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Von der Werkstatt ins Werk

Drei nordhessische Arbeitgeber haben ihre Werkhallen und Betriebe geöffnet für Menschen mit Behinderung. Davon profitieren nicht nur die Beschäftigten auf Zeit, sondern oft auch die Firmen selbst. Und manchmal wird ein reguläres Beschäftigungsverhältnis daraus. Wir stellen Ihnen Beispiele vor, wie Werkstätten für Menschen mit Behinderung und Betriebe dabei erfolgreich kooperieren.

Es gibt viele Möglichkeiten, Menschen mit Behinderung den Weg auf den ersten Arbeitsmarkt zu ebnen. Wir stellen einige Beispiele vor.

 

NACHSCHUB FÜR DIE LOKBAUER

 

KASSEL. Der blaue Koffer enthält kleine viereckige Kunststoffschachteln in gelb, rot und grün. Jede einzelne ist mit einem Strichcode und einer Nummern- und Buchstabenkombination beklebt. Die Schachteln sind randvoll mit kleinen Scheiben aus Kunststoff und Metall, Schrauben, Muttern und vielem mehr: Jedes Teil ist wichtig für den Ausbau einer Bombardier-Lok. Werner Pfennig hat gerade am Regal L17 eine gelbe Schachtel mit viereckigen schwarzen Kunststoffplättchen gefüllt und steckt sie in die Lücke. Ein kontrollierender Blick, dann schließt er den Koffer und klebt einen grünen Punkt neben den Griff. „Das heißt, dass die bestellten Teile vollständig sind“, erklärt er. Den Koffer steckt er zu etwa zwanzig anderen in den Transportkorb.

Dass die Koffer mit den kleinen Bauteilen rechtzeitig dort ankommen, wo sie gebraucht werden, dafür sind heute unter anderem Werner Pfennig, Dietmar Kerl und Alexander Alles verantwortlich. Sie sind Mitarbeiter der DIAkom, einer Zweigwerkstatt der Baunataler Diakonie Kassel, und arbeiten tageweise im Werk von Bombardier. Dort haben sie unter der Ägide von Gruppenleiter Jens Tucholke die verantwortungsvolle Aufgabe, den Nachschub der kleinen Bauteile an den 45 Arbeitsplätzen zu organisieren. Und zwar so, dass die richtigen Bauteile zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Arbeitsplatz vorliegen. Benötigt werden sie dort zum Beispiel für die Verkabelung in den Loks.

Für Werner Pfennig und all die anderen ist die Arbeit im Werk eine Unterstützung im Alltag. „Ich stehe morgens auf, gehe an die Arbeit, das gibt mir Struktur.“ Vor 25 Jahren wurde er krank. Eigentlich wollte er Sozialwesen studieren. Dann wurde bei ihm eine schizo-affektive Psychose diagnostiziert. Inzwischen hat er sich gefangen. Er braucht nur noch wenig Medikamente und in der Psychiatrie war er schon lange nicht mehr.

Momentan arbeitet er zweimal pro Woche bei Bombardier und sonst in der DIAkom-Werkstatt in der Schillerstraße. Wenn es ihm einmal nicht so gut geht, dann bleibt er in der Werkstatt und jemand anders geht für ihn ins Lokomotiv-Werk. „Diese Flexibilität ist ideal für Menschen mit seelischen Behinderungen“, erklärt DIAkom-Chef Hilmar Ludwig.

„Bombardier ist stolz auf die Kooperation“, sagt Produktionsdirektor Stefan Gabel. Für das Unternehmen ist es günstiger, die Teile-Koffer von DIAkom bestücken zu lassen, als den Lieferanten mit dieser logistischen Aufgabe zu beauftragen. Und für die Mitarbeiter der DIAkom ist es eine große Chance. Denn einzelne schaffen den Sprung auf einen Betriebsintegrierten Beschäftigungsplatz (BiB). Dort können sie bis zu zwei Jahre lang Seite an Seite mit den Bombardier-Beschäftigten arbeiten, und wenn das gut läuft und weiterhin Bedarf im Betrieb besteht, werden sie anschließend übernommen.

Sven Kehren ist einer von ihnen. Der 35-Jährige ist geistig und seelisch behindert. Er steigt auf den Gabelstapler, um ein großes Regal, das in einer Halle teilmontiert wurde und jetzt in die Lok eingesetzt werden muss, an den richtigen Arbeitsplatz zu bringen. Er strahlt: Jetzt ist er für den Nachschub bei den großen Teilen zuständig.

Die Verantwortlichen bei Bombardier machen sich viele Gedanken, wie sie die Mitarbeiter von DIAkom in den Werksbetrieb integrieren. „Sie sind bei Betriebsfesten dabei, gehen mit unseren Mitarbeitern in die Kantine“, sagt Stefan Gabel. Und sie bringen die Koffer direkt in das entsprechende Regal. „Dabei entsteht das eine oder andere Gespräch“, ergänzt Peter Scheuring, der für die Disposition verantwortlich ist. „Unsere Mitarbeiter geben dann direkt weiter, wenn irgendein Teil zur Neige geht.“

Dass sich die DIAkom-Mitarbeiter mit Bombardier identifizieren, freut auch Produktionsdirektor Stefan Gabel. „Eine Kollegin hat mir mal ganz stolz gesagt: ’Ich gehe jetzt ins Werk und nicht mehr in die Werkstatt‘.“

 

PUNKTEN MIT FREUNDLICHKEIT UND ZUVERLÄSSIGKEIT

 

KAUFUNGEN. Langsam nimmt er das Gas weg, bevor er den Radbagger ausschaltet und flink aus der Fahrerkabine klettert: Kai Reichelt, seit gut drei Jahren ist er bei einer Gartenbaufirma in Kaufungen auf einem Außenarbeitsplatz der Kasseler Werkstatt tätig. „Das ist hier klasse, hier darf ich auch die Maschinen benutzen“, berichtet Kai Reichelt strahlend. „In der Werkstatt darf man das nicht.“ Gerade hat er auf der Baustelle eines Privatgrundstücks Erde verschoben, bevor er mit seinem Chef Reinhold Liphardt den Beton prüft, den sie am Vortag für ein Fundament gegossen haben.

Der 22-Jährige berichtet stolz von vielen Schubkarren, die er dafür gefüllt und geschoben hat. Schwere Arbeit macht ihm nichts aus. Genauso wenig, wie es ihn stört, dass er morgens sehr früh aufstehen muss, um die Straßenbahn um 6.30 Uhr zu erreichen, mit der er jeden Tag von Kassel nach Kaufungen fährt. Und auch gelegentliche Wochenendarbeit ist für ihn okay. „Ich hab hier nichts zu meckern“, sagt Kai Reichelt zufrieden. Das mag daran liegen, dass es ein sehr persönliches Miteinander in dem kleinen Familienbetrieb gibt. „Das ist hier für Kai wie eine zweite Familie“, sagt Andreas Schuller, Fachkraft für berufliche Integration (FBI) bei der Sozialgruppe Kassel e.V. Er hat den Arbeitsplatz vermittelt und unterstützt Kai Reichelt und seinen Chef im Alltag. Und das nicht nur im Konfliktfall. Reinhold Liphardt und Andreas Schuller halten telefonischen Kontakt und zweimal im Monat macht sich Schuller vor Ort ein Bild. Daher weiß er, dass Kai Reichelt hier sowohl von seinem Chef als auch von seinen beiden Kollegen außergewöhnlich unterstützt wird. Sie vermitteln ihm Anerkennung und Respekt. Dinge, die er in seiner Kindheit und Jugend oft vermisst hat.

Pflastern, Radbagger fahren? „Nein, das kann ich nicht“, hieß es von Kai Reichelt vor noch nicht allzu langer Zeit. „Los, rauf auf den Bock“, so erinnert sich Andreas Schuller, hätten die Kollegen mit sanftem Druck nachgeholfen. Und dann hat der zurückhaltende 22-Jährige beides nicht nur gelernt, sondern auch gezeigt, dass er es gut kann. Stolz berichtet er von der großen Menge Holzhackschnitzel, die er bei einer öffentlichen Baustelle mit dem Fahrzeug auf den Wegen verteilen durfte.

Kollegen und Chef fordern Kai Reichelt und unterstützen ihn über den Job hinaus. So hat er jetzt begonnen, den Führerschein zu machen. Ein großes Projekt für den schüchternen jungen Mann mit geistiger Behinderung. Die Kollegen, beide etwa in seinem Alter, stehen ihm mit guten Tipps zur Seite. Der Führerschein würde die Möglichkeiten von Kai Reichelt sehr erweitern. Dann könnte er kleinere Aufgaben wie die Pflege von Außenanlagen auch allein machen. Das ist für seinen Arbeitgeber ein wichtiger Aspekt. Bei allem Verständnis für Kais Situation muss Reinhold Liphardt wirtschaftlich kalkulieren und kann nicht „drauflegen“.

Der „Kleine“, so bezeichnen manche Kunden Kai Reichelt, weil er sich körperlich von seinen Kollegen unterscheidet, sei ausgesprochen freundlich. „Da stellen die Kunden ihm Bestnoten aus und seinen Fleiß loben sie auch.“ Das schätzt Reinhold Liphardt an seinem sympathischen Mitarbeiter. „Und“, so fährt er fort, „im Rahmen seiner Möglichkeiten ist Kai in höchstem Maß zuverlässig und pünktlich. Er ruft an, wenn etwas mal nicht klappt. Zudem identifiziert er sich mit unserem Betrieb. Kai klopft keine Sprüche!“ Den Gärtnermeister freut das sichtlich. In den Jahren, in denen er ausbildet, hat er ganz anderes erlebt und war schon ziemlich desillusioniert. Man merkt ihm den Stolz an, dass seine drei Mitarbeiter so gut miteinander auskommen. „Mein A-Team“ nennt er sie augenzwinkernd mit Blick auf eine erfolgreiche amerikanische Action-Serie der 80er Jahre. Damit Kai bei ihm einen festen Arbeitsplatz bekommt, so macht Reinhold Liphardt deutlich, muss er sich einen Arbeitsschwerpunkt suchen und sich dort beweisen. Kai Reichelt und Andreas Schuller wissen, dass er noch nicht soweit ist. Aber er hat die Chance es zu schaffen. „Es ist toll“, so erklärt Kai Reichelt, „dass Sie mir hier alles so gut erklären, auch während der Arbeit.“

 

GESCHAFFT: REGULÄRER ARBEITSPLATZ 

WALDECK-ALRAFT. Sven Remkamp hat es geschafft: Seit Anfang Juli hat der 27-Jährige einen regulären Arbeitsplatz bei der Bäckerei Plücker in Waldeck-Alraft. „Ja, Sven, dann ist es vorbei mit der Lebenshilfe“, sagt Karl-Heinz Ködding, FBI beim Lebenshilfe-Werk Waldeck-Frankenberg, bei einem seiner letzten Besuche im Betrieb. Sven Remkamp nickt. Beiden ist die Freude über den gelungenen Wechsel anzusehen. Am Anfang stand ein Praktikum, bevor Sven Remkamp acht Monate bei der Bäckerei auf einem Außenarbeitsplatz der Korbacher Werkstätten der Lebenshilfe gearbeitet hat. Dieser Vertrag wurde vorzeitig zum 1. Juli in einen regulären Arbeitsvertrag umgewandelt.

„Bei Sven ist nichts schwierig. Er ist pflichtbewusst, zuverlässig und fröhlich“, bescheinigt ihm Malte Plücker, der in dem Familienbetrieb als Diplom-Kaufmann fürs Kaufmännische zuständig ist. Daniel Ammenhäuser, der ebenfalls über die Lebenshilfe zu Bäckerei Plücker gekommen ist und bereits seit einem Jahr einen regulären Arbeitsplatz hat, schließt er mit ein. „Die beiden“, so fügt er an, „sind topp.“

Sven Remkamps Aufgabe ist die Reinigung des Arbeitsmaterials: Gemeinsam mit Salmann Pinabarsi schrubbt er Bleche und putzt Körbe aus. Flott geht ihnen die Arbeit von der Hand: Sie sind ein eingespieltes Team. „Das ist tausendmal besser als in der Werkstatt. Da war mir alles zu langsam“, erzählt Remkamp. Auch die Zeit, als er nach der Ausbildung zum Holzbearbeiter arbeitslos war und psychisch erkrankte, ist für ihn jetzt Vergangenheit. Hier gefielen ihm am meisten das tolle Arbeitsklima und die Kollegen. Das ist zu spüren in der großen Halle, in der laut eine Industriespülmaschine tost. Sobald diese aus ist und die Ohrstöpsel entfernt sind, wird geredet und gelacht. Auch mit dem Chef. Er lobt, Sven sei teamfähig und flexibel. Er habe den Kollegen als festen Ansprechpartner. Sie seien gleich gut miteinander klar gekommen. Als der Kollege im Urlaub gewesen sei, habe Sven sich auf die Vertretung einstellen können. Die Kollegin, so erzählt Malte Plücker, sei begeistert gewesen und habe gewitzelt: „Mensch, Sven, Dich machen wir zum Mitarbeiter des Monats.“ Karl-Heinz Ködding bescheinigt den Plückers und ihren Mitarbeitern ein besonderes Engagement: „Sie haben unsere Klienten gleich gut integriert.“

Alle sind zufrieden und loben die engagierten Partner. Keine Probleme, das macht skeptisch. Beim Nachhaken tritt dann das Erfolgsgeheimnis zutage: Eine gute Vorbereitung. Der Fachbereich Arbeit des Lebenshilfewerks kümmert sich intensiv um potentielle Arbeitgeber. Sie werden schriftlich und in Gesprächen informiert, können sich Arbeitsplätze in den Werkstattbetrieben ansehen. Familie Plücker besuchte das Hofgut Rocklinghausen. Dort leben und arbeiten 80 Menschen mit Behinderung, die im Rahmen der beruflichen Rehabilitation gezielt gefördert werden. „Das hat uns alle sehr beeindruckt“, sagt Malte Plücker. Und ergänzt: „Wir waren sehr gut informiert und deshalb erstmal offen für alles.“

Auch die Mitarbeiter werden gut vorbereitet. Zweimal im Jahr bietet die Lebenshilfe ihnen Sozialpädagogischen Unterricht an. Fünf Tage lang werden sie auf einen möglichen Einsatz außerhalb der Werkstatt vorbereitet: Bewerbungstraining, Verhalten am Arbeitsplatz oder auch Konfliktgespräche werden in Rollenspielen und Vorträgen behandelt. Am Ende des Kurses steht eine Betriebsbesichtigung. Erst wenn die Mitarbeiter dann klar sagen, dass sie außerhalb der Werkstatt arbeiten möchten, suchen die FBI einen passenden Praktikumsplatz. „Das hat sich so bewährt“, sagt Hans-Cornelius Petersen, der rund 20 Jahre in der Lebenshilfe Menschen in reguläre Arbeitsplätze vermittelt und nun die Fäden in Köddings Hand gelegt hat.

Einmal allerdings musste ein Praktikum mit einem weiteren Werkstattmitarbeiter bei der Bäckerei Plücker abgebrochen werden. Das hat die Familie aber nicht daran gehindert, Sven Remkamp eine Chance zu geben. Und sie will auch künftig für Menschen aus einer Werkstatt offen sein.

Elke Bockhorst/Rose-Marie von Krauss

 


 

HINTERGRUND

BESCHÄFTIGUNGSMODELLE

 

PRAKTIKUM:
Beschäftigte einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung (WfbM) schnuppern für sechs Wochen oder länger in einen Betrieb rein.

AUSGELAGERTE ARBEITSGRUPPEN:
Beschäftigte einer Werkstatt erbringen unter Anleitung eines Gruppenleiters im Betrieb eine Dienstleistung. Sie bleiben weiter bei der Werkstatt beschäftigt, lernen aber etwas über die Abläufe im Industrieunternehmen.

AUSSENARBEITSPLATZ:
Die Beschäftigten arbeiten für ein Jahr oder länger in einem Betrieb und werden von einer Fachkraft für berufliche Integration (FBI) der Werkstatt betreut. Betrieb und Werkstatt schließen dazu einen Vertrag, bezahlt werden die Beschäftigten von Werkstatt und Betrieb. Angestrebt wird die Übernahme in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis.

BETRIEBSINTEGRIERTER BESCHÄFTIGUNGSPLATZ (BIB):
Der/die Beschäftigte arbeitet bis zu zwei Jahre probeweise und mit einer gewissen Selbstständigkeit in einem Betrieb. Er/sie wird in dieser Zeit intensiver (als bei einem Außenarbeitsplatz) von der Werkstatt betreut. Beschäftigte, Betrieb und Werkstatt schließen dazu einen Vertrag. Nach Ablauf des vereinbarten Beschäftigungszeitraums wird geschaut, ob das Ziel – die Übernahme in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis – weiter verfolgt werden kann. Wenn ja, dann folgt ein Beschäftigungsvertrag mit dem Betrieb. Wenn nicht, dann bleibt der/die Beschäftigte Werkstattmitarbeiter und es wird gemeinsam nach anderen individuellen Beschäftigungsarrangements im Betrieb gesucht.

ARBEITEN IM VERBUND:
Die Beschäftigten arbeiten längerfristig in einem Betrieb, oft auch in Teilzeit, und werden dabei intensiv von der Werkstatt betreut. Beschäftigte, Betrieb und Werkstatt schließen dazu einen Vertrag, bezahlt werden die Beschäftigten von Werkstatt und Betrieb.