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Dennis hört gern Rammstein

Leben auf der Wachkomastation

Dennis (20) hat bei einem Motorradunfall schwere neurologische Schäden erlitten. Er ist einer der ersten Patienten, die auf der Wachkomastation von Vitos Weilmünster leben und gefördert werden. Das Angebot soll eine Versorgungslücke in der Region schließen.

 

WEILMÜNSTER. Dennis sitzt mit fast geschlossenen Augen im Rollstuhl. Der 20-Jährige, der bei einem Unfall ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten hat, ist Wachkomapatient und seit Februar im Vitos Pflegezentrum Weilmünster. Seine Mutter Sybille Arnold-Wolff hat ihn gerade zum Empfangstresen geschoben. „Heute geht es mit dem Schlucken nicht so gut“, erzählt sie Krankenschwester Margit Biedenkopf. Die nickt. Doch dann folgt ihr Blick gebannt einem anderen Patienten. Der schiebt sich vor ihren Augen Meter für Meter vorwärts. „Wo wollen Sie denn hin“, ruft eine Schwester und huscht hinterher. Margit Biedenkopf lächelt. „Das finde ich unglaublich schön, wenn solche Fähigkeiten langsam wieder kommen.“

Ob sich auch Dennis je wieder ohne fremde Hilfe fortbewegen kann? Eine Prognose wagt keiner, aber seine Mutter hofft. Wie alle anderen hier braucht er langfristige Pflege, dauerhafte Unterstützung, Therapie und Gemeinschaft – womöglich ein Leben lang. Doch niemand kann und will ausschließen, dass sich der Gesundheitszustand bei Dennis oder einem der anderen Patienten wieder bessert.

Jenen Abend im Juni 2009, als Dennis sein Bewusstsein von einer Sekunde zur anderen verlor, wird Sybille Arnold-Wolff nie vergessen. Ihr Sohn war mit dem Motorrad unterwegs. Offenbar geblendet von der tief stehenden Sonne, bremste er nicht, als der Wagen vor ihm rechts abbog. „Er ist voll in die Beifahrerseite gekracht und über das Auto geflogen“, erzählt seine Mutter. Dabei löste sich sein Helm. Dennis fiel auf den ungeschützten Kopf. Der junge Mann, der kurz zuvor sein Fachabitur abgelegt hatte und bald eine Ausbildung beginnen wollte, hat inzwischen mehrere Operationen hinter sich. Ein Teil der Schädeldecke musste entfernt werden, weil der Druck in seinem Kopf lebensgefährlich anstieg. Ein sogenannter Tracheostama wurde gelegt, damit der Speichel nicht in die Luftröhre floss. „Dass Dennis wieder schlucken kann, ist ein kleines Wunder“, sagt Sybille Arnold-Wolff.
Die 47-Jährige fährt vier- bis fünfmal pro Woche von Buseck bei Gießen nach Weilmünster, verbringt den Nachmittag mit ihrem Sohn. „In der kurzen Zeit hier hat Dennis enorme Fortschritte gemacht“, staunt die ausgebildete Krankenschwester fast ungläubig. „Sie üben aber auch viel mit Dennis“, erwidert Klaus Günther, leitende Pflegefachkraft des Zentrums. Er fügt hinzu: „Die Angehörigen sind bei uns immer mit im Boot.“

Die speziell ausgebildeten Pflegekräfte und Therapeuten der Einrichtung arbeiten Hand in Hand mit den Angehörigen der Bewohner sowie mit Hausärzten, Ergotherapeuten und Logopäden von außerhalb. „Wir achten darauf, dass die Patienten viel Zeit des Tages außerhalb ihrer vier Wände verbringen“, erklärt Günther. Das Ziel: Sie sollen möglichst viele Sinnesreize empfangen und eine Tagesstruktur erleben. Gut möglich, dass durch einen gezielten Impuls der Patient irgendwann wieder richtig zu Bewusstsein kommt. Stabilisierend wirken die Therapien fast immer. Um zu gewährleisten, dass jeder Einzelne hier die notwendige Unterstützung und Förderung erhält, setzt das Pflegezentrum auf die Bezugspflege: Sie regelt ganz klar, welche Teammitglieder sich um einen bestimmten Bewohner kümmern. Bei Dennis sind das Krankenschwester Margit Biedenkopf und Pflegeassistent Mike Wisweh.

Sanft streicht Schwester Margit über Dennis’ rechten Arm. „Heute hören wir noch Musik“, lacht sie. „Irgendwas, was richtig fetzt, Rammstein vielleicht.“ Dennis öffnet die Augen, schaut Margit unverwandt an. Sie weiß, was ihm gefällt, welche T-Shirts er cool findet, welchen Sport er mag, kennt seine Musik, seine Lieblings-Baseballkappen. „Ich habe hier sogar eine Biografie abgeben müssen, damit sich die Mitarbeiter ein Bild von seiner Persönlichkeit vor dem Unfall machen konnten“, schildert Sybille Arnold-Wolff. Da kommt es schon vor, dass sie bei ihren Besuchen den Motorradfreak Dennis nicht in seinem Zimmer, sondern im Gemeinschaftsraum vor dem Fernseher findet, wenn ein Motorradrennen übertragen wird. „Wenn ihm etwas gefällt, macht er die Augen weit auf, manchmal lächelt er sogar“, beschreibt seine Mutter. Doch er zeigt auch, wenn ihm etwas nicht passt – die Mundwinkel gehen nach unten. „Wir wissen nicht, was bis in sein Bewusstsein vordringt“, erklärt Günther. „Aber wir sehen seine Regungen. Manches mag ein unbewusster Reflex sein, manches aber ist sicherlich sein Weg, sich mitzuteilen, weil ihm infolge des Unfalls zurzeit andere Möglichkeiten fehlen.“

Keiner weiß, was Dennis spürt, hört oder sieht. Also tun die Menschen in seiner Umgebung alles, um seine Sinne und sein Denken anzuregen. Neben seinem Bett hängt eine Pinnwand mit Fotos, die ihn mit seinen Geschwistern, dem Hund und seiner Freundin zeigen.
Wer mit ihm zu tun hat, erklärt ihm, was gerade mit ihm geschieht, stellt Fragen – und versucht, an seinen Reaktionen abzulesen, was Dennis fühlt. „Am Wochenende ist oft die ganze Familie hier und wir essen zusammen. Denn das gemeinsame Abendessen ist wichtiger Teil unseres Familienlebens“, erzählt die Mutter. Regelmäßig ist Familienhund Lina mit dabei und sitzt auf seinem Schoß. Sogar ein Picknick hat die Familie im Park des Klinikums gemacht. „Dennis hat sich sichtlich wohlgefühlt. Und ich habe ihm vorsichtig frisch gepressten Orangensaft in den Mund geträufelt“, lächelt Sybille Arnold-Wolff. Das sind kleine Momente des Glücks.

„Ich habe hier gelernt, wie ich Dennis am Kinn so stimulieren kann, dass ich damit einen Schluckreflex auslöse“, erzählt sie. An guten Tagen traut sie sich, Dennis eine Gabel ihres selbstgebackenen Rhabarberkuchens probieren zu lassen. „Aber heute fällt ihm schon das normale Schlucken schwer“, sagt sie und berührt mit dem Zeigefinger sein Kinn. An diesen Tagen gibt ihr das vertraute Miteinander im Pflegezentrum Kraft. „Die meisten Mitarbeiter haben selbst Kinder, können nachvollziehen, wie es mir geht. Wir reden viel und mir wird jede Hilfe angeboten, die ich brauche“, erzählt sie. Dabei ist ihr der Schritt zunächst schwer gefallen: „Anfangs dachte ich, es hört sich so nach weggeben an. Inzwischen weiß ich, dass wir das, was Dennis hier an Hilfe erfährt, zu Hause gar nicht leisten können.“ Dennoch, Sybille Arnold-Wolff hat klare Ziele: „Wir wollen bei einer OP Dennis’ Schädelplatte schließen lassen. Ein riskanter Eingriff, aber wir glauben, dass sich dadurch der Grad seines Bewusstseins bessert.“ Irgendwann soll auch Dennis seinen Rollstuhl über diesen Flur steuern – nach Hause.
Stella Dammbach

 


 

REHABILITATION BEIM WACHKOMA

Durch einen Unfall, einen Tumor, eine Blutung oder eine Entzündung des Gehirns, auch durch einen Schlaganfall, kann es zu einer Störung der Verbindung vom Großhirn zum Hirnstamm („Mittelhirn-Ebene“) kommen. Die Betroffenen fallen in ein Wachkoma, auch „Apallisches Syndrom“ genannt, bei dem elementare physische und psychische Funktionen außer Kraft gesetzt sind. Wie lange ein solches Wachkoma anhält, ist nicht absehbar. Die Erholungszeit (Remission) kann viele Wochen, Monate oder auch Jahre dauern. Inwieweit eine teilweise oder weitergehende Wiedereingliederung bis hin zur völligen Normalisierung gelingt, ist u. a. vom rechtzeitigen Einsetzen der Frührehabilitation (Phase B) unmittelbar im Anschluss an die Akutversorgung (Phase A) abhängig. Für Patienten nach einem apallischen Syndrom kommen die Reha- Phasen C – D in Frage, bei vorerst nicht positivem Verlauf benötigt der Patient im Wachkoma Pflegeleistungen der Phase F, mit denen das Rehabilitationspotential erhalten werden soll.

  • Phase A – Akutversorgung

  • Phase B – Frührehabilitation

  • Phase C, D, E –Weiterführende Rehaphasen, Wiedereingliederung in häusliches Umfeld, Schule, Beruf

  • Phase F – medizinisch-aktivierende Behandlungspflege

jda

 


 

HINTERGRUND

EINE VERSORGUNGSLÜCKE GESCHLOSSEN

Das Vitos Pflegezentrum Weilmünster beherbergt Menschen mit schweren und schwersten neurologischen Schädigungen der Rehabilitationsphase F im Alter zwischen 18 und 64 Jahren. Phase F bezeichnet einen Gesundheitszustand, der eine dauerhafte Unterstützung und Pflege der Patienten notwendig macht, damit dieser Zustand stabil bleibt. Betreut werden können hier unter anderem Wachkomapatienten, Menschen nach Hirnblutungen und Hirninfarkten, Patienten mit entzündlichen Erkrankungen des zentralen Nervensystems sowie Menschen mit Parkinson oder Chorea Huntington. Das Haus, das am 1. Dezember 2009 seine Pforten öffnete, bietet 21 Bewohnern in acht Doppel- und sieben Einzelzimmern Platz. Außerdem verfügt es über separate Therapieräume, ein großzügiges Therapiebad sowie gemütliche Begegnungs- und Rückzugsräume. Für Bewohner, die beatmet oder abgesaugt werden müssen, stehen Zimmer mit Druckluft- und Sauerstoff-Anschlüssen zur Verfügung.

Fünf Jahre hat es gedauert von der Idee bis zur Eröffnung. „Ein langer Weg, aber wir haben jetzt die Versorgungslücke im Landkreis Limburg-Weilburg und dem Hochtaunuskreis geschlossen“, betont Hubert Hofmann, Regionalmanager des LWV in Wiesbaden. In Hofmanns Augen ist die Wahl des Standorts goldrichtig: „Die Klinik Weilmünster bietet die idealen Voraussetzungen. Sie hat enorme Erfahrung mit Patienten der Neurologie und gewährleistet die klinische Akut-Versorgung der Bewohner in Notfällen.“

Den Anstoß für dieses Projekt gab 2005 der Weilburger Verein für ökumenische Tagespflege. Die Idee: Für Erwachsene, die durch Unfall oder Krankheit an schwersten neurologischen Schädigungen leiden, sollte eine Pflegeeinrichtung geschaffen werden. „Das haben wir nach Kräften unterstützt“, erinnert sich Hofmann, der im LWV-Fachbereich für Menschen mit einer körperlichen Behinderung arbeitet.

BEDARF IN DER REGION

Gemeinsam mit den Verbänden der Pflegekassen, dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherungen und dem Landratsamt arbeitete der LWV eine Konzeption aus. Im Mittelpunkt der Überlegungen: Welche Ausstattung ist nötig, um die Bewohner optimal fördern zu können?
Vitos Weilmünster bot sich als Verhandlungspartner an. „Uns war seit langem bewusst, dass es in diesem Bereich einen Bedarf in der Region gab“, sagt Norbert Gelbert, Prokurist der Vitos Weilmünster. „Als sich der Verein für ökumenische Tagespflege zurückzog, wurden wir aktiv.“

Einzelne Bausteine wie Pflegesatz, Investitionssumme sowie personelle und sachliche Ausstattung wurden mit Pflegekassen, Medizinischem Dienst und LWV diskutiert. Erst im April 2010 wurde die endgültige Konzeption verabschiedet. Sie sieht ein Team vor, das sich aus examinierten Kranken-, Alten-, und Gesundheitspflegern, Ergo- und Physiotherapeuten sowie einem Sozialdienst zusammensetzt. Bei voller Belegung arbeiten hier 16 Pflegekräfte sowie 2,5 Mitarbeiter im Sozial- und Betreuungsdienst. 70 Prozent der Belegschaft müssen Fachkräfte sein.

Bereits 2009 begann der Umbau von Haus 3 der ehemaligen Neurologie. Keine leichte Aufgabe. Das 110 Jahre alte Gebäude stand seit drei Jahren leer. Und: „Der Krankenhauscharakter musste weg“, sagt Norbert Gelbert. In dem langen Flur wurden Wände entfernt und Nischen geschaffen. „Für uns ist es sehr angenehm, dass alle Versorgungsleitungen in den Zimmern erhalten wurden, aber optisch sehr in den Hintergrund rückten“, erklärt Klaus Günther, leitende Pflegekraft des Pflegezentrums. Warme Farben, Holzfußböden und viel Licht sorgen für behagliche Atmosphäre.
Insgesamt haben Umbau und Ausstattung 850.000 Euro gekostet. „Was jetzt noch fehlt, ist eine Terrasse oder Pergola mit Hochbeeten, damit die Bewohner leicht mit den Pflanzen in Berührung kommen können und somit auch ein Stück Natur erleben“, sagt Gelbert. Der Bauantrag ist bereits gestellt.

Stella Dammbach