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Den Rücken frei fürs Studium

In einem Wohnheim für Studenten leben Menschen mit und ohne Behinderung zusammen. So klappt Inklusion gut.

 


  

Im Konrad-Biesalski-Haus wohnen junge Menschen mit und ohne Behinderung zusammen

MARBURG. Manchmal macht Johannes Koßler sich einen Spaß mit den Pflegern und trägt sich für 9.23 Uhr in die Weckliste des Konrad-Biesalski-Hauses ein. Schließlich will der Informatiker keine Zahl diskriminieren, erklärt er lächelnd. Und dann erscheinen die Pflegekräfte exakt um 9.23 Uhr, um den Rollifahrer aus dem Bett zu heben und auf den Tag vorzubereiten. Der 22-Jährige, der seine Gliedmaßen kaum noch bewegen kann, wohnt seit vier Jahren in dem bundesweit einmaligen Wohnheim für schwer körperbehinderte Studierende in Marburg. “

Koßlers Wohnheim-Nachbarin Anna Sieber nimmt sich gern Zeit für das Anziehen. Heute hat sie sich für die rosafarbene Tunika mit dem passenden Schal entschieden. Eine Pflegerin flicht ihr ein Zöpfchen in die dunklen Locken. Manchmal muss es auch eine Hochsteckfrisur sein. „Die Assistenten machen das wirklich genauso, wie wir das möchten“, staunt die 23-Jährige.

Als sie in die Küche rollt, wird ein eigenwilliges Gemisch aus Deutsch und Englisch am unterfahrbaren Frühstückstisch gesprochen – dem syrischen Studenten Muhjeh Ramez und seiner Kommilitonin Rasha Osko fehlen noch viele deutsche Vokabeln.

Doch Anna liebt die englische Sprache, die sie fließend spricht. Die junge Frau erzählt von ihrer ersten großen Reise, die ins irische Dublin führte. Die Syrer erzählen von gesundem deutschen Essen und Bandwurmwörtern. Dass ein Drittel der Bewohner des Konrad-Biesalski-Hauses schwer behindert ist, registrieren sie gar nicht mehr, sagen sie.

Rühreier, Schafskäse und Oliven sind angerichtet. Anna Sieber wird selbstverständlich eingeladen. „Wir haben hier echtes Studentenleben“, sagt die 23-Jährige, die an einer spastischen Tetraplegie leidet.

Einmal im Monat wird eine Party gefeiert: „Meine Längste ging bis 4.30 Uhr“, berichtet Sieber lachend.

Dass die Studierenden manchmal ausgiebig feiern und zechen, stört die stellvertretende Pflegedienstleiterin Annegret Bader wenig: „Das ist genauso wie im richtigen Leben“, sagt sie. Ihr geht es um Normalität für die Studierenden mit Behinderung: „Wir sind ihre verlängerten Arme und Beine, manchmal auch die Stimme.“ Rund um die Uhr ist ein Team von Pflegekräften und Aushilfen im Einsatz. Die Mitarbeiter helfen den Körperbehinderten bei der alltäglichen Pflege, aber auch beim Kochen, Essen oder beim Gang zum Friseur. Dazu gibt es Krankengymnastik und einen Fahrdienst, der die Studierenden sowohl in die Universität als auch zu Freunden, in die Kneipe oder ins Kino fährt. Von den Decken hängen Seile, mit denen sich die Türen elektronisch öffnen lassen. Tische und Herde lassen sich unterfahren. Bader mag ihre Tätigkeit sehr: „Wir haben es hier mit hochinteressanten jungen Menschen zu tun“, sagt die Fachfrau.

Johannes Koßler hat ein Faible für Mathematik und Informatik. Mit einem Abi-Notenschnitt von 1,3 ist er an die Universität gekommen. Sein Elektrorollstuhl passe gerade so in den Aufzug zum Informatik-Fachbereich, sagt er lächelnd.

Zum Glück. Vor wenigen Wochen hat er seine Bachelor-Arbeit abgegeben. Nach dem Master würde er gern an der Universität bleiben oder als Software-Entwickler arbeiten: „Wenn ich dem Computer irgendwas sage, ist er einigermaßen berechenbar“, erklärt der junge Mann. Allerdings müsse er gelegentlich aufpassen, damit er nicht den ganzen Tag davor hängen bleibe.

Dann fährt der 22-Jährige in den fünften Stock, wo es einen Ausgang in den am Schlossberg gelegenen Garten gibt. An der alten Stadtmauer unterhalb des Bettinaturmes sitzt er gern unter dem Nussbaum und schmökert Science-Fiction-Romane oder Krimis: „Ich bin gern an der frischen Luft“, sagt Koßler. Zudem kommt der zurückhaltende junge Mann dort manchmal mit den anderen Wohnheim-Bewohnern ins Gespräch.

 

BEISPIEL FÜR INKLUSION

Im Konrad-Biesalski-Haus wohnen Studierende mit und ohne Behinderung Tür an Tür zusammen. Es entspricht dem Konzept des Heims, dass immer nur ein Drittel der 80 Bewohner behindert ist, erklärt Hans-Peter Hardt vom Studentenwerk Marburg: „Wir wollen den integrativen Charakter erhalten.“ Finanziert wird das Angebot für die hessischen Studierenden vom Landeswohlfahrtsverband. Kürzlich wurde das Wohnheim von der Bundesregierung als Beispiel für Inklusion geehrt.

Schon vor mehr als 40 Jahren wurde das Konrad-Biesalski- Haus auf Initiative des damaligen Direktors der Orthopädischen Uni-Klinik gegründet. Der heutige Behindertebeauftragte der Hochschule gehörte zu den ersten Bewohnern. Für Clemens Schwan, der seit einem unverschuldeten Autounfall querschnittsgelähmt ist, wurde das Heim zum „Sprungbrett ins Leben“. Seitdem haben Hunderte von Menschen mit Behinderungen von der Einrichtung profitiert. Fast alle schafften den Studienabschluss.

Einer von ihnen ist Dr. Andreas Jürgens, seit Mai Erster Beigeordneter des LWV und neben anderen Aufgaben zuständig für die Eingliederungshilfe. „Mein Zwillingsbruder und ich hatten einen Fernsehbericht über das Biesalski-Haus gesehen. Wir waren in der elften Klasse und sind bald danach nach Marburg gefahren, um uns das Haus anzuschauen.“ Sie haben sich gleich angemeldet. Später, nach Jura-Studium und Referendariat, kamen beide nach Kassel.

Jetzt, mehr als dreißig Jahre später, kehrt Jürgens erstmals hierhin zurück. „Die Briefkastenanlage ist unverändert, oder?“, fragt er Hans-Peter Hardt, als er in den Hausflur rollt. Hardt bestätigt es lächelnd. Nach einem Gespräch mit den Studenten drängt er zur Zimmerbesichtigung. „Sie sind heute fast doppelt so groß, und die Badezimmer sind viel geräumiger“, zeigt der Mitarbeiter des Studentenwerks. Unerlässlich für Bewohner wie Johannes Koßler, die auf den Elektro-Rollstuhl angewiesen sind.

 

BELIEBTE ADRESSE

Probleme zwischen Rollifahrern und „Fußgängern“, wie sie hier heißen, gibt es fast nie. „Das Haus ist total beliebt“, sagt Hans-Peter Hardt. Von dem Wohnheim mitten in der Oberstadt profitieren nämlich auch die nicht behinderten Studierenden. Jedes der zwischen 14 und 28 Quadratmeter großen Appartements hat eine eigene Toilette, eine Dusche, Telefon, Internet, Fernsehanschluss und mit etwas Glück sogar die Aussicht über die ganze Stadt.

Einige Studierende arbeiten nebenbei als Aushilfen im Pflegedienst. Aber oft ergeben sich auch ganz selbstverständliche Freundschaften. So geht Muhjeh Ramez regelmäßig mit seinem Nachbarn einkaufen. Anna Sieber diskutiert mit einem Politikwissenschaftler über Platon und Gedichte. Zu ihrem Geburtstag hat sie 25 Leute eingeladen.

Jeden Montagabend bringt sie der Fahrdienst zur Fachschaftssitzung. Dort engagiert sich die Pädagogikstudentin schon seit dem zweiten Semester, organisiert Bildungsfeste und Institutstage. Auch die Professoren und die Kommilitonen gingen ganz normal mit ihr um, erzählt sie.

Die 23-Jährige weiß gut, was sie am Konrad-Biesalski-Haus hat. Die aus Koblenz stammende Pädagogikstudentin war auf fünf verschiedenen Schulen, bevor sie endlich ihr Abitur machen konnte. „Das ist hier die große Freiheit“, sagt sie. Bevormundung gebe es nicht. „Hier fühle ich mich als normale Studentin. Ich kriege nur da Unterstützung, wo ich Hilfe brauche“, sagt Sieber. „Und habe den Rücken frei fürs Studium.“

Die lila Rutsche, die sich neben der Treppe durch die fünf Stockwerke des Konrad-Biesalski-Hauses windet, braucht sie nicht. Sie ist vor allem eine Gaudi für die nicht behinderten Studierenden. Oft klingeln sogar Kinder aus der Nachbarschaft, um auf dem „grandiosen Spielgerät“ herunter zu schlittern. Aber eigentlich dient die eigenwillige Konstruktion dazu, dass auf Rollstühle angewiesene Bewohner bei einem Brand oder anderen Notfällen schnell aus den oberen Etagen nach unten gelangen. Nötig war sie glücklicherweise noch nicht.

Gesa Coordes