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"Wie ein Sechser im Lotto"

Viktor und seine Pflegeeltern sind seit mehr als einem Jahr eine glückliche Familie

Sie ist eine Mitarbeiterin mit Spezialauftrag: Ruth Seidl vermittelt Kinder mit Behinderung in Pflegefamilien. Eines dieser Kinder ist Viktor, der bei Andreas und Alexandra A. heimisch wurde.

WETTERAU. Zur Begrüßung schenkt uns Viktor ein leicht verschämtes Lächeln. Seine Pflegemutter schüttelt verwundert den Kopf. „Das ist überhaupt nicht selbstverständlich“, sagt sie, während sie vor uns die Treppe hinaufgeht. „Wenn fremde Gesichter in seiner vertrauten Umgebung auftauchen, dann schreit er oft nonstop.“ Heute wirkt er ausgeglichen. Vielleicht liegt es daran, dass Ruth Seidl dem Dreijährigen nicht ganz unbekannt ist. Beim jährlichen Pflegefamilienseminar im November in Herbstein hat Viktor schon bei ihr auf dem Schoß gesessen. Ruth Seidl ist es, die Viktor zu Alexandra und Andreas A. gebracht hat. Sie vermittelt Kinder mit Behinderung, die nicht in ihren Herkunftsfamilien leben können, an Pflegefamilien.

„Für uns ist Viktor wie ein Sechser im Lotto“, sagt Pflegemutter Alexandra A. Sie hat sich dieses Kind gewünscht. Dabei ist der Alltag mit Viktor eher ein Hindernisrennen als ein Erkundungsgang in die Welt. Viktor ist zu früh auf die Welt gekommen. Seine leibliche Mutter war drogen- und alkoholabhängig. Sein Gehirn ist stark geschädigt, die Folge ist eine spastische Lähmung. Viktor hat so große Spannung in Armen und Beinen, dass eine normale motorische Entwicklung gar nicht möglich ist. Seit kurzem kann er zumindest für Momente den Kopf halten. „Mit vier kann er ihn vielleicht richtig kontrollieren“, sagt Frau A. lächelnd. „Man muss sich kleine Ziele stecken. Das ist wichtig.“
Ihr Mann nickt. Er ist Koch und weiß: Wenn er arbeitet, trägt seine Frau die Hauptlast. Sie selbst sieht es offenbar eher als Herausforderung. Frau A. hat eine Fortbildung zum Thema Spastik besucht, um zu lernen, wie sie Viktors krampfartige Haltung lösen kann. „Und am Anfang habe ich ganz viel über den Shunt gelesen, den er im Kopf hat. Weil mir das am meisten Angst gemacht hat.“ Der Shunt ist eine Art Drainage im Gehirn, die dafür sorgt, dass überschüssige Flüssigkeit abfließen kann.
Auch mit den Ärzten nimmt Alexandra A. so manchen Kampf auf. „Wenn wir gewollt hätten, hätten wir das erste Jahr mit Viktor auf der Intensivstation verbringen können.“ Sie zählt auf: Viktor habe einen Magenreflux (d.h. Mageninhalt gelangt in die Speiseröhre), das hätte man operieren können. Sein Shunt liege nicht optimal. Auch das könnte man in einer Operation korrigieren. Und um epileptischen Anfällen vorzubeugen, könnte man einen Schrittmacher einsetzen. Ein Arzt habe Viktor sogar eine Magensonde legen wollen. „Aber ich will, dass er möglichst viele normale sinnliche Erfahrungen macht“, sagt Frau A. „Beim Essen wie bei anderen Dingen. Ich glaube, das bringt ihn in seiner Entwicklung weiter.“
Deshalb geht Frau A. regelmäßig mit ihrem Pflegesohn schwimmen und in den Sandkasten. „Für den Sandkasten musste ich mir einiges einfallen lassen, weil Viktor ja nicht allein sitzen kann.“ Sie nahm einen alten Autositz und brachte eine Halterung sowie eine Art Tablett an. Darauf kann Viktor den Sand jetzt fühlen. Zum Dank sagt er jetzt „Mama“, „Papa“ und „Oma“. Und strahlt seine Pflegeeltern morgens beim Aufwachen an. Das ist dann so ein Moment, in dem Alexandra A. findet, dass Viktor für sie wie ein Sechser im Lotto ist.

Ganz offensichtlich ist sein Wohlergehen für die Pflegeeltern zur Lebensaufgabe geworden. Und sie haben sich dieses Recht regelrecht erkämpft. „Der Gedanke, ein Pflegekind zu uns zu nehmen, ist langsam gewachsen,“ sagt Andreas A. Seine Frau ergänzt: „Ich bin selbst mit Pflegekindern zusammen aufgewachsen. Meine Mutter hat Bereitschaftspflege geleistet und vielen Kindern auf dem Weg zu einer richtigen Pflegefamilie den Heimaufenthalt erspart.“ Unter den Geschwistern auf Zeit waren auch Kinder mit Beeinträchtigungen.
Alexandra A. wurde Erzieherin und arbeitete eine Zeit lang im Heim. „Das fand ich nicht so toll für die Kinder.“ Im integrativen Kindergarten betreute sie Jungen und Mädchen mit zum Teil schweren Behinderungen. Und so wuchs in ihr der Wunsch, Pflegemutter zu werden. Mit Anfang zwanzig haben sie und ihr Mann das erste Mal drüber geredet. In einem Alter, in dem andere davon träumen, die Welt zu bereisen. „Wir sind bisher nicht in den Urlaub gefahren. Das brauchen wir auch jetzt nicht“, sagt Andreas A. nüchtern.

Als der Wunsch, Pflegefamilie zu sein, bei beiden richtig groß geworden war, erzählte ihr eine Freundin von einer Stellenanzeige des LWV in der Frankfurter Rundschau: Kommunalverband sucht Pflegefamilien, stand da. „Bewirb Dich doch“, hatte die Freundin gesagt. Ehepaar A. war einige Monate zuvor in die jetzige Wohnung in einem kleinen Ort in der Wetterau gezogen und hatte genug Platz. Auf ihre erste Bewerbung hin folgte zunächst banges Warten. Ein viertel Jahr später bekamen die beiden eine Einladung nach Darmstadt und stellten sich dort vor. Die südhessischen LWV-Mitarbeiterinnen sind für Pflegefamilien in der Wetterau zuständig. „Die schienen sehr kritisch zu sein. Wir waren denen wohl zu jung.“ Sie waren damals 26 und 29 Jahre alt.

Andreas und Alexandra A. erkundigten sich weiter und besuchten auf eigene Kosten zwei Wochenendseminare für werdende Pflegeeltern von Kindern mit Behinderung in Düsseldorf. Danach rückte die Pflegeelternschaft näher. Zwei Mitarbeiterinnen vom LWV kamen zum Hausbesuch. „Inzwischen konnten sie sich das mit uns offensichtlich vorstellen“, schildert Alexandra A. ihren Eindruck. Und dann kam die Stunde von Viktor und Frau Seidl.
Das Jugendamt hatte sich beim LWV gemeldet. „Die Mitarbeiterin erzählte mir von einem etwa einjährigen Jungen, der in einer Bereitschaftspflegestelle lebte. Sie suchte eine Pflegefamilie, wo der Junge dauerhaft bleiben konnte.“ Ruth Seidl dachte nach und kam auf Andreas und Alexandra A. „Ich lud sie ein nach Kassel.“ Bei der Begegnung zwischen den jungen Pflegeltern und Viktor funkte es sofort. „Das passte einfach“, sagt Frau A. rückblickend. Und daran hat sich bis heute nichts geändert.

Klar wollen sie eigene Kinder, sagen die jungen Eltern. „Das hat zu unserer Familienplanung von Anfang an genauso dazu gehört wie Viktor.“ Die Reihenfolge – erst Pflegekind, dann leibliche Kinder – haben sie mit Bedacht gewählt: „Für die Geschwisterkinder wird das Zusammenleben mit Viktor und seiner Behinderung von Anfang an selbstverständlich sein.“ Und Platz für vier oder fünf Familienmitglieder gebe es auf jeden Fall.

ebo

 


 

HINTERGRUND

LWV BRINGT KINDER IN PFLEGEFAMILIEN

Seit 1976 vermittelt der LWV Kinder mit wesentlicher geistiger und/oder körperlicher Behinderung in Pflegefamilien. „Aufgrund der besonderen Beziehung, die Pflegeltern und Kinder aufbauen, ist eine individuellere Betreuung als im Heim möglich und häufig machen die Kinder Entwicklungsschritte, die so nicht erwartet werden konnten“, sagt Ruth Seidl vom Fachbereich für Menschen mit geistiger Behinderung. „Heute begleiten wir rund 60 Kinder und ihre Pflegefamilien.“
Regelmäßig fahren Ruth Seidl und ihre drei Kolleginnen zu den Familien. Sie beraten die Eltern, hören zu und suchen gemeinsam mit den Pflegeeltern nach Lösungsmöglichkeiten, wenn es Probleme gibt. Manchmal werden die Pflegeeltern auch bei Gesprächen mit Schule oder Kindergarten begleitet. Zur Betreuung gehört die Supervision der Pflegefamilien durch externe Berater. Bis zu 16 Beratungseinheiten im Jahr werden finanziert. Einmal jährlich findet das Pflegefamilienseminar statt; in diesem Jahr zum Thema „Adäquate Verselbstständigung für Menschen mit Behinderungen“ vom 26. bis 29.08.. Während die Pflegeeltern an einer der Arbeitsgruppen teilnehmen, werden die Kinder fachkundig betreut.

Ansprüche
Pflegefamilien für behinderte Kinder und Jugendliche erhalten eine pädagogische Aufwandsentschädigung (derzeit 444,61 Euro) sowie einen Grundbetrag zur Deckung der Kosten des Lebensunterhaltes des Pflegekindes (orientiert am Alter des Kindes aktuell zwischen 473,00 Euro und 628,00 Euro ). Hinzu kommen Leistungen der Pflegekasse (Geld und/oder Sachleistungen) oder die pflegerische Aufwandsentschädigung (derzeit 225,00 Euro) vom LWV. Das Kindergeld wird in voller Höhe an die Pflegefamilie ausgezahlt.

Was sollten Pflegeeltern mitbringen?
Pflegeeltern können Paare oder Einzelpersonen auch ohne professionelle pädagogische Vorbildung werden. „Sie sollten offen und in der Lage sein, sich auf die besonderen Bedürfnisse eines Pflegekindes mit einer wesentlichen Behinderung einzulassen“, sagt Ruth Seidl. „Dabei müssen die Pflegeeltern in gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen leben.“

ebo

Weitere Informationen geben die Mitarbeiterinnen des LWV: In Nordhessen (Kassel) sind sie telefonisch unter 0561 1004-2691 oder -2692, in Südhessen (Darmstadt) unter 06151 801-370 oder -371 zu erreichen.