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Leben mit dem Virus

Die AIDS-Hilfe Kassel in der Motzstraße ist seit einem Vierteljahrhundert eine feste Adresse für Menschen mit AIDS, einer HIV-Infektion und für ihre Angehörigen. Zu den Beratungsangeboten, Selbsthilfegruppen und der Präventionsarbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen ist die Betreuung von Betroffenen in der eigenen Wohnung hinzugekommen. Für 21 Männer und Frauen in Nordhessen ist das Betreute Wohnen eine wichtige Unterstützung, einen von ihnen stellen wir vor.

 

Leben mit dem Virus

KASSEL. Die Wände seines kleinen, superordentlichen Appartements sind in kräftigen Farben gestrichen. In einem Setzkasten stehen Figuren in Reih und Glied und blicken aufs Sofa herab. Gerade hat Jürgen Bahrmer (Name von der Redaktion geändert) sich und Barbara Passolt Tee eingeschenkt. Er schaut die Sozialpädagogin freundlich an und sagt: „Es ist schon gut, dass Du mir manchmal Beine machst.“ Passolt hat ihm geholfen, Ordnung in sein Leben zu bringen. Sie arbeitet bei der AIDS-Hilfe Kassel. Seit zehn Jahren begleitet sie den heute 44-jährigen Bahrmer im Rahmen des Betreuten Wohnens. Finanziert wird die Unterstützung vom LWV Hessen.

Er war gerade 26 Jahre alt und stand vor seiner Abschlussprüfung zum Bürokaufmann. Da ließ Jürgen Bahrmer einen anonymen AIDS-Test machen. Diagnose: HIV-positiv. „Schmeiß ich mich vor die Bahn oder steige ich ein, habe ich mich gefragt“, beschreibt Bahrmer seine damalige Reaktion. „Ich bin eingestiegen.“ Augen zu und mit Erfolg durch die Prüfung. Über die Infektion, die ihm körperlich noch nicht zu schaffen machte, sprach er nicht. „Mit wem auch? Ich hatte keinen.“ Er hätte auch nicht gewusst, wie Unterstützung hätte aussehen können. „Wobei wollen Sie mir denn helfen?“, hat er damals nach der Diagnosestellung die Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes gefragt.

Die Jahre vergehen, Bahrmer schreibt Bewerbungen, hat Vorstellungsgespräche. Aber er erhält immer nur Absagen. Einmal, zwischendurch arbeitet er in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Aber nie klappt es mit einer festen Anstellung. „Ich hatte die Schnauze irgendwann voll. Immer meine eigene Unsicherheit bei den Bewerbungen und dann die Ablehnungen“, erzählt der eher Zurückhaltende. Er überwindet seine Scheu und geht zur AIDS-Hilfe Kassel. In den regelmäßigen Treffen mit einer Selbsthilfegruppe und im Gesprächscafé erlebt er zum ersten Mal Austausch mit anderen Betroffenen: Alt, jung, Männer, Frauen, hetero- und homosexuell. „Der Kontakt tut mir bis heute gut.“

Bahrmers Augen leuchten, wenn er über seinen entscheidenden Schritt erzählt. Barbara Passolt nickt: „Du bist viel offener geworden!“

 

DIE ERKRANKUNG ANGENOMMEN

Kurz nach der Kontaktaufnahme zur AIDS-Hilfe erwischt Bahrmer zum zweiten Mal eine schwere Lungenentzündung. Er will es schaffen – ohne den Tablettencocktail für HIV-Infizierte. Zuviel hat er von schweren Nebenwirkungen gehört. Und falls er die Lungenentzündung nicht überleben sollte, will er wenigstens noch einmal sein Patenkind sehen. Da seine Erkrankung nicht ansteckend ist, macht er sich schwer angeschlagen auf den Weg. „Der Besuch bei dem Kind hat mich aufrecht gehalten.“ Mehr als das. Die Begegnung ist eine Wende. Sie motiviert ihn und er beginnt mit der Therapie. Gleichzeitig wird er ins betreute Einzelwohnen der AIDS-Hilfe aufgenommen und beantragt einen Schwerbehindertenausweis. Er nimmt seine Erkrankung an.

Fast von Anfang an ist Barbara Passolt seine Betreuerin. Ein- bis zweimal die Woche treffen sich die beiden. Dann geht es um Papierkram, Arztbesuche und gute Gespräche. Seine Ängste und Sorgen bespricht Bahrmer lieber mit der AIDS-Hilfe-Mitarbeiterin als mit seinen Eltern und Geschwistern, auch wenn sie wissen, dass er homosexuell ist: „Die möchte ich nicht belasten.“ Bei Barbara Passolt und der AIDS-Hilfe fühlt er sich gut aufgehoben, „die Organisation ist wie eine zweite Familie.“ Passolt ergänzt: „Die HIV-Infektion wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus: Gesundheit, Freundschaften. Immer steht diese Diagnose dazwischen.“ Dass er trotz alledem nicht mit seiner Krankheit hadert, schätzt sie an Bahrmer besonders.

Grund zu hadern hätte er genug. Schon seit über zehn Jahren leidet er an Blutarmut. Das bringt ihm vor etwa sechs Jahren einen dreimonatigen Krankenhausaufenthalt ein. Die Bemühungen um einen Arbeitsplatz scheitern erneut ein ums andere Mal. Ein Praktikum wird seitens des Arbeitgebers abgebrochen, als Bahrmers Erkrankung bekannt wird. „Das ist ganz typisch. Viele denken, HIV-Infizierte könnten nur im Archiv arbeiten, auf keinen Fall mit intensivem Kontakt zu anderen. Aber das stimmt nicht“, erklärt Passolt. Sie kann verstehen, dass ihr Klient – wie er sagt – „die Nase von den vielen Fehlversuchen voll hat“.

„Hin und wieder hatten wir davon gesprochen, ob Du Erwerbsunfähigkeitsrente beantragst“, erinnert sich die Betreuerin. Als er sich nun dazu entschließt, unterstützt sie Bahrmer. „Erleichterung, ich habe keinen Druck mehr“, beschreibt er das Gefühl, mit dem er den Rentenbescheid 2010 entgegen nimmt.

 

HALT IN DER SELBSTHILFEGRUPPE

Unterdessen spürt Bahrmer die Begleiterscheinungen seiner Krankheit schrittweise immer deutlicher. Alle drei Monate muss er nun zur Blutuntersuchung, muss durchgängig Medikamente nehmen und im Moment plagen ihn heftige Gelenkschmerzen. „Das nervt. Meistens überspiele ich es. Aber in Gesprächen in der Selbsthilfegruppe, mit der Betreuerin spreche ich es an“, berichtet er. Früher hätte er sich nie und nimmer jemandem geöffnet. Aber als ehrenamtlicher Mitarbeiter der AIDS-Hilfe Kassel steht er inzwischen sogar an Informationsständen Rede und Antwort über den Verein. Die Selbsthilfegruppe gibt ihm weiterhin Halt. Beim gemeinsamen Kochen in den Räumen der AIDS-Hilfe entdeckt er im vergangenen Jahr eine neue Leidenschaft – seitdem gibt’s bei ihm zuhause regelmäßig selbst zubereitetes Essen.

 

BÜGELN ZU OPERN- UND SCHLAGERMUSIK

Seinen Haushalt schmeißt der sanft wirkende, aber doch zupackende Mann richtig gern. Beim Bügeln hört er Musik von Oper bis Schlager. Die Finanzen sind tipptopp in Ordnung. „Wie er mit sowenig Geld so gut auskommt, ist schon bewundernswert“, sagt Passolt. Und ihr Klient sei sehr darauf bedacht, seine Tage sinnvoll zu gestalten. Wenn er dazu Hilfe brauche, falle es ihm mittlerweile leicht, sich die nötige Unterstützung zu holen. „Den ganzen Tag in der Bude rumsitzen ist nichts für mich“, bestätigt er. Manchmal schnappt er sich sein Fahrrad und strampelt los.

Dank seiner Monatskarte kann er den Rückweg per Straßenbahn antreten. Leider vermiesen ihm die starken Schmerzen dieses Vergnügen derzeit. Anfang des Jahres wurde selbst das Treppensteigen zur Qual.

Doch Aufgeben ist nicht seins. Im jüngsten Hilfeplan für Jürgen Bahrmer sind die nächsten Ziele definiert: Die Gesundheit zu stabilisieren und sich um eine neue Wohnung mit kleiner Küche kümmern. Vor allem wünscht er sich einen Herd mit Backofen. Es soll nämlich nicht bei der Frischkäsetorte aus dem Kühlschrank bleiben!
Irene Graefe/rvk

 


 

HINTERGRUND

25 JAHRE AIDS-HILFE KASSEL

 

Die AIDS-Hilfe Kassel wurde 1987 zunächst als Selbsthilfeorganisation von Menschen gegründet, die sich mit dem HI-Virus infiziert haben oder an AIDS (dem sogenannten Immunschwäche-Syndrom) erkrankt sind. Heute hält der Verein ein breites Angebot zur Beratung, Betreuung und Prävention bereit.

 

BERATUNG UND HIV-TESTS
Jeder/jede kann sich mit Fragen rund um das Thema HIV und AIDS an die AIDS-Hilfe wenden. Neben telefonischer und persönlicher Beratung bietet die AIDS-Hilfe Kassel einen kostenlosen und anonymen HIV-Antikörpertest an. Ein wichtiger Bestandteil der Arbeit ist bis heute die Betreuung und Beratung von Menschen mit HIV und AIDS sowie deren Angehörigen. Sie werden bei Behördengängen, Arztbesuchen und Krankenhausaufenthalten unterstützt und auch in Krisensituationen psychosozial betreut.

 

BETREUTES WOHNEN
Seit 1992 ist die AIDS-Hilfe anerkannter Träger des Betreuten Wohnens. 21 Männer und Frauen aus ganz Nordhessen werden kontinuierlich begleitet, damit sie selbstbestimmt in ihrer eigenen Wohnung leben können. Dafür werden in regelmäßigen Abständen in einem Hilfeplan individuell für jeden Einzelnen konkrete Ziele formuliert und in einer Hilfeplankonferenz mit Vertretern des Sozial- und Gesundheitsamtes sowie des LWV festgelegt. Die Teilnahme der Betroffenen an der Konferenz ist ausdrücklich erwünscht.

 

SELBSTHILFE
Selbsthilfeangebote sind ein wichtiger Aspekt der Arbeit. Dazu gehören regelmäßige Gruppen sowie Freizeitangebote für HIV-positive Menschen und Menschen aus ihrem Umfeld.

 

PRÄVENTION
Ein weiteres wichtiges Standbein der AIDS-Hilfe ist die Präventionsarbeit. Hierbei wendet sich die AIDS-Hilfe zielgruppenorientiert an die Hauptbetroffenen – Männer, die Sexualkontakt mit anderen Männern haben, Drogenkonsumentinnen und -konsumenten oder Migrantinnen und Migranten aus Ländern, in denen AIDS sehr verbreitet ist. In Schulklassen und in der Aus- und Fortbildung von Krankenpflegepersonal informieren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über Ansteckungswege und wie man sich schützen kann. Ergänzt werden diese Aktivitäten durch kulturelle und politische Veranstaltungen, die die Arbeit der AIDS-Hilfe in der breiten Öffentlichkeit bekannt machen sollen.

www.aids-hilfe-kassel.de