumen der Unterstufe ertönt das Klappern der Blindenschreibmaschinen. Ali-Can Pektas besucht bereits das berufliche Gymnasium Wirtschaft: „Ich möchte ins Finanzmanagement“, sagt der 17-Jährige. Rechnungswesen gehört denn auch zu seinen Lieblingsfächern. Wenn Lehrer Bernd Peter nach Bilanzen, Controlling oder Kalkulationen fragt, ist der aus Darmstadt stammende Deutschtürke voll bei der Sache. Er weiß, wie man die Vorsteuer bucht und was es mit der Umsatzsteuer auf sich hat. „In den Rechnungswesen-Stunden ist er unsere Hauptstütze“, sagt Lehrer Peter.

Verstecken kann man sich in diesem Unterricht nicht. Es sitzen nämlich nur acht Schüler in der Klasse. „Aus Schülersicht hat das manchmal auch Nachteile“, erzählt der Blista-Sprecher Rudi Ullrich, der einst selbst hier zur Schule ging. Die Klassen haben grundsätzlich nur sechs bis zwölf Schüler. Kaum träumt sich einer der Jugendlichen fort, wird er auch schon wieder aufgerufen. Vor jedem Schüler steht ein Laptop. Manche arbeiten mit der tastbaren Braillezeile, manche mit riesiger Schrift, manche mit Bildschirmlesegeräten. Ali hat einen Kopfhörer und ein Texterkennungsprogramm, das ihm das Geschriebene vorliest.

Die Schüler müssen sich aber nicht nur auf das Hören verlassen. Es gibt Modelle, um Erdbeben zu verstehen, Menschenfiguren zum Auseinandernehmen und Moleküle zum Zusammenstecken. Möglichst viel wird durch Experimente gelernt.

Ali-Can Pektas verbringt fast den ganzen Tag in der Schule. Er ist nämlich begeisterter Sportler. Obwohl die Schüler ohnehin drei Sportstunden pro Woche haben, trainiert er noch mehrmals in der Woche Fußball und Torball. Trainer Peter Gößmann hält ihn für ein Naturtalent. Obwohl er von Geburt an blind ist, kickt er bereits seit der Kindergartenzeit. Gelernt hat er das Fußballspielen mit Sehenden: „Man muss einfach nur munter mitspielen und sich was trauen“, sagt der 17-Jährige.

Wer seinem Training zuschaut, kann kaum glauben, dass er blind ist. Mit Tempo rast er über das Feld, passt seinen Mitspielern den Ball zu und geht beim Zweikampf hart zur Sache. Sogar den Kopfschutz – ein Schaumstoffring – trägt er meist nur, wenn er in der Blinden-Bundesliga spielt. Gerade hat er ein kaum zu haltendes Tor geschossen. Ali hat den Ball exakt in die rechte obere Ecke des Tores platziert.

Während der Pause übt er das Hochhalten des Balles: „Schon seit Monaten beiße ich mir daran die Zähne aus“, sagt er. Ali möchte der erste blinde Fußballer werden, der das Tänzeln des Balles auf dem Fuß beherrscht. Den „Okocha-Trick“ kann er schon: Mühelos klemmt er den Ball zwischen die Beine und schleudert ihn hinter dem Rücken über den Kopf nach vorn. „Fußball ist halt eine Sache für jeden“, sagt er grinsend.

An der Blindenstudienanstalt werden viele Sportarten trainiert, die man Blinden nicht zutraut. Grundsätzlich lernen sie Reiten, Schwimmen, Radfahren, Rudern und Judo. Aber auch Surfen oder Ski fahren wird in Begleitung von Sehenden geübt. „Das ist etwas Lustiges“, sagt Ali-Can Pektas über die ungewohnte Abfahrt durch den Schnee. Bei allen Paralympics waren Schüler oder Absolventen der Blista dabei. Jüngster Star ist die Skiläuferin Verena Bentele, die in Kanada fünf Goldmedaillen holte.

 

LEBENSPRAKTISCHE FÄHIGKEITEN
„Die Jugendlichen hier können trotz ihrer Behinderung ein völlig normales Leben führen“, sagt Ullrich. Deshalb lernen sie gemeinsam mit einem Mobilitätstrainer schon zu Beginn ihrer Marburger Schulzeit, sich blind zurecht zu finden. Mit dem weißen Langstock ertastet Ali fühlbare Markierungen auf den Straßen. Mit Hilfe von Geräuschen orientiert er sich auf dem Weg zum Bus, zu Freunden und im Supermarkt. Nur Schnee auf der Straße ist „ein bisschen blöd“, meint der 17-Jährige. Die weiße Pracht schluckt nämlich alle Geräusche.

Zum Konzept der Schule gehört es, dass die Jugendlichen in mehr als 40 über die ganze Stadt verteilten Wohngruppen leben. Die Minderjährigen werden rund um die Uhr betreut. Die Volljährigen werden nur noch zweimal in der Woche von einer Erzieherin besucht. Von Anfang an lernen sie Einkaufen, Kochen, Putzen und Aufräumen.

Ali-Can Pektas taucht in seiner Acht-Schüler-WG im Marburger Südviertel meist erst am Abend auf. Am Küchen- und Einkaufsdienst muss er sich natürlich trotzdem beteiligen. Wenn Ali kocht, ist ihm Fleisch das Wichtigste: Darum wagt er sich auch an Geschnetzeltes oder Schnitzel heran, obgleich Kurzgebratenes für Blinde besonders schwierig ist. Doch er hat Übung darin und muss das Fleisch nicht mehr so oft aus der Pfanne nehmen, um zu probieren, ob es gar ist.

Mit dem WG-Konzept ist die Schule bis heute Vorreiter. „Man muss die lebenspraktischen Fähigkeiten tagtäglich anwenden“, erklärt Rudi Ullrich: „Wenn man sich bei jedem Mittagessen bekleckert, kriegt man keinen Job. Da nützt die beste Ausbildung nichts.“

Gesa Coordes

 


 

HINTERGRUND

EINE ERSTE ADRESSE FÜR BLINDE UND SEHBEHINDERTE

Seit 94 Jahren steht die Blindenstudienanstalt (Blista) am Marburger Grassenberg. Dabei handelt es sich um das älteste Blindengymnasium Deutschlands. Es ist das einzige, das schon in Klasse 5 beginnt. Mit mehr als 300 Schülern aus ganz Deutschland erfreut sich die Schule großer Beliebtheit. „In der Geschichte der Blista gab es noch nie so viele Schüler“, sagt Sprecher Rudi Ullrich. Die meisten teilen die Erfahrung, dass eine Integration in normalen Gymnasien eben doch schwieriger ist. Und sie erhoffen sich von der Blindenstudienanstalt besonders gute Voraussetzungen, um das Zentralabitur zu schaffen.
Schulzeitverkürzung gibt es hier nicht. Dafür sind vergrößerte Kopien und Blindenschriftbücher so selbstverständlich, dass sie kaum erwähnt werden. Zur Schule gehören ein Berufliches Gymnasium und eine Fachoberschule.
Auch die Tochter des ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler hat an der Blista Abitur gemacht. Er zollt der Einrichtung höchstes Lob: „Marburg ist die erste Adresse für Sehbehinderte“, sagt er.

Zur Blista gehören 405 Mitarbeiter, darunter 60 Schwerbehinderte. Die Schulkosten, derzeit 52,03 Euro täglich, zahlt überwiegend der Landeswohlfahrtsverband und zu einem kleinen Teil der jeweilige Kreis, aus dem eine Schülerin/ein Schüler kommt. Der LWV, größter Kostenträger, verhandelt die Höhe der Vergütung mit der Blista. Das Ergebnis wird von den Kostenträgern in anderen Bundesländern anerkannt. Mittlerweile ist in den Schulkosten auch ein Anteil enthalten, von dem jeder Schüler mindestens einmal (spätestens in der Klasse 11) mit einem Laptop und der erforderlichen Software ausgestattet wird.

Der LWV Hessen finanziert für hessische Schüler neben den Schulkosten auch das Wohnen in den Wohngruppen. Die Kosten dort sind nach Hilfebedarfsgruppen von 2 bis 5 gestaffelt.
500.000 Euro steuerte der LWV auch für das 2007 eröffnete neue Schulgebäude bei, in dem Aula, Musikräume, Unterstufe und das überregionale Beratungs- und Förderzentrum für die ambulante Betreuung blinder und sehbehinderter Schüler an Regelschulen untergebracht sind. Gemeinsam mit den Frühförderstellen des LWV und dem evangelischen Regionalverband in Frankfurt unterhält die Blista ein Netz von Frühförderangeboten für Jungen und Mädchen im Vorschulalter. Dieses Angebot der Blista wird durch den LWV in Form einer Sockelförderung unterstützt.

Dank der Blindenstudienanstalt hat sich Marburg fast perfekt auf die Bedürfnisse von Sehbehinderten eingestellt. Alle Ampeln haben akustische Signale. Es gibt Blinden-Stadtpläne, Einkaufshilfen, sprechende Geldautomaten, sprechende Aufzüge und viele Restaurants mit Speisekarten in Punktschrift.

gec