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Kämpferisch mit 98 Jahren

Lange hat sie versucht, ohne finanzielle Unterstützung von außen klarzukommen. Seit 2001 erhält die 98-jährige Anna Becker, deren Mann im Zweiten Weltkrieg starb, Leistungen der Kriegsopferfürsorge. Sie weiß Herbert Jansen als vertrauensvollen LWV-Mitarbeiter zu schätzen.

WÖLFERSHEIM. Anna Becker thront am Ende der Geburtstagstafel. Ihre weißen Haare sind sorgfältig frisiert, die leuchtend blaue Bluse glänzt festlich. Anna Becker lacht übermütig in Erwartung ihrer Gäste. Vor zwei Wochen ist sie 98 Jahre alt geworden. Zur Begrüßung zitiert sie einen Psalm. Nicht jedes Wort ist verständlich – Anna Becker hatte vor einigen Jahren einen Schlaganfall. Aber die Textstelle kann sie auswendig, die Sätze kommen ihr flüssig über die Lippen. „Ein bisschen Frömmigkeit muss sein“, sagt sie schließlich und lacht erneut ihr mitreißendes Lachen.

Ihren Geburtstag hatte sie diesmal nicht zuhause in Wölfersheim gefeiert. „Ich war in Bad Salzhausen“, erzählt sie. Die Begleitung durch einen Pflegedienst hatte ihr ein Freund geschenkt. „Schön war es.“ Jetzt freut sie sich über die kleine Nachfeier: Zwei ihrer Weggefährtinnen vom Sozialverband VdK sind gekommen, die Vorsitzende Bettina Winkel und ihre Stellvertreterin Helga Sauer. Auch Herbert Jansen aus dem Fachbereich Kriegsopferfürsorge vom LWV und LWV-Landesdirektor Uwe Brückmann machen ihr heute ihre Aufwartung.

Anna Becker erhält seit 2001 Leistungen der Kriegsopferfürsorge. Bis dahin war sie immer allein über die Runden gekommen. Hatte für sich und viele Jahre auch für ihren Sohn gesorgt. Ihr Mann war 1941 in Finnland gefallen. „Hier ist nur noch Morden“, hatte er in seinem letzten Brief geschrieben. Kurz vor seinem Tod. Da war der Sohn erst zwei. In der Gemeindeverwaltung hat sie nach dem Krieg gearbeitet und später als Garderobenfrau in der Wetterauhalle. Aber die Rente ist nicht üppig. Deshalb bekommt sie Hilfe zum Lebensunterhalt und eine Taxibeihilfe. „Sie haben mir in der Not geholfen“, sagt sie zu Herbert Jansen.

Anna Becker gehört keineswegs zu den ältesten Frauen und Männern in Hessen, die Leistungen von der Hauptfürsorgestelle beim LWV erhalten: Immerhin gut ein Prozent von ihnen sind hundert Jahre oder älter. Die beiden ältesten Leistungsberechtigten sind sogar Jahrgang 1905. Anna Becker aber dürfte dennoch eine Ausnahme sein: Sie lebt mit 98 Jahren allein in einer barrierefreien Wohnung. Und kommt trotz der körperlichen Einschränkungen – die Beine wollen nicht mehr so recht – ganz gut zurecht.

Sohn und Schwiegertochter, die nur ein paar Straßen weiter wohnen, bringen ihr regelmäßig ein warmes Essen. Die VdK-Vorsitzende und ihre Stellvertreterin betreuen sie ehrenamtlich: Alle zwei Wochen kommt Bettina Winkel vorbei. „Und wenn Anna pfeift“, sagt sie zwinkernd. Natürlich hat sie auch den Geburtstagskuchen gebacken. Helga Sauer erledigt seit einigen Jahren die Ämterangelegenheiten für „die Anna“. So nutzen sie und Herbert Jansen die Gelegenheit, alles Nötige für die Verlängerung des Antrags auf Leistungen der Kriegsopfersorge zu besprechen. Der LWV, so sichert Jansen zu, wird prüfen, ob er sich auch an den Kosten für den neu eingerichteten Hausnotruf beteiligen kann.

Vieles aber nimmt Anna Becker noch selbst in Angriff. Sie ist unternehmungslustig. Unweit von ihrer Wohnung liegt die Wetterauhalle. Dorthin macht sie mit ihrem Rollator regelmäßig Ausflüge. Auch ins „Städtele“ geht sie und gönnt sich dort schon mal einen Kümmelschnaps. „Es gibt ein neues Lokal“, berichtet sie strahlend. Anna Becker ist auf dem Laufenden, was in Wölfersheim passiert. Aber wenn sie weitere Wege hat, braucht sie Hilfe. Dafür bekommt sie die Taxibeihilfe vom LWV.

Anna Becker kommt aus Dorheim, das ist nur einen Sprung von Wölfersheim entfernt. Ihr Mann hatte bei der Preußen Elektra gearbeitet, als die noch Braunkohle in der Gegend abbaute. „Dort, wo jetzt der Wölfersheimer See ist“, erklärt sie. 1934 haben beide geheiratet. Nach fünf Jahren kam Sohn Manfred zur Welt. Doch dann brach der Krieg aus. Nach ihrem Vater, der im ersten Weltkrieg gekämpft hatte und nicht aus der Gefangenschaft zurückgekehrt war, verlor sie auch den Mann. „Wissen Sie, wo Ihr Mann beerdigt ist?“ fragt Uwe Brückmann teilnahmsvoll. „Ja“, sagt sie. „Ich habe ein Foto bekommen.“ Sie lächelt. Die Geschichte hat Anna Becker geprägt. Sie ist eine Kämpferin geworden. Bei der Gemeinde war sie für die Kriegsopfer und ihre Hinterbliebenen Ansprechpartnerin. Damals lag die Zuständigkeit noch bei der örtlichen Ebene, und Anna Becker beriet die Menschen. Sie hat den VdK in Wölfersheim mit gegründet, leitete viele Erholungsfahrten und Ausflüge: In Berlin war sie, in Hamburg, Kassel und in Österreich. Ihr Regiment war streng und herzlich. „Bei der Abfahrt mussten alle pünktlich sein!“

Nun ist ihr Bewegungsradius etwas eingeschränkt. Jetzt heißen die Ziele Bad Salzhausen oder Gießen: Das Dachcafé in Gießen ist einer ihrer Lieblingsorte. Dem VdK aber ist sie weiterhin verbunden. Schließlich hat sie auch den Altenclub mit gegründet, und bis vor wenigen Jahren nahm sie noch an den Jahreshauptversammlungen teil. Nun beschränkt sie sich auf die geselligen Anlässe. Bettina Winkel hat sie bei einem solchen Anlass in der Wetterauhalle kennengelernt. „Seitdem kannte mich jeder“, erzählt diese lachend. „Das ist doch die, die immer bei der Anna ist, haben die Leute dann gesagt.“

Kein Wunder, dass zu den Geburtstagsfeiern von Anna Becker normalerweise bis zu hundert Gäste kommen. Da wird es selbst in der geräumigen, barrierefreien Wohnung mit dem weiten Blick in die Wetterau eng. Spätestens in zwei Jahren will sie wieder richtig groß feiern. „Ich habe dem Bürgermeister schon gesagt: Dann musst Du ein Volksfest machen.“ Die Hundert, die möchte sie auf jeden Fall erleben.

Als die Gäste bereits aufbrechen, ruft eine Freundin an. „Das ist die Rosi“, sagt Bettina Winkel. „Sie fragt, ob Du heute noch in die Wetterauhalle kommst.“ Anna Becker zögert nur kurz. „Ja“, sagt sie. Und freut sich offensichtlich schon auf das nächste gesellige Beisammensein.

Elke Bockhorst

 


 

HINTERGRUND

IMMATERIELLE UND MATERIELLE SCHÄDEN AUSGLEICHEN

Die Hauptfürsorgestelle des LWV betreut die in Hessen lebenden Kriegs-, Wehr- und Zivildienstbeschädigten sowie deren Familienmitglieder und Hinterbliebenen. Die Hauptfürsorgestelle berät diese Menschen und gibt finanzielle Hilfen. Sie ist auch Ansprechpartner für eine wachsende Zahl von Menschen mit Impfschäden und für Opfer von Gewalttaten, die nach dem Gesetz anerkannt sind.

Das Ziel:
Durch besondere Hilfen im Einzelfall sollen die erlittenen immateriellen und materiellen Schäden ausgeglichen werden. Dabei orientieren sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Lebenssituation der Menschen.