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"Ann-Cathrin ist ein Wunschkind"

Der Kinderwunsch von Frauen und Männern mit geistiger Behinderung war lange ein Tabuthema. Meist entschieden andere über Verhütung und Elternschaft. Inzwischen gibt es Unterstützung für werdende Eltern. Und zunehmend auch praktikable Modelle, bei denen Kinder und Eltern aus einer Hand betreut werden. Familie Bruess in Kassel profitiert davon.

KASSEL. Die geöffnete Wohnungstür gibt den Blick bis ins Wohnzimmer frei. Das ist voller Leute. Ann-Cathrin (2) steht im Flur und schaut uns erwartungsvoll an. Yvonne Bruess kommt uns mit Jan-Luca (4 Monate) auf dem Arm entgegen. „Meine Cousine und meine Tante sind da. Ich will nachher mit denen noch raus.“ Sie wirkt ein wenig hin und her gerissen. Doch dann bittet sie uns ins Wohnzimmer, die Verwandten gehen hinüber in die Küche und wir haben Ruhe für ein Gespräch mit der Familie. Auch Tina Schwaiger und Pierre Fleck, die Bezugsbetreuer der Familie, sind gekommen. Pierre Fleck nimmt Frau Bruess den Kleinen ab und wiegt ihn im Arm. Sein Umgang mit allen wirkt vertraut.

Markus (33) und Yvonne Bruess (26) sind seit zwei Jahren Eltern. Ein vergleichsweise junges Elternpaar. Und noch etwas unterscheidet sie von vielen anderen Vätern und Müttern: Markus und Yvonne Bruess sind Menschen mit geistiger Behinderung.

„Kennengelernt haben wir uns in der Kasseler Werkstatt“, sagt Markus Bruess. Er arbeitet dort als Staplerfahrer im Bereich Lagerlogistik. „Anfangs gab es Höhen und Tiefen bei uns“, erinnert sich seine Frau. „Durch seine Ex-Freundin“, schiebt sie nach. Als sich das Gefühlschaos gelichtet hat, wächst die Beziehung – und der Wunsch nach einem gemeinsamen Kind.

Der Wunsch geht in Erfüllung. Die Gewissheit, dass Yvonne schwanger ist, stürzt den Vater allerdings für einen kurzen Moment noch einmal ins Gefühlschaos. „Erst war das schockierend, als es passiert ist“, berichtet Markus Bruess offen. „Dann war es o.k.“ Sie zog bei ihm ein. Doch die Wohnung war zu klein: Wenig später zogen Markus und Yvonne Bruess in eine Dreizimmerwohnung im Grünen Weg. Denn dort ist auch das Büro für Betreutes Wohnen der Gesellschaft für Soziale Einrichtungen des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB GSE). „Auch wenn wir einmal nicht da sind“, sagt Tina Schwaiger, „ist in der Regel irgendjemand von unseren Kollegen im Haus. Da finden sie einen Ansprechpartner.“

So wie neulich, als Ann-Cathrin Fieber bekam. „Da bin ich erst mal runter ins Büro gelaufen“, erzählt Yvonne Bruess. Dort erhielt sie den Rat, Fieber zu messen und Pierre oder Tina anzurufen, die in Notfällen bis 22 Uhr übers Bereitschaftshandy zu erreichen sind. „Das hat doch gut geklappt“, lobt Pierre Fleck. „Du hast dann Wadenwickel gemacht, das kanntest du ja schon.“ Und am nächsten Tag ist Frau Bruess mit der Kleinen zum Kinderarzt gegangen.

Sie sind sicherer geworden durch die Elternschaft. Erwachsener. Im Umgang mit Geld sind sie besonnener als früher. Sie sparen und fahren einmal im Jahr als Familie in den Urlaub. Die Mitarbeiter der ASB GSE organisieren das: Im nächsten Sommer geht es an den Timmendorfer Strand. Die Eltern erkennen klarer ihre eigenen Grenzen. „Ich habe jetzt ein Praktikum bei K + S gemacht. Da hätte ich vielleicht eine Arbeit außerhalb der Werkstatt kriegen können.“ Aber der Stress, sich dort bewähren zu müssen, und die Verantwortung als Familienvater und Ernährer – Frau Bruess arbeitet nicht, seit die Kinder da sind – dem hielt er nicht stand. „Das schaffe ich jetzt einfach nicht.“ Wenn die Kinder größer sind, will er es erneut versuchen.

Dass Ehepaare wie Markus und Yvonne Bruess Eltern werden, war vor fünfzehn Jahren noch undenkbar. Jetzt ist es Normalität. Allein in Stadt und Landkreis Kassel bieten drei Träger Betreutes Wohnen für Eltern und ihre Kinder an. Nicht immer allerdings bleiben die Kinder in der Familie oder bei der Mutter: Oftmals entscheidet das Jugendamt, dass die Kinder zu Pflegefamilien kommen. Sicher auch mit Blick auf die vielen Fälle von Kindesmisshandlung, die in der jüngsten Vergangenheit publik geworden sind, schauen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter genau hin, ob die Kinder bei ihren leiblichen Eltern gut aufgehoben sind.
„Aber es ist natürlich nicht von vornherein gesagt, dass sich Mütter und Väter mit geistiger Behinderung schlechter um ihren Nachwuchs kümmern als andere Eltern“, betont Pierre Fleck und schaut Markus und Yvonne Bruess dabei ermutigend an. „Wir betreuen auch eine Mutter mit ihrem 15-jährigen Sohn. Und der besucht die Regelschule.“ Offenbar wurde er gut gefördert.

Im Fall von Markus und Yvonne Bruess gibt es neben der Tatsache, dass die ganze Familie zusammen lebt, eine weitere Besonderheit: Tina Schwaiger und Pierre Fleck betreuen Eltern und Kinder. Mit 20 plus sechs Stunden pro Woche. Ihre Auftraggeber sind der LWV und das Jugendamt: Die ASB GSE, für die sie arbeiten, hat sich seit 2003 darum bemüht, diese doppelte Zuständigkeit zu bekommen, und eine Vereinbarung mit dem Jugendamt getroffen. Sieben Familien und alleinstehende Eltern mit neun Kindern betreut die ASB GSE nach diesem Konzept in Kassel. In diesem Jahr wird eine weitere (die dritte) Familie in das Wohnhaus im Grünen Weg ziehen.

So hat Tina Schwaiger, die als Erzieherin und Sozialpädagogin ausgebildet ist, nicht nur Zeit und Ohr für Yvonne Bruess, sie hat auch das Wohl von Ann-Cathrin im Blick. Regelmäßig unternimmt sie mit der Zweijährigen etwas. Außerdem geht sie mit zu Gesprächen im Kindergarten oder zu den Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt. Und Sozialarbeiter Pierre Fleck, der ein wichtiger Ansprechpartner für Markus Bruess ist, sorgt sich in gleicher Weise um Jan-Luca. So bleibt es den Eltern erspart, ihre familiären Termine mit sechs verschiedenen Fachleuten zu koordinieren: Denn neben den gesetzlichen Betreuerinnen und Tina Schwaiger sowie Pierre Fleck käme normalerweise noch jeweils eine pädagogische Fachkraft für jedes Kind ins Haus. Leicht vorstellbar, dass so viele unterschiedliche Sichtweisen bei aller Professionalität der Fachleute den Alltag für die Familie kompliziert machen können.

Der Verein aha und die Lebenshilfe in der Region Kassel, die ebenfalls Familien und alleinstehende Eltern betreuen (siehe Kasten), würden gern auch die Zuständigkeit für die Kinder übernehmen. „Doch das Jugendamt im Landkreis ist dazu bisher nicht bereit“, so die Erfahrung von Petra Bünsow und Laura Traxel, die bei aha und der Lebenshilfe für das Betreute Wohnen verantwortlich sind. So bleibt die ASB GSE mit ihrem Modell in Nordhessen vorerst die Ausnahme.

Das Beispiel der Familie Bruess zeigt, dass das Konzept auch in der Praxis gut funktioniert. Wenn man Tina Schwaiger und Pierre Fleck glaubt, tragen die Eltern maßgeblich mit dazu bei. „Familie Bruess ist auch deshalb was besonderes, weil sie toll mit uns zusammenarbeitet“, betont der Betreuer. „Nie stehen wir vor verschlossener Tür.“ Und seine Kollegin ergänzt: „Sie nehmen meistens an, was wir ihnen raten.“ Die Beziehung zu den Bezugsbetreuern ist über Jahre gewachsen.

Auf die Frage allerdings, ob er sich noch mal für zwei Kinder entscheiden würde, sagt Markus Bruess: „Nein. Definitiv nein!“ Jedenfalls – so erklärt er auf Nachfrage – nicht so kurz hintereinander. Und seine Frau berichtet, wie stressig es sei, wenn beide Kinder gleichzeitig ihr Recht einforderten. Doch dann fällt ihr ein, dass Ann-Cathrin ihr beim Wickeln des Kleinen immer alles anreicht und ihr „toll hilft“. Bei diesen Überlegungen unterscheiden sich Markus und Yvonne Bruess so gar nicht von anderen Eltern.

Dann löst sich die Gesprächsrunde wieder auf. Mutter, Tochter und Sohn machen sich mit den Verwandten auf den Weg, Markus Bruess und Pierre Fleck ziehen los, um LED-Leuchten für die Wohnung zu kaufen. Das ist ihr Alltag.

Elke Bockhorst

 


 

HINTERGRUND

NICHT IMMER BLEIBEN KINDER BEI IHREN ELTERN

Der Landeswohlfahrtsverband unterstützt in Hessen neun Elternpaare und 25 alleinerziehende Mütter oder Väter mit geistiger Behinderung. Sie leben mit ihren Kindern in eigenen Wohnungen und werden ambulant betreut, drei Familien leben in einem Wohnheim. Fünf weitere Elternpaare und neun alleinerziehende Mütter oder Väter leben von ihren Kindern getrennt. Das Jugendamt entscheidet, ob die Kinder im Haushalt der Eltern bleiben. Grundsätzlich ist der LWV für die Eltern zuständig, sofern sie Unterstützung im Alltag brauchen, das Jugendamt für die Kinder. Ansprechpartner beim LWV ist Christiane Müller vom Fachbereich für Menschen mit geistiger Behinderung, Kölnische Straße 30, 34117 Kassel, Telefon 0561 1004 – 2618.

ebo


Weitere Informationen finden Eltern und werdende Eltern in einem Heft in leichter Sprache, das von der Lebenshilfe Kassel und Pro Familia herausgegeben wurde: „Ich wünsche mir ein Kind! Ich bin schwanger! Ich habe ein Kind!“ gibt es bei

Pro Familia Kassel
Petra Zimmermann
Breitscheidstraße 7
0561 7661925 – 10
www.profamilia.de 

oder

Lebenshilfe Kassel
Tobias Fischer
Schäfergasse 6
0561 18000
www.lebenshilfe-rks.de

 


 

UNTERSTÜTZUNG VON ANFANG AN

Interview mit Regina Gernt,
Leiterin des Fachbereichs für Menschen mit geistiger Behinderung

Worauf kommt es an, wenn Männer und Frauen mit geistiger Behinderung Eltern werden?
Mütter und Väter mit geistiger Behinderung brauchen in der Regel Unterstützung. Dafür ist – nach dem Sozialgesetzbuch XII – der LWV Hessen zuständig. Für das Wohl der Kinder in den Familien ist das Jugendamt zuständig, das auf der Grundlage des SGB VIII arbeitet. Es gibt also zwei Rechtsgrundlagen und zwei Zuständigkeiten. Daher ist es wichtig, dass sich beide Leistungsträger und die Leistungserbringer wie zum Beispiel Lebenshilfe Kassel, ASB oder aha eng abstimmen, damit die ganze Familie im Blick ist. Wichtig ist, dass sie sich rechtzeitig vernetzen, damit die erforderlichen Unterstützungsleistungen der Familie von Anfang an zur Verfügung stehen.

Inwieweit hat sich der Umgang mit dem Thema in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten verändert?
Elternschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung war lange ein Tabuthema. Die Frage der Verhütung oder ob die Kinder bei ihren Eltern lebten, wurde vielfach von anderen entschieden, z.B. von amtlichen Betreuern, vielleicht auch von Eltern.
In den letzten fünf bis zehn Jahren wurde dieser Umgang immer häufiger in Frage gestellt. Spätestens seit das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2008 in Kraft getreten ist, müssen wir umdenken: Die Vertragsstaaten, zu denen Deutschland zählt, haben sich verpflichtet, wirksame Maßnahmen zu treffen, um Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen zu beseitigen. Auf dieser Grundlage muss auch die Gleichberechtigung in Fragen wie Ehe, Familie, Elternschaft und Partnerschaft gewährleistet sein.

Was ist leichter geworden?
Das Thema Kinderwunsch bei Menschen mit geistiger Behinderung wird jetzt offener angesprochen. Das Thema wird ernst genommen. Es gibt gezielte Unterstützungsangebote für Eltern bei jenen Trägern, die Menschen mit geistiger Behinderung im Alltag betreuen*, oder auch bei Pro Familia.

Wo gibt es immer noch Hürden?
Die bewusste Entscheidung für eine Elternschaft hängt auch ab von den Möglichkeiten für das gemeinsame Leben und die Erziehung der Kinder. Für Menschen mit Behinderung ist es häufig eine sehr weitreichende Herausforderung und nicht überall sind günstige Rahmenbedingungen vorhanden.
Hürden sind sicher auch Sorgen, Bedenken und Widerstände von Angehörigen. Daher ist es meines Erachtens sehr wichtig, dass die Frage einer Elternschaft angesprochen wird und in aller Offenheit Möglichkeiten und Grenzen erörtert werden.

Gibt es da auch juristische Probleme, oder ist der Rechtsanspruch der Menschen mit Behinderung unumstritten, sich selbst für ein Kind zu entscheiden?
Viele Menschen mit geistiger Behinderung haben amtliche Betreuer, die eine solche Entscheidung mittragen müssen. Nach der UN-Konvention müssen die Rechte der Menschen mit geistiger Behinderung mit den Rechten aller Menschen im Einklang stehen. Vor diesem Hintergrund ist auch die Frage nach einer Elternschaft sehr ernst zu nehmen und mit Sorgfalt und großem Verantwortungsbewusstsein von uns zu begleiten.

* gemeint sind besondere Angebote im Betreuten Wohnen, nicht die amtliche Betreuung

Das Interview führte Elke Bockhorst