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„Die Klinik wird sehr gelobt"

Gerontopsychiatrische Angebote werden aufgrund der demografischen Entwicklung immer wichtiger. Vitos Haina hat auf diesem Gebiet langjährige Erfahrung.

HAINA. Singen ist für Margrit S. wie Loslassen: „Man denkt nicht mehr an zu Hause“, sagt die 70-Jährige mit der kräftigen Altstimme. Seit einer Stunde singt sie alte Volkslieder zur Gitarrenmusik von Pfleger Hartmut Goos. Sein Repertoire kommt auch dementen Patienten entgegen – an die alten Texte erinnern sich fast alle. Nur sein Abschlusslied – Reinhard Meys „Über den Wolken“ – kennen viele nicht. Margrit S. stimmt beim Refrain mit ein.

Die 70-Jährige ist erst seit wenigen Tagen wieder in der Psychiatrie. Dieses Mal ist sie in die Gerontopsychiatrische Abteilung der Vitos Klinik Haina gegangen. „Die Klinik wird sehr gelobt“, erklärt Margrit S.

Am Tag vor ihrer Aufnahme wäre ihr Sohn 40 Jahre alt geworden, erzählt sie. Als er an einer schweren Krankheit starb, war er erst 25 Jahre alt und wollte Arzt werden: „Wenn ein Kind stirbt, ist es noch schlimmer als wenn der Mann stirbt“, sagt Margrit S. Aber erst Jahre später, als der Schwiegervater schwer krank wurde, kam sie in die Psychiatrie. „Er sah so ähnlich aus wie mein Junge kurz vor seinem Tod“, sagt die Seniorin.

In der vergangenen Woche hat sie mit vollen Kaffeetassen nach ihrem Mann geworfen: „Das hatte ich noch nie“, staunt sie. „Die Küche sah vielleicht aus.“ Manisch-depressiv lautet die Diagnose.

Beim Kaffeetrinken in der Klinik kommt sie mit Ilse W. ins Gespräch. Beide stammen aus der Landwirtschaft, erzählen sich von der schweren Arbeit, dem Melken mit der Hand und Sendungen wie „Bauer sucht Frau“. Ilse W. – seit einer Operation hat sie einen phobischen Schwindel und Angstattacken – gefällt es gut in Haina: „Besser als in jeder anderen Klinik, in der ich war“, sagt die 79-Jährige.

Die beiden Frauen gehören zu den 460 Patienten aus dem Kreis Waldeck-Frankenberg und der Schwalm, die jedes Jahr in die Hainaer Gerontopsychiatrie kommen. Vor elf Jahren waren es noch rund ein Drittel weniger. Aufgenommen werden Patienten ab dem 65. Lebensjahr. Aber selbst 98-Jährige wurden schon behandelt. Dass die Zahl der Senioren in der Psychiatrie steigt, hält Stationsarzt Horst Blumenschein für ein Abbild der Altersverteilung der Bevölkerung.

Trotzdem waren die gerontopsychiatrischen Stationen in den 70er Jahren in Haina sogar noch größer. Voll mit Langzeitpatienten, die in Acht-Bett-Zimmern wohnten, erzählt Stationsleiterin Marianne Spiel. Doch seit der Psychiatriereform hat sich das Bild grundlegend verändert. Im Durchschnitt bleiben die Patienten heute nur drei Wochen – in freundlich eingerichteten Zwei-Bett-Zimmern.

„Die meisten fühlen sich wohl bei uns“, sagt Spiel. Auf dem Flur hängen farbige Blumenbilder – von den Patienten selbst gemalt. In der Ergotherapie liegen bunte Wollknäuel, aus denen sie Teppiche weben. Aus der Küche riecht es nach Waffeln. Der Wochenplan zeugt von einer festen Tagesstruktur: Psychotherapie, Patientenrunde, Bewegung, Spaziergänge, Spiele, Andachten und eine „Genussgruppe“ stehen auf dem Programm.
Eine eigene Abteilung für die Senioren ist wichtig. „Sie würden auf den anderen Stationen untergehen“, sagt Spiel: „Der Zeitaufwand für unsere Patienten ist wesentlich höher.“ Die meisten Kranken brauchen nämlich nicht nur psychische Hilfe, sondern Unterstützung beim Waschen, Anziehen und Essen. Und natürlich werden sie bei der Aufnahme gründlicher untersucht: EKG, EEG und Demenz-Diagnostik sind Standard. Jede Woche kommt ein Internist. Untersuchungen bei anderen Fachärzten sind häufig.
Lebenspraktische Fähigkeiten werden beim Wasch- und Anziehtraining, in der Frühstücksgruppe sowie in der Koch- und Backgruppe trainiert. „Viele Gespräche gehören dazu“, sagt Spiel, „oft erzählen die Patienten dann vom Krieg und der Nachkriegszeit.“

„Das sind sehr dankbare Patienten“, sagt Marianne Spiel. Sie freuen sich über die Aufmerksamkeit, die ihnen Pfleger und Therapeuten schenken. Mäkeln über das Essen gebe es bei den Älteren fast nie. Im Gegenteil: Bei Patientenbefragungen wird keine Abteilung so gut bewertet wie die Gerontopsychiatrie. „Das motiviert natürlich“, sagt Spiel. Für die Stationsleiterin sind es „Menschen aus der Region, die ihre Kinder groß gezogen und im Alter eine Depression oder eine Demenz bekommen haben“.
Britta T. steckt in einer mutlosen Phase. Ganz traurig sitzt die 72-Jährige in ihrem Sessel. „Die meisten jammern übers Knie“, sagt sie über die Menschen ihres Alters. „Ich muss dauernd heulen.“ Auch Britta T. hat ihren Sohn verloren. 13 Jahre alt war er damals. Der Junge hatte Leukämie. „Das ist so, als sei das gerade erst passiert. Dabei war es schon in den 80er Jahren“, erklärt die Seniorin. „Das tut so weh. Das kann man gar nicht beschreiben.“

„Wir versichern den Patienten immer wieder, dass es ihnen irgendwann wieder besser gehen wird“, sagt der leitende Arzt Dr. Wilfried Borisch. Dass die Betroffenen das am Anfang meist nicht glauben können, weiß er wohl. Da sei es dann gut, wenn andere aus der Gruppe erzählten: „Vor sechs Wochen, da ging es mir genauso schlecht. Aber jetzt ist es besser. Das kannst du mir glauben.“

Gesa Coordes

 


 

EINSAMKEIT IST DIE GRÖSSTE GEFAHR

Interview mit Dr. Wilfried Borisch, Ltd. Arzt der Gerontopsychiatrie in der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Haina

Werden immer mehr ältere Menschen psychisch krank?
Nein. Studien belegen, dass rund ein Viertel der Menschen über 65 psychische Probleme hat. Diese Zahl ist seit 30 Jahren konstant. Ich denke eher, dass die Sensibilität größer geworden ist. Obwohl es im ländlich strukturierten Waldeck- Frankenberg sicherlich noch eher toleriert wird, wenn jemand im Dorf umherirrt, gibt es auch hier eine größere Bereitschaft, in Behandlung zu gehen. Wir haben aber auch einen guten Ruf. Das spricht sich herum.

Sind alte Menschen besonders suizidgefährdet?
Alte Männer. Bei ihnen gibt es einen deutlichen Anstieg. Sie neigen häufiger zu drastischen Maßnahmen als Frauen.

Ist die Vereinsamung die größte Gefahr?
Ja. Auch im Ländlichen gibt es viele allein lebende Menschen, deren Kinder weit weg sind. Wenn dann noch eine gewisse körperliche Gebrechlichkeit dazukommt, führt das oft zur Vereinsamung. Wer dann nur im eigenen Saft schmort, kommt salopp formuliert auf komische Gedanken. Der wird dann möglicherweise misstrauisch gegenüber anderen Menschen und zieht sich noch mehr zurück.

Gibt es eine typische psychiatrische Erkrankung bei älteren Menschen?
Demenz und Depression. Mehr als die Hälfte unserer Patienten sind auf der geschlossenen Station für Krisenintervention bei Dementen. Die anderen sind auf der offenen Station für geistig unbeeinträchtigte, schwerpunktmäßig depressive Patienten. Dazu kommen ein paar alt gewordene Schizophrene zur Krisenintervention.

Ist denn Demenz ein Grund für einen Aufenthalt in der Psychiatrie?
Nein. Die Patienten kommen nur dann zu uns, wenn sie begleitende Symptome haben, zum Beispiel nicht mehr essen oder halluzinieren. Halluzinationen können als Nebenwirkung von Parkinson- Medikamenten auftreten. Die Leute sehen dann irgendwelche Gestalten, Gespenster, Spinnen oder andere Tiere, vor denen sie sich fürchten. Man kann die Medikamente so einstellen, dass die Gespenster verschwinden. Und man kann durch eine gute emotionale Beziehungsgestaltung zum Abbau von Ängsten beitragen.

Was sind Gründe für Depressionen bei älteren Menschen?
Prinzipiell ähnlich wie bei jüngeren Menschen auch. Biologische Einflüsse, genetische Veranlagung und soziale Einflüsse wie Vereinsamung. Dazu kommen lebensgeschichtliche Ereignisse wie der Tod des Partners, der Kinder oder der ungewollte Umzug ins Altenheim. Da gibt es viele Einflüsse, die dazu beitragen können, dass man den Lebensmut verliert.

Ein Beispiel?
Eine Frau, die jahrelang aufopfernd ihren dementen Ehemann gepflegt hat. Wenn dann der Mann stirbt, sind meist die letzten Kräfte aufgebraucht. Dann kommt die Leere. Menschen, die überall helfen wollen und sich für alles verantwortlich fühlen, sind besonders gefährdet. Wenn dann Aufgaben wegfallen und sie selber nicht mehr so können, kommt der depressive Einbruch.

Was zeichnet die Situation dieser Patienten aus?
Das Schlimme bei der Depression ist die Hoffnungslosigkeit, die ein ganz zentrales Symptom ist. Selbst jemand, der einen ganz üblen Krebs hat, kann noch hoffen. Aber bei der Depression ist die Hoffnungslosigkeit das Wesen. Die Patienten glauben oft auch, selbst schuld an ihrer Krankheit zu sein. Deshalb ist es wichtig, darüber zu informieren, dass Depression eine Krankheit ist. Das entlastet.

Man sagt alten Menschen ja nach, dass sie immer sturer werden. Sind sie überhaupt beweglich genug, um auf eine Behandlung anzusprechen?
In der Regel ja. Eine Depression ist im höheren Alter aber oft hartnäckiger und schwieriger zu behandeln. Die meisten 80-Jährigen haben ja auch körperliche Probleme. Wenn jemand nicht mehr gut laufen kann, beflügelt ihn das nicht gerade, sich sportlich zu betätigen oder irgendwohin zu gehen, wo er Leute treffen könnte. Aber die Aktivierung ist wichtig. Schwierig ist auch, dass man aufgrund der besonderen körperlichen Bedingungen und Begleiterkrankungen mit Antidepressiva vorsichtiger sein und zum Beispiel die Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten bedenken muss.

Wie gut können Sie ihren Patienten helfen?
Zwei Drittel werden gut gebessert. Etwa zehn Prozent muss man als chronisch bezeichnen. Drei Viertel können anschließend auch wieder bei ihrer Familie oder in der eigenen Wohnung leben. Nur 22 Prozent gehen anschließend in ein Heim.

Was raten sie Menschen, die kurz vor ihrem Ruhestand stehen?
Sich darauf zu freuen und schon einige Jahre vorher zu überlegen, was sie mit der freien Zeit machen. Wer Hobbys hat, kann sie ausweiten. Wer immer schon nach Moskau oder London reisen wollte, kann sich das ja fest auf die Agenda für die Rente schreiben. Wichtig ist es auch, die sozialen Kontakte zu erhalten oder sogar auszuweiten. Eine ehrenamtliche Tätigkeit ist auch immer eine gute Sache. Wenn man merkt, dass man gebraucht wird, bleibt das Selbstwertgefühl erhalten.

Das Interview führte Gesa Coordes.