Logo LWVblog

Bewegende Lebensgeschichten

Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe ist die Zahl der Menschen ohne Dach über dem Kopf in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Am Beispiel Marburg stellen wir vor, welche Unterstützungsangebote es für diese Männer und Frauen gibt.

 


 

BEWEGENDE LEBENSGESCHICHTEN

MARBURG. 250.000 Menschen in Deutschland haben kein Dach über dem Kopf, leben in Gartenhütten oder sind in Gefahr, ihre Wohnung zu verlieren, so die Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Genaue Zahlen gibt es nicht. In Hessen hat der LWV mit verschiedenen Kooperationspartnern in den Städten und Landkreisen Angebote geschaffen, die diese Menschen unterstützen. Rund 27 Millionen Euro wird der LWV in diesem Jahr voraussichtlich dafür bereitstellen.

IM WOHNHEIM EINEN NEUANFANG WAGEN

Im Fernsehen schwimmen bunte Fische durchs Bild. „Das beruhigt“, sagt Dieter Laubsch über seine Aquariums-DVD. Er lässt sie meist den ganzen Tag laufen. Rechts neben der Mattscheibe steht das gerahmte Bild des Rathauses von Melsungen. In der Stadt an der Fulda ist der 67-Jährige geboren. Links lächelt seine Frau Erika von einem Foto. 25 Jahre war er mit ihr verheiratet. Als sie an Krebs starb, kam Dieter Laubsch aus dem Gleis. Seine Arbeit als Schlosser hatte er schon vorher verloren – seine Firma hatte Pleite gemacht. „Ich bin in ein Loch gefallen“, sagt Laubsch.

Rainer Fritsch weiß, wovon sein Klient redet. Er ist selbst Witwer. Das verbindet. Und er kümmert sich seit knapp 30 Jahren im Auftrag des Diakoniezentrums Hephata um wohnungslose Menschen. Dieter Laubsch zählt dabei zu seinen „leichten“ Fällen. Der Schlosser ist ordentlich, kocht gut und hat weder ein Alkohol- noch ein Drogenproblem. Nach dem Tod seiner Frau versuchte er einen neuen Start in Bremen, kam dort jedoch nicht klar. Er verließ die Stadt nur mit einer Reisetasche, zog über Land und strandete schließlich bei der Bahnhofsmission in Bebra. So kam er ins Marburger Übergangswohnheim.

Seit Januar 2011 hat er wieder eine eigene Wohnung. Doch nach wie vor braucht er Unterstützung bei Behördengängen und Arztbesuchen, oft auch beim Einkaufen und beim Erledigen der Post. „In der Vergangenheit hat er in Stresssituationen mehrfach alle Brücken abgebrochen“, sagt Fritsch. Ziel sei zu vermeiden, dass er erneut alles aufgebe. Deshalb wird Dieter Laubsch weiterhin betreut.

Rainer Fritsch schaut jeden Mittwoch nach dem Rechten. Dann hat Laubsch immer schon Kaffee gekocht. Die Tassen stellt er sorgfältig auf Tischdeckchen. Gern zeigt er sein neuestes Verschönerungs-Projekt. In dieser Woche ist es ein kleiner Gummibaum, der die Ecke vor dem Balkon ziert. Seine Wohnung verlässt er nur selten. „Ich bekomme kaum Luft“, sagt der 67-Jährige, der an einer Lungenkrankheit leidet. Dieter Laubsch schwatzt gern und bringt andere mit kleinen Scherzen zum Lachen. „Für mein Alter geht es mir gut“, sagt er.

SCHICKSALSSCHLÄGE
„Schicksalsschläge können jeden treffen“, urteilt Rainer Fritsch. Der 53-jährige Sozialpädagoge aus Schwalmstadt hat den Arbeitsbereich Wohnungslosenhilfe bei Hephata mit aufgebaut. Zunächst in Wiera vor den Toren Treysas, dann zehn Jahre lang in der Niedlingsmühle, einer ehemaligen Gaststätte an der Bundesstraße 3 bei Josbach. „Damals gab es noch viele klassische Nichtsesshafte, die mit langem Mantel, Rucksack und Fläschchen zu Fuß in die Mühle kamen“, erzählt Fritsch. Viele Stammkunden waren darunter, die dort im Winter einen warmen Platz zum Schlafen suchten.

Als die Niedlingsmühle durch einen Brand zerstört wurde, suchte Hephata einen zentraler gelegenen Ort. Seit 1995 ist das vom Landeswohlfahrtsverband finanzierte Wohnheim im gutbürgerlichen Marbacher Weg - nur fünf Minuten von der Elisabethkirche entfernt - untergebracht. Im Volksmund wird es „Männerwohnheim“ genannt. Ärger gibt es selten.

 


 

HINTERGRUND

HILFE ZUR ÜBERWINDUNG
BESONDERER SOZIALER SCHWIERIGKEITEN

In Hessen gibt es 41 Fachberatungsstellen und Tagesaufenthaltsstätten für Nichtsesshafte und alleinstehende Wohnungslose. Deren Arbeit wird zu 87 Prozent vom LWV Hessen finanziert: 2012 wird der LWV hierfür rund 9,9 Millionen Euro bereitstellen.

Die Fachberatungsstellen klären, welche Unterstützung die Menschen brauchen und vermitteln sie an die zuständigen Dienste, Einrichtungen und Leistungsträger. Außerdem werden die Klienten bei Behördengängen, bei der Wohnungsund Arbeitssuche oder bei der Suche nach einem Therapieplatz unterstützt. Dabei kooperieren die Mitarbeiter mit anderen Beratungsstellen.

In Tagesaufenthaltsstätten können sich wohnungslose Männer und Frauen stundenweise ausruhen, essen, duschen und vieles mehr. Oft gibt es Kleiderkammern und den Menschen wird ärztliche Hilfe oder auch psychosoziale Beratung vermittelt.

Daneben finanziert der LWV über 900 Plätze in Wohnheimen und rund 650 Plätze im Rahmen des Betreuten Wohnens. In diesem Jahr wird der Verband dafür voraussichtlich mehr als 17 Millionen Euro aufwenden.

Grundlage für die Leistungen sind Kapitel 8 des Sozialgesetzbuches XII, in dem die „Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten“ geregelt wird, sowie das Hessische Ausführungsgesetz, das diese Leistungen als „Hilfe zur Sesshaftmachung“ bezeichnet.

Die hessischen Kreise und kreisfreien Städte sind für die Existenzsicherung und für ambulante Hilfen zuständig. Sie unterstützen beispielsweise Familien, die ihre Wohnung verlieren und vermitteln ihnen kurzfristig neuen Wohnraum. Daneben finanzieren sie Übernachtungseinrichtungen und Notschlafstellen, in denen Wohnungslose in der kalten Jahreszeit übernachten können.
ebo

 


 

Im Sommer wurden die letzten Doppelzimmer abgeschafft – nur Bäder und Küche werden gemeinsam genutzt. „Dadurch gibt es weniger Konfliktpotenzial“, sagt Fritsch.

Die 20 Plätze sind meist belegt. Schließlich kommen Wohnungslose aus ganz Nordhessen in die Einrichtung, meist über Beratungsstellen und Krankenhäuser, gelegentlich auch über Pfarrer oder die Polizei. Es reicht aber nicht, einfach keine Wohnung zu haben: „Wer sonst kein Problem hat, wird wieder fortgeschickt“, sagt Fritsch.

Die meisten Bewohner im Heim haben große Probleme. Vor allem die Jüngeren – das Durchschnittsalter liegt inzwischen bei 30 Jahren - sind fast alle arbeitslos, ohne Ausbildung und ohne Freunde. Die meisten von ihnen kämpfen mit massiven Suchtproblemen. Im Haus sind Drogen verboten, eine Entgiftungsstation ist das Heim aber nicht. In dem villenartigen Gebäude können die Bewohner ohne die tägliche Sorge ums Obdach zur Ruhe kommen und neue Perspektiven entwickeln.

Etwa ein Drittel der Männer wird weitervermittelt – zum Beispiel in Altenheime oder Fachkliniken. Ein weiteres Drittel kann in eine eigene Wohnung vermittelt werden: Neun Männer leben – wie Dieter Laubsch - im Betreuten Wohnen. Allerdings wird es gerade in einer Stadt wie Marburg von Jahr zu Jahr schwieriger, Wohnungen zu finden. Der Rest geht aus unterschiedlichen Gründen von selbst wieder. „Wir sind für den Übergang da“, erklärt Fritsch. Drei bis sechs Monate blieben die Bewohner in der Regel.

Viele haben bis vor wenigen Monaten noch ganz normal in ihren vier Wänden gelebt und ihren Alltag halbwegs bewältigt. „Dann tauchte plötzlich ein neues Problem auf – die Arbeit, eine Familienkrise oder Schulden – und sie landen auf der Straße“, erzählt Fritsch: „Diese Erfahrung erschreckt zutiefst.“ Dieter Laubsch gehört zu denjenigen, denen zumindest die Parkbank erspart geblieben ist. Er hat rechtzeitig um Hilfe nachgefragt. „Ich bin froh, dass es solche Einrichtungen gibt“, sagt er.

Rainer Fritsch macht die Arbeit auch nach knapp 30 Jahren immer noch gern. „Das sind Menschen mit bewegenden Lebensgeschichten“, sagt der Sozialpädagoge, der manchen Stammkunden bis zum letzten Atemzug begleitet hat. Und er hat im Laufe der Jahre gelernt, die Maßstäbe nicht zu hoch zu setzen: „Wenn sich jemand einen Winter lang bei uns ausruhen kann, ist das auch etwas wert.“
Gesa Coordes


 

DIE TAGESAUFENTHALTSSTÄTTE

Wenn Sozialarbeiter Jens Schneider morgens die Tagesaufenthaltsstätte (TAS) öffnet, warten schon sechs Besucher vor der Tür. Ein junger Mann setzt sich sofort an den Computer, um eine Mail zu verschicken. Ein anderer startet noch schnell eine Waschmaschine, bevor er sich ein Frühstück zusammenstellt. Liebevoll häuft er Paprikastreifen mit Krautsalat neben Broten, die er mit Griebenschmalz und Wurst belegt. Dazu liest er die ausgelegte Tageszeitung. Ihm gegenüber wärmt sich eine Frau die Hände am Milchkaffee. Die 32-Jährige kommt seit elf Jahren jeden Morgen zum Frühstück in die Aufenthaltsstätte. „Man kann sich hier nett mit Leuten unterhalten“, sagt sie: „Hier ist man sicher. Hier gibt es keine Gewalt.“

Das günstige Essen in freundlicher Atmosphäre ist sehr wichtig für die Menschen, die die Tagesaufenthaltsstätte des Diakonischen Werks Oberhessen in Marburg aufsuchen. Frühstück, Kuchen und Tee gibt es umsonst, das Mittagessen kostet einen Euro, der Kaffee zehn Cent. 40 bis 75 Männer und Frauen kommen jeden Tag in die Räume in der Gisselberger Straße. Je länger der Monat dauert, um so mehr werden es. Es sind Menschen, die „Platte machen“, Menschen, die in einer Gartenlaube oder einem Bauwagen wohnen, deren Unterkunft also ungesichert ist, und Menschen, die von Wohnungslosigkeit bedroht sind, etwa weil sie keinen eigenen Mietvertrag haben. Es sind Menschen mit einer psychischen oder einer Abhängigkeitserkrankung, aber auch Hartz-IV-Empfänger, Rentner und in Marburg Gestrandete. Selbst Ex-Manager und Leute mit Doktortitel sind dabei. Immer häufiger kommen ehemalige Soldaten, die sich von den Schrecken im Kosovo, in Somalia, in der russischen Armee oder in der Fremdenlegion nicht wieder erholt haben.

Mittags um 13 Uhr: Fast alle Tische sind belegt. Auf den Tellern dampft Kartoffelbrei mit Leberkäse. Dazu gibt es Salat. „Die Köchin kocht sehr gut“, sagt ein Besucher. Auch seine Nachbarn loben die Hausmannskost. „Ich komme vor allem, um günstig zu essen“, sagt ein ehemaliger Fahrer. Ein anderer hat 15 Euro Flaschenpfand eingesammelt. In der Tagesaufenthaltsstätte kann er davon zwei Wochen lang essen. „Wenn es so etwas wie hier nicht gäbe, würden wir alle auf der Straße sitzen“, sagt sein Nachbar.

Seit knapp 20 Jahren gibt es die Einrichtung neben dem Marburger Fußballstadion. Sechsmal in der Woche von 11 bis 15.30 Uhr können die Menschen hier essen, sich wärmen und Mitarbeiter erleben, die sich ihnen zuwenden. "Eigentlich sind wir Krisenmanager“, erklärt Sozialarbeiterin Beatrice Rösner: „Manchmal bieten wir den einzigen geordneten Rahmen, den sie haben.“

In der Fachberatungsstelle, die sich im selben Haus befindet, hilft sie einem 25-jährigen Drogenabhängigen ohne Wohnung, der gerade in einer Klinik behandelt wird. Jetzt braucht er eine Postadresse, um einen Antrag auf Arbeitslosengeld II stellen zu können. Sie richtet für ihn eine Adresse in der Fachberatungsstelle ein. „Viele kommen für eine Zeit, um sich neu zu organisieren“, sagt Rösner: „Unser Ziel ist es, dass sie sich stabilisieren.“ Obgleich die meisten zwischen 20 und 40 Jahre alt sind, sind Arbeitsstellen für sie in weiter Ferne.

Am Nachmittag gruppiert sich eine Gruppe um das Kreuzworträtsel der Tageszeitung: Zu fünft finden sie fast jedes Wort. zen. Nebenan im Raucherraum kloppen vier Männer Skat.

Stolz ist die Einrichtung darauf, dass mit einem Drittel auch relativ viele Frauen kommen. Fast den ganzen Tag ist Sieglinde D. anzutreffen. Die 60-Jährige hat ihre Wohnung durch Mietschulden verloren. Ihre neue Unterkunft ist halb verschimmelt, erzählt sie. Neben ihr steht ein hellblauer Schulranzen mit Gänseblümchen. „Da habe ich meine Malbücher drin“, sagt sie verschmitzt und zeigt in Klarsichtfolie eingepackte Tierbilder. Die malt sie hier säuberlich aus. Bei einem Stück Kuchen unterhält sie sich mit Jutta H. die von einer viel zu knappen Rente lebt. Viele Jahre hat sie gearbeitet, wurde dann aber krank: „Das Leben kann manchmal abstürzen“, sagt H.

Jeder zweite Besucher könne über sein Leben ein Buch schreiben, sagen die Mitarbeiter. Sie freuen sich, wenn die Menschen Vertrauen schöpfen und von sich erzählen: „Sie suchen auch Gesprächspartner“, weiß Schneider. Manche nutzen dann auch andere Angebote: Die Wohn- und Sozialberatung, die Medizinsprechstunde oder die Waschmaschine. Einmal im Monat kommt eine Friseurin. „Das könnte ich sonst nicht bezahlen“, sagt ein gepflegt aussehender Besucher. Im Keller kann geduscht und nach frischen Kleidern gesucht werden. Dazu geben die Mitarbeiter Körbchen mit Handtüchern, Seife und Shampoo aus. Manchmal geht dann auch jemand duschen, der darauf monatelang verzichtet hat, erzählt Schneider. Neulich hatte er so einen Fall. Anschließend habe der Mann begeistert berichtet, dass es eigentlich gar nicht so schwierig gewesen sei. „Wir bieten einen Raum für Menschenwürde“, sagt Schneider.
Gesa Coordes

 


 

MEDIZINISCHE SPRECHSTUNDE
HILFE OHNE VERSICHERTENKARTE

 

Seit 2006 gibt es die medizinische Sprechstunde in der Tagesaufenthaltsstätte für Wohnungslose in Marburg: „Damals hatten wir immer wieder Ältere mit schweren Krankheiten“, sagt die Leiterin der Einrichtung, Hanna Jung. Zum Arzt gingen die Betroffenen aber nicht. Manche waren nicht versichert, für andere war die Praxisgebühr zu hoch, manche trauten sich einfach nicht: „Die Hemmschwellen sind nach wie vor hoch“, weiß Jung. Deshalb wurde die Sprechstunde in der vertrauten Umgebung eingerichtet – ein ungewöhnliches Angebot für eine Stadt von der Größe Marburgs. Das Arztzimmer wurde durch Benefizkonzerte und Spenden finanziert. Allgemeinmedizinerin Anne Marie Krehbiel und ihre Kollegin Gerda Nassauer arbeiten umsonst. Sie kommen zweimal im Monat.

Gleich ihren ersten Patienten kannte Krehbiel noch aus dem Studium. Ein anderer ist promoviert. „Vor allem bei Psychosen kann man schnell abrutschen“, hat die Ärztin beobachtet, die seit 29 Jahren in Stadtallendorf praktiziert. Die Menschen in der Tagesaufenthaltsstätte seien kränker als sie dachte, erzählt Krehbiel. Einem Mann mit offenen Beinen konnte sie nur helfen, indem ein Krankenpfleger gefunden wurde, der in der Einrichtung regelmäßig die Verbände wechselte. Ansonsten behandelt sie viele internistische und psychische Erkrankungen, kümmert sich um Pilze, Ekzeme und Platzwunden. Knapp ein Drittel ihrer Patienten ist nicht versichert, schätzt Krehbiel. Problematisch sei dies vor allem, wenn sie regelmäßig Medikamente benötigten. Dann müsse sie sich mit Ärztemustern behelfen. Nach ihrer Einschätzung ist nicht der Alkohol das größte Problem ihrer Patienten: Das seien psychische Erkrankungen.
gec