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Der richtige Platz

Zunächst war das Begleitete Wohnen in Familien als neue Lebensform für Langzeitpatienten der Psychiatrie gedacht. Inzwischen haben auch geistig behinderte Männer und Frauen Gastfamilien gefunden. Mehr als 170 Menschen nutzen diese ganz individuelle Betreuungsform. Ein Beitrag zur Inklusion.

 


 

BATTENHAUSEN/OBER-GRENZEBACH. „Wollt Ihr AUCH in meine Privatsphäre?“, fragt Mirko Grabbert skeptisch. Auf Nachfrage wird klar: Er meint sein Zimmer. Offenbar ist ihm dieser Rückzugspunkt ganz besonders wichtig. Seit fast drei Jahren lebt der 26-jährige Mann bei Familie Sprenger auf einem Hof in Haina-Battenhausen. Mirko Grabbert ist geistig behindert und einer von 176 Menschen in Hessen, die vom Begleiteten Wohnen in Familien profitieren. Dieses Unterstützungsmodell sichert ihm Geborgenheit, Rückzugsmöglichkeit und Austausch. Kurz: Normalität.

Er ist in Thüringen geboren. Nach der Trennung der Eltern kam er in den Westen. Warum und wie? Da bleibt er einsilbig. Aber dann plappert er munter drauflos. Bevor er zu Familie Sprenger kam, lebte er in Bad Wildungen in einer Wohneinrichtung. Dort habe es ihm nicht gefallen, sagt er. „Ich habe Alkohol getrunken und Mist gebaut“, erzählt er. „Einmal bin ich abgehauen.“ Bis nach Düsseldorf ist er gekommen. Mit dem Zug und ohne Fahrkarte.

Auf dem Hof in Battenhausen hat er alle Möglichkeiten: Sich unterhalten in der Küche, abends zusammen fernsehen. „GZSZ und Tag und Nacht in Berlin“, schwärmt er. Und er kann sich jederzeit zurückziehen, um mit seinen geliebten Playmobil-Teilen zu spielen oder seine Flaggenbücher anzuschauen. Sein Zimmer liegt in einem separaten Haus, das Bad teilt sich der junge Mann mit einem zweiten Mitbewohner: Andreas Schäfer ist 37, ebenfalls geistig behindert und schon seit 2008 bei Familie Sprenger.

 

RESPEKT VOREINANDER

Die Beiden sind gegensätzlich, wie sie kaum gegensätzlicher sein könnten. Mirko Grabbert ist zierlich, Andreas Schäfer ein Hüne. Mirko Grabbert erzählt viel und gern, besonders nach der Arbeit ist sein Mitteilungsbedürfnis groß. Andreas Schäfer ist ausgesprochen schweigsam. Wenn er von der Firma kommt, bei der er tagsüber Bürsten verpackt, will er ganz in Ruhe Kaffee trinken und Zeitung lesen. Oder er fegt den Hof. „Beide respektieren sich“, sagt Elke Sprenger.

Andreas Schäfer hat lange bei seiner Familie auf einem Hof in Röddenau gelebt. Als die Eltern starben, fiel es dem Bruder schwer, ihn zu versorgen. Und in eine Wohneinrichtung, das war für Andreas Schäfer von Anfang an klar, wollte er nicht. Die Sprengers hatten eine Anzeige der Lebenshilfe in der Zeitung gelesen: Gesucht wurden Familien, die geistig behinderte Menschen aufnehmen. „Ich habe meine Eltern gepflegt“, sagt Elke Sprenger. Als sie starben, war das Haus leerer.

Tochter Stephanie lebt auf dem Hof. Aber tagsüber arbeitet sie als Krankenpflegerin.

So kam eine neue Familie zusammen. „Sie sind hier gut versorgt“, sagt Elke Sprenger. „Es ist immer jemand da.“ Zum Reden und Bemuttern. Und morgens helfen Helmut und Elke Sprenger den beiden Männern, pünktlich aufzustehen und zur Arbeit zu gehen. Elke Radloff von der Lebenshilfe kommt in der Regel zweimal im Monat, manchmal auch häufiger. Sie überzeugt sich, dass alle Beteiligten mit der Lebenssituation zufrieden sind und führt Einzelgespräche. Bei Konflikten vermittelt sie.

 

SEIT 1997

Das Begleitete Wohnen in Familien hat der LWV Hessen 1997 ins Leben gerufen. Zunächst als Modellprojekt unter dem Namen Psychiatrische Familienpflege. Es war ein Angebot für dauerhaft psychisch kranke Menschen, die in den Psychiatrischen Krankenhäusern in Bad Emstal im Norden und auf dem Eichberg im Rheingau lebten. Enthospitalisierung war das Ziel. In der Praxis entwickelte sich dieses Angebot langsam, aber stetig. Die Familien bekommen heute ein Betreuungsgeld von 391,20 Euro vom LWV und einen Betrag, der dem Pflegegeld bei Pflegestufe 1 entspricht. Das zahlt die Pflegeversicherung oder der LWV.

Wie Mirko Grabbert und Andreas Schäfer hat auch Franz-Josef Biermann bei einer Familie ein neues Zuhause gefunden. Er ist 47 und seit März lebt er bei Peter und Jasmin Wölflick in Ober-Grenzebach. Die Wölflicks kommen aus Frankfurt und haben sich in Nordhessen den Traum von einem eigenen Haus auf dem Land mit vielen Tieren verwirklicht. Da ist genug Platz. Franz-Josef Biermann kam zunächst nur kurz: Seine eigentliche Gastfamilie wollte Urlaub machen und da zog er für diese Zeit nach Ober-Grenzebach. Mit den Wölflicks verstand er sich so gut, dass er gern bleiben wollte. Noch ein zweites Mal kam er, zum Probewohnen, dann war sein Entschluss klar. Er zog um. „Mit Tieren“, sagt er, „das gibt mir mehr“. Schon als kleines Kind war er immer bei Großvater und Onkel auf dem Hof.

In Ober-Grenzebach kann er das Leben mit Tieren auskosten. Sechs Lämmer, ein Rind, das Pferd Johnny, einige Hühner, Hasen, Bienen und zwei Hunde gibt es bei den Wölflicks. „Hasi“ ist Biermanns Tier. Aber auch die Lämmer haben es ihm angetan: Schnell bereitet ihm Jasmin Wölflick die Flaschen vor, mit denen er die Jüngsten, „Doris“ und „Hank“, füttern geht.

 

PERSPEKTIVEN ERARBEITEN

Franz-Josef Biermann hat eine schwere Geschichte. Er war fünf, als die Mutter starb, da kam er zu einer Pflegefamilie. Als Heranwachsender kehrte er kurzzeitig zum Vater und dessen neuer Frau zurück. „Die hat mir Valium gegeben, weil ich sie störte“, erzählt er. Der Vater hat ihn geschlagen. Er kommt in die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Später macht er eine Ausbildung als Kfz-Schlosser. Doch dann hat er einen Unfall, bricht sich Füße und Beine und kommt bei der Arbeit nicht mehr klar. „Dann habe ich getrunken und Drogen genommen“, sagt er, „und musste aufhören als Schlosser.“ Danach kam eine Therapie, er wohnte einige Zeit in einer betreuten Wohngemeinschaft. Das Begleitete Wohnen in Familien ist der richtige Platz für ihn. Drogen und Alkohol sind tabu. Auch bei Ehepaar Wölflick.

Franz-Josef Biermann ist der zweite Gast bei der Familie. Zuvor lebte für zwei Jahre eine Frau bei ihnen. Sie fand ebenfalls eine Familie, die besser zu ihr passte. „Das Tolle ist ja, dass die Familien ganz unterschiedliche Schwerpunkte und Begabungen haben“, sagt Stefan Beez vom Fachdienst Vitos Kurhessen, der die Wölflicks und Josef Biermann betreut. „So kann im Grunde jeder SEINE Familie finden. Die Wölflicks aktivieren sehr gut und machen mit ihrem Gast viel Perspektivarbeit.“

Franz-Josef Biermann geht seit einiger Zeit in die Tagesstätte bei Ziegenhain. Eine Probewoche hat er hinter sich, nun geht es weiter. Jasmin Wölflick motiviert ihn dranzubleiben. Vielleicht kann er irgendwann wieder arbeiten. Schließlich ist er erst 47. Die Gasteltern kümmern sich – ohne zu bevormunden. Genauso selbstverständlich, wie sie es für alle Familienmitglieder tun.

Am Ende darf der Fotograf in die „Privatsphäre“ von Mirko Grabbert. Der zeigt ihm seinen großen Spielzeugkran. Mirko Grabbert hat offenbar einen Platz für sich gefunden.

Elke Bockhorst

 

Kontakt für interessierte Familien:
LWV Hessen
Fachbereich Recht und Koordination
Jürgen Schröder
Tel. 0561 1004 - 2516
Fax 0561 1004 - 1516
juergen.schroeder@lwv-hessen.de 

 


 

EIN KLASSISCHES INKLUSIONSPROJEKT

 

Interview mit Ramona Spohr, im Fachbereich Recht und Koordination des LWV zuständig für das Begleitete Wohnen für behinderte Menschen in Familien

 

Frau Spohr, Sie waren fast von Anfang an beteiligt, als das Begleitete Wohnen in Familien ins Leben gerufen wurde. Hätten sie gedacht, dass diese Unterstützungsform sich so gut entwickelt?
Anfangs schon. Das Pilotprojekt „Psychiatrische Familienpflege“, der Vorgänger, startete 1997 mit großem Elan. Doch bald taten sich erste Hürden auf. Es war mühsam, Menschen zu finden, die bereit waren, sich auf diese Betreuungsform einzulassen. Aber noch größer waren die Vorbehalte bei gesetzlichen Betreuern, den Herkunftsfamilien und dem Klinikpersonal auf den Stationen, auf denen die Menschen lebten. Die waren skeptisch, ob Laien eine Betreuung seelisch behinderter Menschen überhaupt leisten könnten. Nach einem Jahr waren nur ganz wenige Klienten vermittelt worden.

 

Was brachte dann die Wende?
In Merxhausen, heute Vitos Kurhessen, zeigten sich bald erste Erfolge. Dort gab es eine sogenannte Korsakow-Station, auf der Menschen lebten, die durch übermäßigen Alkoholkonsum Gedächtnisverluste davongetragen hatten. Für diese Patienten wurde eine geeignete Anschlussbetreuung gesucht. Diese Menschen benötigten eine beschützende Umgebung, in der gewährleistet werden konnte, dass sie abstinent lebten. Das Betreute Wohnen hätte das nicht leisten können, eine stationäre Betreuung hätte eine Überversorgung dargestellt. Da füllte die Psychiatrische Familienpflege eine Lücke.

 

Und wie kommt es, dass sich das Konzept nun seit immerhin fast zwei Jahrzehnten hält?
Im Grunde ist das Konzept ein klassisches Inklusionsprojekt. Die Menschen leben in einer Familie mit nicht behinderten Menschen zusammen. In keiner Einrichtung können individuelle Bedürfnisse so gut berücksichtigt werden, und es gibt behinderte Menschen, für die das Betreute Wohnen ein zu großer Schritt wäre. Für die ist das familiäre Umfeld hervorragend. Dort ist oft rund um die Uhr jemand da. Viele gewinnen plötzlich verschüttete Fähigkeiten wieder zurück. Und manche werden so selbstständig, dass sie dann doch ins Betreute Wohnen wechseln können.

Außerdem: Die Unterstützung für behinderte Menschen kommt aus einer Hand. Der LWV ist bei Bedarf für die Existenzsicherung und die Betreuung zuständig. Inzwischen wurde das Begleitete Wohnen in Familien, kurz BWF, wie es seit 2007 heißt, ausgeweitet: Auch geistig behinderte Menschen können dieses Angebot nun nutzen. Inzwischen leben im Hessen 176 Menschen im BWF.

 

Ist das Begleitete Wohnen in Familien in ganz Hessen gleichermaßen verbreitet?
Es ist besonders verbreitet im ländlichen Raum. Wenn Kinder ausziehen oder Eltern sterben, dann ist plötzlich viel Platz da. In den Städten ist Wohnraum knapper. Da ist es schwieriger für Träger, ein solches Angebot zu verankern. Ansonsten sind es Träger aller Art und nahezu aller Regionen, die das BWF heute anbieten.

 

Welche Rahmenbedingungen sind denn förderlich?
Das Wichtigste ist nach wie vor, dass die Chemie zwischen Familien und Klienten stimmt. Die Fachdienste berichten, dass sie meist schon nach einer halben Stunde erkennen, ob es klappen kann.
Von großer Bedeutung sind auch die regelmäßigen Hausbesuche der Fachdienste. Die geben allen Beteiligten Sicherheit. Hilfreich ist auch, dass es Urlaubsgastfamilien gibt. Das bedeutet, dass die Klienten für wenige Wochen in einer anderen Familie leben. So haben die eigentlichen Gastfamilien die Möglichkeit, allein zu verreisen. Und die Klienten haben ebenfalls einen Tapetenwechsel. Manchmal entstand auf diese Weise sogar der Wunsch, in eine andere Familie zu wechseln.

 

Wie sieht Ihr Fazit heute aus?
Auch wenn es schon im 13. Jahrhundert ein solches Modell in Belgien gab – ich finde, das Begleitete Wohnen in Familien ist aktueller denn je. Wir haben gerade unsere Rahmenkonzeption überarbeitet und freuen uns, dass die bundesweite Jahrestagung mit 200 Fachleuten aus allen Bundesländern und dem benachbarten Ausland vom 24. bis zum 26. September in Kassel stattfindet. Ich bin sicher, dass wir – gerade auch mit Blick auf die UN-Behindertenrechtskonvention – auf diesem Weg weiter gehen werden.
Das Interview führte Elke Bockhorst