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"Das war der richtige Schritt"

Ein Portrait der Vitos Klinik für Psychosomatik Herborn.

 


 

HERBORN. Dass bei ihr irgendetwas anders ist als bei den anderen, hat Ariane Heinzmann* früh gemerkt. Die Eltern sagten: „An Ariane ist ein Junge verloren gegangen.“ Tatsächlich liebt sie Frauen. Deshalb wurde sie in der Schule gemobbt, schaffte den Schulabschluss zunächst nicht und hatte einen holprigen Berufsweg. In die Vitos-Klinik für Psychosomatik in Herborn kam sie wegen „ausgeprägten Liebeskummers“, wie sie selbst sagt.

 

Drei Jahre war sie mit ihrer großen Liebe zusammen, einer Mutter von zwei Kindern, die an Borderline litt. Doch dann machte die Freundin im Oktober völlig unerwartet mit Ariane Schluss – per SMS. Zwei Monate später verlor Ariane ihren Job als Industriekauffrau bei einem Automobilzulieferer. Eigentlich hatte sie bereits eine Zusage für die Übernahme. Doch dann wechselte der Chef. In jener Zeit war sie selbst so traurig, dass sie nicht mehr so gut auf andere zugehen konnte, wie es normalerweise ihre Art ist. Im Dezember musste sie gehen. „Das war der finale Schlag“, sagt die 31-Jährige.

„Allein packst du das nicht“, sagte eine Freundin zu ihr und empfahl die Vitos-Klinik für Psychosomatik. In der erst im März 2012 eröffneten Klinik am oberen Rand des ausgedehnten Parkgeländes werden vor allem Menschen aus dem Lahn-Dill- Kreis behandelt. Die bis zu 20 Patienten leiden unter Depressionen, Panikattacken, Angsterkrankungen oder haben traumatische Erfahrungen gemacht. „Die Probleme, die unsere Patienten haben, können jeden treffen“, sagt Krankenschwester Christina Wagner. Meist gebe es sowohl am Arbeitsplatz als auch zu Hause Stress: Verlust des Jobs, Tod des Partners, pflegebedürftige Angehörige oder unerfüllten Kinderwunsch, nennt sie als Beispiele. „Es gibt immer Situationen, die einen aus der Bahn werfen können“, sagt die erfahrene Schwester.

Sechs Wochen bleiben die meisten Patienten. Seit sechs Wochen ist auch Ariane Heinzmann da. Sie spricht nicht nur über ihren Kummer um die verlorene Liebe. Sie erzählt auch von der schrecklichen Realschulklasse, in die sie einst ging. Sie war 14, als ihre Mitschüler geschlossen mit einem T-Shirt in die Klasse kamen, auf dem neben ihren Initialen stand: „Wenn ich du wäre, hätte ich mich schon längst umgebracht.“ Sie wollte die Schule wechseln, doch ihre Eltern erlaubten es nicht. „Da habe ich angefangen zu schwänzen, weil ich mir anders nicht zu helfen wusste“, sagt Ariane Heinzmann. Schließlich flog sie von der Schule, zog mit 16 zur Familie einer Freundin und schaffte zumindest den Hauptschulabschluss. Knapp zehn Jahre später holte sie ihren Realschulabschluss nach – mit einer Durchschnittsnote von 1,4.

In der Zwischenzeit jobbte sie bei Zeitarbeitsfirmen – als Bürohilfe, in Call-Centern, Druckereien und bei einer Ausgrabung. Nach einem monatelangen Praktikum im Kindergarten wollte sie eigentlich Erzieherin werden: „Kinder sind so direkt. Sie sagen, was sie denken“, erzählt Ariane Heinzmann. Mit den Jungs kickte sie Fußball, mit den Mädchen ging sie an die Werkbank. Doch das Arbeitsamt wollte sie bei ihrem Berufswunsch nicht unterstützen. Deshalb ließ sie sich zur Industriekauffrau umschulen.

In der Klinik hat sie nach eigener Einschätzung nicht nur von den tiefenpsychologisch orientierten Gesprächstherapien – allein und in der Gruppe – profitiert. Auch die Musik- und die Kunsttherapie fand sie hilfreich: „Das war sehr spannend, was da in Bildern herauskam.“ Eurythmie – ein Schwerpunkt des Bewegungsangebots – lag ihr nicht so. Sie wählte Bogenschießen. Außerdem ging sie in der Gruppe walken. Zu den Mitpatienten sind Freundschaften entstanden: „Hier gibt es mehrere Leute, die solche Schul-Erfahrungen gesammelt haben“, sagt sie. Einmal im Monat wollen sie sich weiterhin treffen.

„Das war auf jeden Fall der richtige Schritt“, sagt Ariane Heinzmann über ihre Wochen in der Psychosomatik: „Ich habe angefangen, wieder zu leben.“ Jetzt muss sie noch den Umzug weg aus der Nähe ihrer Ex-Freundin schaffen und sich einen neuen Job suchen. Wahrscheinlich in der Krankenpflege. Ihr ist nämlich auch klar geworden, dass sie nicht nur gern mit anderen Menschen zu tun hat, sondern dass sie andere auch gut aufmuntern kann.

Gesa Coordes

*Name von der Redaktion geändert.


 

„VIELE LEIDEN UNTER BURNOUT“

Interview mit Dr. Gunter Wagner, Leiter der Vitos-Kliniken für Psychosomatik in Herborn und Weilmünster

 

Bundesweit müssen Klinikstandorte geschlossen werden. Dagegen wurden bei Vitos in Herborn, Weilmünster und Heppenheim neue psychosomatische Kliniken eröffnet. Wie ist das möglich?
Zum einen gibt es seit den 90er Jahren eine Ausbildung zum Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie. Damit wurde ein neues Fachgebiet geschaffen. Dafür gibt es einen hohen Bedarf. Wir konnten neue Krankenhausbetten beantragen und sind jetzt im Schnitt bereits zu 80 Prozent belegt.

 

Was sind die häufigsten Erkrankungen, die Sie behandeln?
Depressionen, Ängste, Persönlichkeitsund Essstörungen. Bei den körperlichen Symptomen dominieren Schmerzen im Bewegungsapparat und Beschwerden im Magen-Darm-Bereich.

 

Was machen Sie anders als psychiatrische Krankenhäuser?
Wir haben hier keine Notfälle, also keine Patienten, die sich selbst oder andere verletzen. Akute Entgiftungsfälle oder Demenzkranke kommen nicht zu uns. Kern der Behandlung ist Psychotherapie, die medikamentöse Behandlung mit Psychopharmaka erfolgt in deutlich geringerem Umfang als in der Psychiatrie und nur mit ausdrücklichem Einverständnis der Patienten.

 

Wie häufig begegnet Ihnen das Phänomen des Burnouts?
Sehr häufig. Ich schätze, dass ein Drittel bis die Hälfte der Patienten depressive Störungen haben, die auf den Beruf zurückgehen. Oft sind es ausgebrannte Menschen jenseits der 50, die beruflich sehr stark unter Druck gesetzt werden. Die Arbeitsplätze werden immer unsicherer. Zugleich wird – etwa durch die EDV – immer mehr verlangt und kontrolliert. Das überfordert viele Menschen.

 

Haben Sie ein Beispiel vor Augen?
Zu uns kam ein Metzger, der bei dem Discounter, bei dem er arbeitete, immer mehr Umsatz mit immer weniger Personal bringen sollte. Das hat er irgendwann nicht mehr gepackt. Die Anforderungen waren einfach zu hoch. Er war ein sehr motivierter, leistungsorientierter Mensch – hätte er das alles nicht ernst genommen, wäre er auch nicht so schnell ausgebrannt. Er hat dann eine berufsbedingte Depression entwickelt. Das ist ein typischer Fall für die psychosomatischen Kliniken.

 

Was ist aus ihm geworden?
Er hat sich gut stabilisiert, neue Perspektiven für sich entwickelt und die Stelle gewechselt. Bei uns hat er erfahren, dass man auch mal scheitern kann. Das hat nicht unbedingt mit eigenem Versagen zu tun. Das kommt auch oft von außen.

 

Nach dem aktuellen Gesundheitsreport werden immer mehr Menschen wegen psychischer Leiden krank geschrieben. Wie schätzen Sie das ein?
Ob die psychischen Krankheiten an sich mehr zunehmen, ist eine Gretchenfrage. Sie werden auf jeden Fall mehr diagnostiziert. Aber stressbedingte Erkrankungen wie Depressionen scheinen tatsächlich zuzunehmen. Man fällt heute schneller in eine soziale Isolation. Das Leben, auch die Erziehung eines Kindes, ist insgesamt komplizierter geworden. Das bringt Menschen schon an die Überlastungsgrenze. Wenn sie dann eine Psychotherapie beginnen und über ihre Probleme sprechen, ist das der erste Schritt zur Gesundung.

 

Das Interview führte Gesa Coordes.