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Mit Vierzig in die eigene Wohnung

Seit zehn Jahren gibt es die Außenwohngruppe der HPE Riedstadt in Trebur. Dort haben wir Achim Rauscher und einige seiner Mitbewohnerinnen und Mitbewohner besucht. Wie sie dort leben und wie sie gefördert werden, das ist Thema des folgenden Artikels.

 


 

In der HPE Riedstadt werden Bewohner liebevoll und effektiv gefördert

TREBUR. Achim Rauscher wird unruhig, als er von seiner neuen Wohnung erzählt. „Was mir Bedenken macht, wenn ich da drüben einziehe...“, sagt er, „...mit dem Herd komme ich noch nicht zurecht.“ „Und wer hilft Ihnen dann?“, frage ich. Ein Leuchten geht über sein Gesicht. „Mikee“, antwortet er, plötzlich sichtlich erleichtert. Achim strahlt seinen Betreuer Michael Ehrlich mit einem breiten Lachen an.

Achim Rauscher steht vor einer großen Herausforderung. In wenigen Wochen wird er in eine eigene Wohnung ziehen. Sie ist zwar nur hundert Meter von seiner jetzigen Wohngruppe „Sandkaute“ in Trebur entfernt, aber die bevorstehende Veränderung macht Angst. Denn schon einmal ist er gescheitert bei dem Versuch, auf eigenen Beinen zu stehen. Dass er dennoch einen zweiten Anlauf wagt, ist ein großer Erfolg - für ihn und die Mitarbeiter der Heilpädagogischen Einrichtung (HPE) Riedstadt, zu der die Außenwohngruppe in Trebur gehört.

Mit besonderen pädagogischen Konzepten (siehe Hintergrund) und großem Einfühlungsvermögen ist es den Mitarbeitern schon oft gelungen, erstaunliche Entwicklungsschritte bei den Bewohnern anzustoßen. Bevor Achim Rauscher vor 15 Jahren in die HPE kam, hatte er sich aufgegeben. Weder im Betreuten Wohnen noch in Wohnheimen war er zurecht gekommen. Schließlich hatte er sich ins Bett gelegt und jeden Kontakt verweigert. Auch gegessen hat er nicht mehr.
Weil seine Betreuer keinen Rat mehr wussten, wandten sie sich an Alexander Kurz-Fehrlé, den Leiter der Heilpädagogischen Einrichtung in Riedstadt für Menschen mit einer geistigen Behinderung. Durch intensive Betreuung und begleitende therapeutische Maßnahmen gelang es in einem mehrjährigen Prozess, Achim Rauscher wieder zu stabilisieren. Anfangs besuchte er die angegliederte Tagesförderstätte der HPE nur für Stunden, später blieb er den ganzen Tag dort. Er gewann Selbstbewusstsein zurück. Und vor sechs Jahren zog er von der intensiv betreuten Wohngruppe auf dem Kerngelände der HPE in Riedstadt nach Trebur in die Außenwohngruppe.

 

SELBSTBEWUSSTSEIN GEWONNEN
Hier hat er erstmals wieder etwas selbstständiger gelebt: Gemeinsam mit Rita Cimen und Martin Habl, die beide ein Paar sind, sowie Uwe Weber bewohnt er den ersten Stock des Hauses. Sie haben dort eine eigene Küche und vor allem an den Wochenenden regelmäßig kochen geübt. Jetzt – kurz vor dem Umzug – haben sie das Kochen intensiviert. Sie trainieren, zu waschen, sauber zu machen, zu bügeln. Als ein Lokaljournalist kommt, um über das zehnjährige Jubiläum der Außenwohngruppe zu berichten, das in diesem Jahr gefeiert wird, führen sie ihre Fähigkeiten selbstbewusst vor.

Alexander Kurz-Fehrlé erfüllt das mit Stolz. Allerdings seien die vier, die bald ins Betreute Wohnen gehen, in der HPE die Ausnahme. „80 Prozent unserer Bewohner haben komplexe Behinderungen. Sie gehören zu den Hilfebedarfsgruppen 4 und 5.“ Das sind die mit dem höchsten Bedarf an Unterstützung. Rund die Hälfte von ihnen komme aus anderen Einrichtungen, erläutert der Pädagogische Leiter. Meist seien sie in dem dortigen Betreuungssystem gescheitert. „75 Prozent unserer Bewohner weisen neben einer geistigen Behinderung psychiatrisch diagnostizierte seelische Störungen auf. Etwas mehr als 60 Prozent von ihnen sind aggressiv – sich oder anderen gegenüber.“ Zu denen zählt auch Helga Kochinke.
Gemeinsam mit sieben weiteren Männern und Frauen lebt sie im Erdgeschoss des Hauses in Trebur. Als sie vier Wochen alt war, kam sie ins Heim. Von dort in verschiedene Psychiatrien. Schließlich nach Riedstadt. 1989 wurde dort die Heilpädagogische Einrichtung gegründet. Helga wurde eine der ersten Bewohnerinnen.

„Sie war anfangs nur schwer zugänglich“, sagt ihre Betreuerin Isolde Friedrich, die sie seit 1996 kennt. Weil sie sich kaum verständlich machen konnte, fühlte sie sich oft übergangen. „Dann versetzte sie den Betreuern einen harten Kopfstoß. Alle hatten Angst vor ihr.“ In Ihrer Verzweiflung attackierte Helga nicht nur Menschen, sondern auch Gegenstände. „Es gab Zeiten, da musste zweimal pro Woche der Glaser kommen“, erinnert sich Kurz-Fehrlé. Weil Helga ihren Kopf gegen die Fensterscheibe gerammt hatte.

„Heute richtet sie ihre Aggression nicht mehr nach außen“, sagt Isolde Friedrich. Helga ist ruhiger geworden. Doch man sieht ihr an, wie sehr sie unter Spannung steht. Sie kneift sich selbst ständig in den Handrücken, zieht die Haut so weit hoch, dass es beim Zuschauen schmerzt. Sie knirscht vernehmlich mit den Zähnen. Und brüllt zwischendurch wie ein Kleinkind. Immerhin besucht sie inzwischen eine Tagesförderstätte, ist dort verantwortlich für die Spülmaschine und das Tischdecken. Und während sie früher regelmäßig ihre liebsten Kuscheltiere fortwarf, um den Verlust anschließend lautstark zu betrauern, sitzen die wuscheligen Gesellen heute dicht gedrängt im Regal in ihrem Zimmer.

Als „Schlüsselerlebnis“ bezeichnet Isolde Friedrich, dass Helga ihr vor ein paar Jahren plötzlich einen Kuss auf die Wange gab. Die verlässlichen Beziehungen, die ihr die Betreuerinnen und Betreuer bieten, haben auch Helga Kochinke weiter gebracht. So gelang sogar der Umzug in die Außenwohngruppe. Achim, Uwe, Martin und Rita werden diese bald verlassen.

Für die vier ist es beruhigend, dass sie weiterhin Tür an Tür wohnen. Ihre Wohnungen liegen auf einem Flur. Sie sind aneinander gewöhnt – auch an die Eigenheiten des anderen. „Anfangs gab es Trouble mit uns“, erinnert sich Achim und schaut Martin an. Dessen Antwort kommt prompt: „Da kannte ich Dich noch nicht so gut.“ Ein Hinweis darauf, dass Achim nicht leicht zu nehmen ist. Doch die sechs Jahre in der Sandkaute haben ihn innerlich wachsen lassen.
Jetzt zeigt er mir sein kleines Apartment. Der riesige Büroschreibtisch, der bereits sein Zimmer in der Sandkaute ausfüllt, der soll direkt ans Fenster, erklärt er. Er inspiziert den Rollladen und zeigt mir anschließend die Küche. Als er vor dem Herd steht, schimmert kurzzeitig noch einmal die Unsicherheit durch. Er berührt die Knöpfe. „Die sind anders als in der Wohngruppe. Wenn ich hier drehe, weiß ich gar nicht, welche Platte angeht“, sagt er und blickt suchend zu mir und Alexander Kurz-Fehrlé. „Das wirst Du lernen“, antwortet der ruhig. Achim zuckt die Schultern. Und nickt schließlich.

Kurz bevor ich mich verabschiede, meldet sich Uwe zu Wort. „Ich wollte noch was sagen.“ Er holt Luft. „Ich freue mich schon auf Betreutes Wohnen. Dass ich alleine kochen kann, mein eigenes Bad hab’, das wird super.“ Und gemeinsam machen sie erste Pläne. Im November wird Achim 40. „Das feiern wir in der neuen Wohnung!“

Elke Bockhorst

  


 

HINTERGRUND

ENTWICKLUNGSFREUNDLICHE BEZIEHUNG

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der HPE Riedstadt arbeiten nach der Methode der Entwicklungsfreundlichen Beziehung ®, kurz EfB, die von den Psychologinnen Dr. Barbara Senckel und Ulrike Luxen erarbeitet wurde. Basierend auf entwicklungspsychologischen, psychoanalytischen und heilpädagogischen Erkenntnissen haben sie einen besonderen Ansatz entwickelt, der es Menschen mit geistiger und seelischer Behinderung ermöglicht, ihre Potentiale zu entfalten.
Die Grundlagen der EfB sind so einfach wie wirkungsvoll: Wertschätzung, Kontinuität und Einfühlungsvermögen. „Viele der Menschen, die zu uns kommen“, sagt Leiter Alexander Kurz-Fehrlé, „sind traumatisiert, wurden abgeschoben, haben Gewalt erfahren. Sie haben kein Vertrauen, weder zu sich noch zu anderen. Ihnen fehlt Sicherheit, Stabilität und zuverlässige Orientierung.“ Der Ansatz der EfB gehe davon aus, dass korrigierende Erfahrungen und somit Reifungsprozesse nachträglich möglich seien. Dafür müsse der Entwicklungsstand der Menschen zunächst differenziert erfasst werden (kognitiv, emotional, lebenspraktisch). Anschließend würden Förder- und Betreuungsmaßnahmen darauf abgestimmt.

 

10 JAHRE AUSSENWOHNGRUPPE TREBUR
Die HPE Riedstadt entstand 1989 auf dem Gelände des Philippshospitals. Sie ist heute eine Betriebsstätte der Vitos GmbH. Zur HPE gehören Außenwohngruppen in Erfelden und Trebur: Die Einrichtung „Sandkaute“ in Trebur besteht seit zehn Jahren.
Die HPE bietet 97 stationäre Plätze für Menschen mit geistiger Behinderung (61 davon auf dem Ursprungsgelände), 5 Plätze im stationär begleiteten Wohnen, 5 Kurzzeitplätze, 6 Männer und Frauen können in eigenen Wohnungen betreut werden.

In Trebur leben zwölf Menschen mit zum Teil komplexen Behinderungen. An der Entstehung der Außenwohngruppe waren Günter Baumann, bis heute Vorsitzender des Fördervereins, und seine Frau Heidi Baumann maßgeblich beteiligt. Ihr Sohn Hans-Peter sollte in einer kleinen Einrichtung intensiver betreut werden. Eines Tages gingen sie an dem leerstehenden Gebäude des ehemaligen Kindergartens vorbei. Und ihnen wurde bewusst, dass das ein guter Ort für eine kleine, übersichtliche und damit persönlichere Einrichtung wäre. Ihr Vorstoß traf beim LWV auf Zustimmung: Alexander Kurz-Fehrlé war auf der Suche nach einem geeigneten Standort für eine Außenwohngruppe. Sie sollte die zentrale Einrichtung in Riedstadt ergänzen. So wurde der ehemalige Kindergarten umgebaut und renoviert.

ebo