Logo LWVblog

Alle profitieren vom Lädchen

Lange Zeit gab es keinen einzigen Lebensmittelladen in den sieben Ortsteilen der Großgemeinde Meißner. Seit April 2011 können sich die Menschen im zentral gelegenen Abterode wieder mit allen Artikeln des täglichen Bedarfs eindecken. Es ist der jüngste Dorfladen im Kreis, den das Integrationsunternehmen Stellenwert in Zusammenarbeit mit dem Lebensmittelhändler tegut eröffnet hat. Von den Dorfläden profitieren Kunden und Mitarbeiter, darunter die 21-jährige schwerbehinderte Iris Windemuth. Mittendrin in der Gesellschaft ist auch Masood Anwar. Der 26-jährige Mann mit einer geistigen Behinderung gestaltet sein Leben nach den eigenen Vorstellungen. Zwei Porträts in unserem Schwerpunkt.


 

Alle profitieren vom Lädchen
 

MEISSNER-ABTERODE. „Schokoplättchen. Wo sind sie denn?“ Iris Windemuth steht vor dem Regal mit den Backzutaten und kräuselt die Stirn. „Wisst Ihr, wo die stehen?“, ruft sie in den Laden. „Ach, da sind sie ja. Ich stehe direkt davor.“ Iris Windemuth reicht der Kundin die gewünschten Schokoplättchen. „Für die Schwarzwälder Kirschtorte“, sagt sie. Die 21-jährige Verkäuferin ist eine von vier Angestellten im noch jungen Dorfladen in Abterode am Meißner. Das „Lädchen für alles“ gehört zum Integrationsunternehmen Stellenwert. Und Iris Windemuth ist eine von zwei schwerbehinderten Mitarbeiterinnen.

Nach vielen operativen Eingriffen hat sie sich dazu entschlossen, mit einem Hirntumor zu leben. Das Risiko, den Tumor entfernen zu lassen, ist ihr zu groß – da ist sie sich mit ihren Eltern einig. Dafür nimmt sie die starken Kopfschmerzen in Kauf, die „tagtäglich da sind“ und ganz besonders quälen, „wenn das Wetter wieder einmal spinnt“. Heute morgen wirbelt sie durch den Laden, steht an der Kasse, räumt Waren ein, nimmt in der Poststelle Briefe entgegen. „Mittwochs ist immer der Teufel los. Da kommt alles: Trockensortiment, Früchte, Milchprodukte, Getränke - eigentlich alles.“

Auf der kompakten Verkaufsfläche des „Lädchens“ breitet sich die ganze Welt eines Supermarktes aus: Im Eingangsbereich die Regale mit frischem Obst und Gemüse, dahinter Konserven, Kühlfächer für Frischmilchprodukte, Tiefkühlware, Putz- und Reinigungsmittel, Drogerieware. Bevor Kunden die Runde an der Kasse beenden, passieren sie einen Stehtisch, an dem es frisch aufgebrühten Kaffee gibt, direkt daneben eine Poststelle, dicht dahinter der Brötchen-Backautomat, an der Kasse eine Geldausgabe der Volks- und Raiffeisenbank.

Das komplette Sortiment eines großen Supermarktes – hier allerdings im Miniaturformat auf der Grundfläche eines Einfamilienhauses. Der kleine Laden ist der einzige mit einem Angebot für den täglichen Bedarf in allen sieben Dörfern der Großgemeinde Meißner.

„Es ist ein bisschen eng“, sagt eine Kundin. „Aber wir sind so froh, dass es wieder einen Laden gibt. Da brauchen wir nicht immer nach Eschwege zu fahren.“ „In Nordhessen“, ergänzt ihr Mann, „ist es ja schwierig.“ Der Werra-Meißner-Kreis leidet unter sinkenden Bevölkerungszahlen. Klar, dass sich viele Läden nicht halten konnten. Mutig war es deshalb, als sich die Geschäftsführer Rolf Eckhardt und Matthäus Mihm entschlossen, ausgerechnet in Dorfläden neue Beschäftigungsplätze für schwerbehinderte Menschen in der Region zu schaffen. Doch das Lädchen in Abterode ist das fünfte der Stellenwert GmbH und heute Vormittag ist es so voll, dass die Kunden schon mal kleine Umwege in Kauf nehmen müssen, um zum richtigen Regal zu kommen. Bis zu 200 Kunden steuern den Laden jeden Tag an, vor Feiertagen sind es auch mal 250.

Kein Wunder: Das auffällige Haus aus rotem Sandstein mit dem quadratischen Grundriss steht am markantesten Platz in Abterode. Das imposante Gebäude bauten sich die Abteroder Juden um 1830 als Synagoge. Seine leicht erhöhte Lage und die vollkommene Symmetrie der Architektur machen es zu einem echten Hingucker.

DIE IDEE MIT DEN „LÄDCHEN“

„Aktuell sind in fünf Läden 25 schwerbehinderte Beschäftigte sozialversicherungspflichtig beschäftigt“, sagt Eckhardt stolz. Die Idee ist nicht neu: In Hessen gibt es rund ein Dutzend kleiner Lebensmittelläden, die von Integrationsunternehmen betrieben werden. Firmen wie tegut, REWE oder Edeka sind damit auch in kleinen Ortschaften präsent. „Wir wollen Dorfmittelpunkt sein“, sagt tegut-Sprecherin Andrea Rehnert. „Wir prüfen allerdings zuvor sehr genau, ob sich der Laden tragen kann. Das Interesse im Ort muss vorhanden sein.“ Der soziale Aspekt ist sicher gut fürs Image. Und für Iris Windemuth.

Sie kam übers Arbeitsamt zum „Lädchen“. „Ich bin hergefahren, um mir das einen Tag lang anzuschauen. Da habe ich sofort gesagt ‚Das ist das Richtige’.“ Zuvor hatte sich die ausgebildete Hauswirtschaftshelferin in der Altenpflege versucht, dort ein Praktikum gemacht. Doch die extremen Arbeitsbelastungen in dieser Branche ließen sich nicht mit ihrer Krankheit vereinbaren.

Iris Windemuth stammt aus dem nur zwei Kilometer entfernten Wellingerode. Dort ist sie aufgewachsen und den regionalen Dialekt spricht sie noch gut. Heute ist das Hauptgesprächsthema im Laden der Brand auf einem Bauernhof in Germerode, bei dem zwei Schweine und 50 Hühner verbrannten. Menschen seien zum Glück nicht zu Schaden gekommen. Sie selbst hätte nicht ausrücken müssen, erzählt Iris Windemuth, sei aber aktives Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr Wellingerode – „die einzige Frau unter zwölf Aktiven“. Sie kümmert sich im Verein um den Nachwuchs und die Jugendarbeit. Mit ihrer Krankheit hadern, ist ihre Sache nicht. Hätte ich sie nicht vorher danach gefragt, wüsste ich jetzt nur, dass sie die einzige Frau bei der Freiwilligen Feuerwehr ihres Geburtsortes ist. Der Arbeitsplatz liegt für sie ideal: „Zwei Minuten mit dem Auto – das ist toll“. Und praktisch für das Team. Gestern meldete sich eine Kollegin krank, es musste eine Vertretung organisiert werden. 20 Minuten nach dem Telefonat war Iris Windemuth im Laden.

Der ganz überwiegende Teil ihrer Kunden, sagt sie, seien Stammkunden, die hier täglich ihre Brötchen kaufen. Dafür macht das Lädchen um sieben auf, die Schicht beginnt allerdings schon eine halbe Stunde früher mit Brötchenbacken im eigenen Backofen. „Zwischen sieben und halb neun ist noch nicht viel los“, sagt Iris Windemuth. Aber das Lädchen will auch die Frühaufsteher mit frischem Backwerk versorgen. Die Poststelle ist ein zweiter Publikumsmagnet. Kürzlich hat auch die Post im benachbarten Frankershausen geschlossen. Das habe die Nachfrage nach der Poststelle im „Lädchen für alles“ noch mal gesteigert.

Iris Windemuth arbeitet mit ihren Kolleginnen im Schichtdienst – abwechselnd vormittags und nachmittags. Der Laden hat von 7 bis 18 Uhr und samstags bis 14 Uhr geöffnet. Von den vier Mitarbeiterinnen haben zwei einen Schwerbehindertenarbeitsplatz. Das Team verstärken noch Praktikantinnen aus den gemeinnützigen Werkstätten Eschwege – heute sind zwei junge Frauen mit dem Einräumen neuer Waren in die Verkaufsregale beschäftigt. Für die Beschäftigten mit einer psychischen Erkrankung ist dieser Außenarbeitsplatz ein erster Schritt heraus aus der Anonymität der Werkstatt in die Öffentlichkeit.

Ein passendes Konzept muss für jeden Dorfladen neu entwickelt werden, denn der Bedarf ist unterschiedlich. Dabei gilt es, auf die bestehende Versorgungsstruktur Rücksicht zu nehmen. Gibt es noch einen Metzger oder einen Bäcker im Ort? In Abterode gibt es zum Beispiel noch eine Apotheke – ein Rezeptabholdienst wie im vergleichbaren Ladenmodell in Datterode würde nur zu Unstimmigkeiten mit der Apotheke im Ort führen und ginge am Bedarf vorbei. Aber einen Lebensmitteleinzelhändler gab es in der Großgemeinde schon lange nicht mehr und eine notdürftige Poststelle in der Gemeindeverwaltung konnte mit täglich zwei Stunden Öffnungszeit den Bedarf nicht decken. Die Waren kosten in den „Lädchen für alles“ das Gleiche wie im nächsten Supermarkt. Die Waren werden von den Dorfläden als Zwischenhändler verkauft.

In die neue Rolle und den Umgang mit dem Kassensystem hat sich Iris Windemuth ganz schnell eingearbeitet – „keine zwei Wochen“, sagt sie nur knapp. Und zieht die Schokoplättchen am Scanner vorbei.
Armin J. Noll/Elke Bockhorst

 


 

HINTERGRUND
VOM INTEGRATIONSAMT GEFÖRDERT

 

Die Stellenwert GmbH mit Sitz in Eschwege ist eine Tochterfirma von Aufwind – Verein für seelische Gesundheit und versteht sich als Netzwerk für Integration in Arbeit. 2009 gegründet hat das Unternehmen zum Ziel, die Arbeitsplatzsituation für Menschen mit Behinderung zu verbessern und neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. „Wir wollen die Teilhabe am Arbeitsleben für Menschen mit Schwerbehinderungen im Werra-Meißner-Kreis fördern“, sagt Rolf Eckhardt. Die Stellenwert GmbH beschäftigt 45 Mitarbeiter, darunter mehr als 50 Prozent Menschen mit seelischen, geistigen oder körperlichen Einschränkungen. Zum Netzwerk gehören die „Lädchen für alles“ in Abterode, Gertenbach und Eschwege (in Kooperation mit tegut) sowie die Nahkauf-Läden in Datterode und Netra (in Kooperation mit REWE).

Das Integrationsamt beim LWV bezuschusst diese Investitionen mit 245.000 Euro. Weitere rund 100.000 Euro wird der LWV in den kommenden sechs Jahren zahlen: Als Zuschuss zur Nutzungsgebühr, die Stellenwert monatlich für die Ladenausstattung an tegut zahlt.

Für die Zukunft des „Lädchen für alles“ in Abterode haben die beiden Stellenwert-Geschäftsführer Rolf Eckhardt und Matthäus Mihm noch einiges in Planung: So soll vor dem Ladengeschäft im Sommer ein Café entstehen. Auch einen Ausbildungsplatz für eine Einzelhandelskauffrau wollen sie schaffen. Dabei hoffen sie auf die Unterstützung von tegut bei der überbetrieblichen Ausbildung. Senior-Firmenchef Wolfgang Gutberlet aus Fulda wird sogar als Gastredner auf der nächsten Betriebsversammlung der Stellenwert GmbH auftreten.
Noll/ebo


www.stellenwert-gmbh.de 

www.aufwind-wmk.de 

 


 

"Ich komme klar"

KASSEL. Masood Anwar legt Wert auf sein Äußeres. Seine dunkle, jugendliche Kleidung, schwarz gefärbte Haare und viele Ringe und Ketten fallen ins Auge. Vom Charakter her ist er eher zurückhaltend. „Bin selbstständig“, sagt er knapp, und ein wenig Stolz klingt in seiner Stimme mit. „Ich komme im Haushalt klar.“ Der 26-Jährige lebt seit 2004 in einer eigenen Wohnung im Kasseler Stadtteil Helleböhn. Die Zahl der Fachleistungsstunden, also der Unterstützung im Rahmen des Betreuten Wohnens, wurde seit fünf Jahren immer weiter reduziert.

Shoppen, ins Café gehen und Chillen, das sind seine liebsten Freizeitbeschäftigungen. Und die teilt er häufig mit seiner Tante. Sie wohnt nur ein paar Häuser entfernt in Helleböhn und ist – neben Kollegin und Freundin Sandra – die wichtigste Bezugsperson für Masood Anwar. Im Moment sparen die Tante und ihr Neffe auf eine Reise nach New York. „Ich würde gern mal die Freiheitsstatue sehen, die hohen Gebäude und den Central Park“, sagt der junge Mann lächelnd, dessen Vater aus Pakistan stammte. Sein Geld muss Masood Anwar allerdings gut einteilen und dabei hilft ihm „Herr Klein – mein amtlicher Betreuer“. Einmal in der Woche geht Masood zu ihm, um sich Geld zu holen. So behält er den Überblick und gibt nicht zu viel aus. „Vorher habe ich mein Geld selbst bei der Bank geholt. Da habe ich manchmal mehr geholt“, sagt er und lacht verschmitzt.

Masood Anwar arbeitet in der Kasseler Werkstatt. Seit elf Jahren. Zeitweise war er in der „Putzkolonne“, der Reinigungsfirma Pro Clean. Aber das war nichts für ihn. „Zickenkrieg“ habe es dort gegeben und außerdem sei die Arbeit körperlich sehr anstrengend gewesen. Nun hilft er manchmal noch aus, ansonsten arbeitet er in der Verpackung. Dort fühlt er sich wohl. „Um viertel vor fünf stehe ich auf, dusche. Dann fahre ich eine Stunde mit dem Bus.“ Das klingt keineswegs so, als wenn ihn das stresst. Eher wie eine tägliche Gewohnheit, die Sicherheit gibt.

Große Teile seiner Kindheit hat er in Jugendheimen verbracht, unter anderem in der Gegend von Wetzlar. „Das hat mir gut gefallen, so mit 14, 15…“ Doch 2001, mit 17, kam er zurück nach Kassel, zu seiner Mutter. Sie lebt mit einem neuen Mann zusammen. Als Masood 18 wurde, ist er wieder ausgezogen. Zunächst in die Gustav-Heinemann-Wohnanlage der Diakonie Wohnstätten in Waldau. Doch schon bald wurde deutlich, dass er sich eine eigene Wohnung wünschte. „Wir haben schnell gemerkt, dass er ein Potiential hat“, sagt Mitarbeiter Ralf Lankowski. „Er war vom Intellekt her fitter als andere Bewohner, hat immer schon seine eigenen Sachen gemacht. Und hatte schnell Kontakt zu den Bewohnern im Haus Kaufungen.“ Dort bieten die Diakonie-Wohnstätten Betreutes Wohnen an. Als Ralf Lankowski und seine Kollegen begannen, ihn zu fördern, und Alltagsdinge wie Kochen, Saubermachen und Wäschewaschen einzuüben, da hat Masood Anwar diese Angebote bereitwillig angenommen. „Er war motiviert.“ Trotzdem, glaubt Sonja Fissuk, sei die Zeit im Wohnheim „eine gute Sache“ gewesen. So habe er sich behutsam entwickeln können. Bei Festen nimmt er immer noch teil.

Mit André Becker, seinem Ansprechpartner im Rahmen des Betreuten Wohnens, trifft er sich inzwischen nur noch einmal pro Woche. „Zur Kontrolle“, sagt Masood scherzend. Ein Bett für die Wohnung haben sie zusammen gekauft und einen gebrauchten Herd. Und manchmal gehen sie ins Suspekt, eine Schwulenkneipe. Masood wünscht sich einen Freund. Der müsse allerdings treu sein, betont er.

Beim Abschied erzählt der 26-Jährige, dass er nun zum Rothenberg fährt. Zu Sandra, seiner besten Freundin. „Die kann gut kochen.“ Außerdem zieht Sandra bald um und in den nächsten Wochen hilft Masood Anwar ihr beim Packen. Er weiß, wie wichtig eine eigene Wohnung ist, in der man sich wohlfühlt und sein eigenes Leben führen kann.
ebo