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Ein Vizemeister ohne Allüren

Björn Stender ist 1 Meter 57 und ein sehr guter Leichtathlet: Er gehört zum Kader des Hessischen Behinderten- und Rehabilitationssportverbandes. Seine sportlichen Erfolge spornen ihn an.

 


 

HEUSENSTAMM. Fast wirkt es wie ein Pas de deux am Rande der Aschenbahn: Björn Stender steht in Schrittstellung, das rechte Bein nach hinten gestreckt, den rechten Arm mit dem Speer seitlich oberhalb des Kopfes. Die Speerspitze zeigt schräg nach oben in den tiefblauen Himmel, der sich über dem weitläufigen Trainingsgelände des TV Heusenstamm wölbt.

 

Der Oberkörper des 23-Jährigen mit Down-Syndrom ist nach hinten gebogen. Frank Ludwig, Trainer des Leichtathletik-Kaders des Hessischen Behinderten- und Rehabilitationssportverbandes (HBRS), beugt sich über den 1,57 Meter großen Athleten. Mit seiner linken Hand drückt der Trainer den Schaft des Speeres so weit nach unten, wie es für einen technisch guten Wurf nötig ist. Ludwigs Hüfte leistet dem Becken des Sportlers Widerstand, versucht so, es in die optimale Position zu drücken. Es ist Kadertraining, wofür Björn eigens aus Wiesbaden nach Heusenstamm gekommen ist – mit seiner Mutter Susanne Bolfraß, die ihn zu diesen Trainingsterminen und zu Wettkämpfen begleitet.

„Das schafft er nicht alleine“, erläutert sie. Dabei ist dem Idsteiner Eigenständigkeit so wichtig. „Bis vor zwei Jahren hat er noch bei uns in Idstein gelebt, aber er wollte unbedingt in eine betreute Wohngemeinschaft“, erzählt Susanne Bolfraß. Nun teilt er sich eine Wohnung mit einer 27 Jahre alten Frau mit Down-Syndrom. „Ich arbeite in der Werkstatt für Behinderte in Biebrich, verdiene mein Geld mit Reinigungsarbeiten und lebe mein Leben“, sagt Björn Stender. Und er fügt hinzu: „In der WG kommen regelmäßig Betreuer vorbei, die mit uns einkaufen gehen, uns zu Ämtern oder zu Ärzten begleiten.“ Hilfestellung für ein eigenständiges Leben, die vom Landeswohlfahrtsverband (LWV) Hessen ebenso finanziert wird wie die Betreuung am Arbeitsplatz.

In Wiesbaden trainiert Stender, einer der erfolgreichsten Amateursportler mit Down-Syndrom, in einem Leichtathletik-Verein gemeinsam mit Athleten ohne Handicap. „Auch dort ist er voll integriert. Die anderen haben Respekt vor seinen Leistungen“, betont Björns Mutter. Sport gehört für den amtierenden deutschen Vize-Meister in der 4x100-Meter-Staffel der offenen Klasse, in der behinderte Sportler unterschiedlicher Handicap- Klassifizierungen gemeinsam starten, zum Leben seit er laufen kann. Das stärkt sein Selbstvertrauen. „Björn hat seinen eigenen Kopf und tut sich manchmal schwer in der Gemeinschaft. Aber er hat große Fortschritte gemacht, ist in den Kader gut integriert und wir haben neben all der Leistung, die uns natürlich auch wichtig ist, unseren Spaß miteinander“, unterstreicht sein Trainer.

Der Sport beschert dem 23-Jährigen Erfolge, lehrt ihn, sich durchzubeißen. Auch deshalb ist dem ambitionierten Leichtathleten der Wettkampf so wichtig. Auch deshalb haben er und seine Mutter sich gleich zu Beginn des Trainings intensiv mit dem Trainer beraten. „Mein linkes Knie macht mir zurzeit Sorge, weil es bei Belastung weh tut“, erläutert Björn. „Inzwischen haben wir wenigstens eine Diagnose. Aber wir wissen noch nicht, ob operiert werden muss – und wie das mit den Wettkämpfen in dieser Saison wird“, sagt Susanne Bolfraß

„Wir haben mit dem üblichen Mutter-Kind-Turnen angefangen. Danach hat er alles Mögliche ausprobiert, natürlich wie alle Jungs auch Fußball“, schildert Björns Mutter die Anfänge. Doch hier funktionierte das Miteinander zwischen behinderten und nicht behinderten Kindern nicht. Im Baseball war das anders. Dort wurde er für seine Kondition und Schnelligkeit gelobt, für seine Schlagkraft anerkannt. „Aber wir suchten auch eine Einzelsportart – und landeten bei der Leichtathletik“, fügt die brünette Frau lächelnd hinzu.

Beim Aufwärmen zeigt sich, dass das Laufen dem ambitionierten Sprinter trotz Knieverletzung keine Probleme bereitet. Auch das Dehnen funktioniert. Nun teilt sich die Gruppe der körperlich und geistig behinderten Sportler auf: Einige üben Speerwurf, andere Diskuswerfen, Björn soll mit zwei weiteren aus dem Team und Co-Trainerin Anja Ricker zur Sprunggrube. Er schaut skeptisch, aber Frank Ludwig redet ihm gut zu. Als sein Schützling mit dem frechen Kurzhaarschnitt hilfesuchend zu seiner Mutter blickt, stellt sein Trainer sich ihm Auge in Auge gegenüber, legt ihm die Arme auf die Schulter und sagt ruhig: „Hier kannst du ausprobieren, ob es funktioniert, musst nicht mit vollem Schwung und deshalb auch nicht mit der vollen Belastung springen. Und wenn es nicht geht, kannst du sofort aufhören.“ Schließlich nickt der 23-Jährige, probiert es, einmal, zweimal. Beim dritten Versuch verzieht er das Gesicht, humpelt leicht, als er zum Anlaufpunkt zurückgeht.

Anfangs war das Kräftemessen ein ungleicher Kampf: Er konnte nicht mithalten mit den nicht behinderten Sportlern seiner Altersklasse: Sie waren größer, hatten längere Beine – und somit waren sie schneller, sprangen und warfen weiter. „2003 haben wir erstmals an einem Wettkampf für behinderte Sportler teilgenommen. Er wurde sofort Erster“, sagt Susanne Bolfraß lachend, ehe sie besorgt zu ihrem humpelnden Sohn hinüberschaut. Nach dem fünften Versuch gibt er für heute auf. „Ich geh zum Speerwurf, vielleicht tut das ja nicht so weh“, erklärt er und geht in weitem Bogen um die Football-Spieler im Grundschulalter herum, die auf dem Rasenplatz trainieren.

Die Erfolge, die er im Sport feiert, spornen ihn auch in anderen Lebensbereichen an. So möchte er unbedingt Koch werden, außerhalb der Werkstatt für Behinderte arbeiten. „Ich fühle mich dort zwar wohl und komme auch mit den anderen gut klar, trotzdem ist das mein Traum“, erzählt Björn. Deshalb hat er bereits an einem Bewerbungstraining teilgenommen und verschiedene Praktika absolviert. Er lässt sich von Fehlschlägen nicht entmutigen, wagt immer wieder einen neuen Anlauf.

In dieser Woche steht noch ein Wettkampf an. Björn ist gemeldet für die Sprintstrecken, Speerwerfen, den Staffellauf und Weitsprung. Er lässt den Blick schweifen und grüßt lächelnd „den großen Björn“, seinen Staffel-Partner, der sich heute verspätet hat. „Das Staffel-Training können wir heute vergessen, dafür ist zu viel Betrieb“, sagt der „kleine Björn“ und schnappt sich einen Speer. Der fliegt weit, kommt jedoch nicht mit der Spitze auf. Frank Ludwig erklärt die Technik, demonstriert die Haltungsfehler, die zu den Fehlversuchen führen. Björn beobachtet die wedelnden Armbewegungen seines Trainers, grinst breit, nimmt erneut Anlauf. Wieder ein weiter Wurf – wieder ungültig. Er schaut zu seiner Mutter, zuckt mit den Schultern – und grinst noch ein wenig breiter: „Heute wird das wohl nix mehr.“ Nun gehen sie zu zweit ans Werk, Trainer und Speerwerfer.

„Speerwerfen erfordert ein hohes Maß körperlicher Koordination. Der Anlauf, die Armbewegung, die Drehung aus der Hüfte, all das muss stimmen. Auch hier hat Björn unglaubliche Fortschritte gemacht“, sagt Frank Ludwig. Auch wenn die Versuche heute allesamt ungültig sind, lachen sie, reden, gestikulieren. Wer das so sieht, fragt sich unwillkürlich, ob es außer Sport noch etwas gibt, was dem Vizemeister so viel Freude macht. Björn Stender lächelt amüsiert, in seinen Augen blitzt es: „Och, ein bisschen gibt es da schon. Ich spiele Theater beim Theater anders in Wiesbaden, zuletzt einen Bankräuber. Ich spiele Gitarre und tanze gerne. Passt zum Speerwerfen, das sah doch eben aus wie Ballett.“

Der Wettkampf kann kommen. Der quirlige Blondschopf wird starten, nur nicht beim Weitsprung. Und seine WG-Mitbewohnerin wird zuschauen. „Sonst sitzt sie allein zu Hause, das ist nicht gut“, überlegt Björn.

 

Stella Dammbach