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Eine Erfolgsgeschichte

Horst und Marianne Jahn haben lange für ein gemeinsames Leben gekämpft. Jetzt genießen sie ihren Ruhestand im Betreuten Wohnen und freuen sich, dass auch die Kinder wieder zu ihnen gefunden haben. Im Juni feierten die Jahns Goldene Hochzeit. Unter den Gästen: Zwei ihrer Töchter und viele Mitbewohner.

 


 

BEBRA. Ein Blumenstrauß! Marianne Jahns graue Augen funkeln. In ihrer Wohnung in der Bahnhofstraße in Bebra nimmt sie mit ihrem Mann Horst das nachträgliche Geschenk zur Goldenen Hochzeit freudestrahlend entgegen. Ihr Gast, Dirk Wiedemeyer, arbeitet beim LWV und ist zuständig für das Ehepaar. Sofort geraten die drei auf der blaugrau gemusterten Couch im Wohnzimmer ins Plaudern über die Goldene Hochzeit. 25 Gäste, darunter zwei ihrer Kinder, waren zum Fest gekommen.

 

„Die Jahns schreiben eine Erfolgsgeschichte“, hatte Wiedemeyer bei der Vorbereitung seines Besuchs in Bebra gesagt. Lange Jahre haben die beiden Ehepartner getrennt gelebt. Sie sahen sich nur selten. „Damals war es nicht vorgesehen, dass geistig behinderte Männer und Frauen in Heimen als Paar zusammen lebten“, erklärt Wiedemeyer. Erst 2001 konnten die Jahns eine gemeinsame Wohnung beziehen. Da gab es erste Versuche, das Betreute Wohnen zu etablieren. Das war ihre Chance. Diese Lebensform ließ mehr Freiräume zu. Da waren die Jahns schon 37 Jahre verheiratet und Eltern von vier Töchtern und einem Sohn.

„Probieren wir es, haben wir gesagt“, berichtet Andrea Hill, Leiterin des Betreuten Wohnens in der Bebraer Bahnhofstraße, „Marianne und Horst passten trotz der langen Trennung gleich gut zusammen“. Sie arbeitete schon seit 1998 in den Bebraer Werkstätten in der Handmontage, er begann dort 2002 in der Elektromontage. Beide gingen so in ihren Jobs auf, dass sie länger arbeiteten, als sie mussten. Jeweils mit 67 Jahren hörten sie auf. Nun genießen sie ihren Ruhestand.

Marianne Jahn ist heute wie immer schon gegen sieben Uhr aufgestanden. Erstmal duschen und warten, bis Horst gegen acht Uhr aus den Federn kommt. Gemeinsam frühstücken die beiden in ihrer hellen Küche. Auf dem Fensterbrett blüht eine Orchidee. Geschirr aufräumen, Wohnung durchkehren - die 71-Jährige hat ihren festen Plan. Wäre da nicht der Besuch von Herrn Wiedemeyer, würden die beiden rüber in die Tagesstruktur im Nachbarhaus gehen. Aber so hat Marianne Jahn gemeinsam mit einer Helferin das Wohnzimmer hergerichtet.

 

GOLDENE HOCHZEIT

In dem hellen Raum mit den gelb gestrichenen Wänden stehen Fotos von der Familie und Freunden, die Gratulationskarten zur Goldhochzeit und die Karte von Heike (49), die in Ortenberg in der Einrichtung „Rauher Berg“ lebt. Zum Muttertag hat die Tochter sogar gedichtet: „… auch wenn wir uns mal zanken, möcht‘ ich mich sehr bedanken …“. Als Andrea Hill die Zeilen nochmal vorliest, ist die Mutter sehr gerührt. Der Kontakt zwischen der ältesten Tochter und den Eltern ist wieder enger geworden, seit sie eigenständig wohnen.

„Ein Mehr an Lebensqualität für das Ehepaar Jahn“, freut sich Dirk Wiedemeyer. Die beiden profitieren vom Beistand, den sie in der Bahnhofstraße vom Verein Soziale Förderstätten erhalten. Im Jahr sind für jeden von ihnen 198 Fachleistungsstunden veranschlagt, das sind durchschnittlich 3,8 Stunden sozialpädagogische Unterstützung in der Woche. Hilfe beim Kochen, beim Einkaufen, dabei, die Wohnung in Ordnung zu halten. Das nehmen die Jahns gerne an. Als Elke-Lore (45), die mittlere Tochter, aus einer Einrichtung auf Rügen spontan zu Pfingsten zu den Eltern nach Bebra kommen will, wird auch das möglich gemacht. Gemeinsam mit Andrea Hill schmieden Marianne und Horst schon Pläne: Sie könnten doch dann mit Elke-Lore nach Büdingen fahren und sich dort mit Heike treffen. „Joa, das wär‘ was“, sagt Vater Horst mit breitem Grinsen.

Er übernimmt es auch, den Gast durch die Wohnung zu führen. Auf dem großen Balkon fallen Gartenzwerge und andere Figuren mit Solarzellen auf. „Nachts leuchten die so schön!“, freut sich Horst Jahn. Unten im Gartenpavillon hat er sogar Lichterketten mit Minilampions aufgehängt, die im Abendlicht bunt strahlen. „Ich bin superzufrieden mit der Wohnung“, erklärt er. Die kurzen Wege zum nächsten Supermarkt und ins Einkaufszentrum schätzt er sehr. „Die Eisdiele ist aber auch nicht weit“, fügt Ehefrau Marianne hinzu.

Dass ihr Leben zu anderen Zeiten härter war, daran können sich die Jahns noch gut erinnern. Horst kam in den Kriegswirren als Melker nach Vockerode am Meißner. Auf der Kirmes in Hasselbach (heute ein Ortsteil von Waldkappel im Werra-Meißner-Kreis) lernten die jungen Leute sich kennen. Wenig später heirateten sie am 20. März 1964. Die beiden lebten in Mariannes Elternhaus, wurden selbst fünfmal Eltern. Doch von außerhalb gab es kaum Unterstützung, die Kinder wurden nach und nach in Pflegefamilien untergebracht. „Heute würde man das anders machen“, sagt Wiedemeyer. Das Jugendamt würde mit einem anderen Konzept unterstützen, würde die Trennung von Eltern und Kindern möglichst vermeiden. So aber litt die Verbindung zu Töchtern und Sohn. Erst seit das Ehepaar gemeinsam in der Bahnhofstraße lebt, haben Marianne und Horst Jahn die Zeit, Kraft und Hilfe, um die Kontakte wieder zu intensivieren. Mit Elke-Lore telefonieren sie inzwischen einmal pro Woche.

 

LANGE GETRENNT

Mindestens ebenso so hart wie die Trennung von den Kindern war die der Ehepartner. Als ihre Mutter pflegebedürftig wurde, zog Marianne Jahn mit ihrer Mutter ins Altenheim nach Rotenburg. Eine andere Möglichkeit sah die Familie damals nicht. Horst Jahn lebte und arbeitete auf einem Hof in Rockensüß (heute Ortsteil von Cornberg im Landkreis Hersfeld-Rotenburg). Eine schwierige Zeit, doch Horsts Optimismus von damals ist noch heute zu spüren, wenn sein Blick auf das Foto von seinem Hercules-Moped in Topzustand fällt. Jawoll, mit seiner kleinen Maschine ist er zu Marianne gebraust, um sie zu besuchen. Ist sie manchmal mit auf Spritztour gefahren? „Nein, er hatte einmal einen Unfall. Seitdem bin ich nicht mehr mit aufs Motorrad gestiegen“, sagt sie.

Weil er nun nicht mehr zu seiner Frau oder zur Arbeit fahren muss, hat er das Moped vor einiger Zeit verkauft. Horst Jahns Wege führen ihn heutzutage zum Einkaufen, zum Spazieren, zum Schwimmen, Billardspielen und Kegeln oder er fegt die Straße. Ehefrau Marianne fährt mit Andrea Hill zur Gymnastik oder macht sich in der Gemeinschaftsküche im Nachbarhaus nützlich. Beide Ehepartner spielen gern Gesellschaftsspiele. Die Schachteln mit Mensch ärgere Dich nicht, Kniffel und anderen Spielen stapeln sich auf der Küchenbank. „Ja, ich kann auch gut verlieren“, kichert Marianne.

„Wir fühlen uns hier sehr wohl“, fasst Horst Jahn zusammen. 13 Jahre leben sie nun in der Bahnhofstraße zusammen. Die große Feier zur Goldenen Hochzeit war ein Höhepunkt. Silbern leuchtet der neue Ehering an Horst Jahns rechtem Zeigefinger, Mariannes muss noch passend gemacht werden. Sind sie glücklich? Fast. Einen Wunsch haben sie noch. Elke-Lore , ebenfalls geistig behindert, möchte von Rügen zu den Eltern nach Bebra ziehen. Dass das klappt, „das ist unser sehnlichster Wunsch“, sagt Marianne Jahn und Horst nickt bekräftigend. „Wir bemühen uns drum“, sagen Andrea Hill und Dirk Wiedemeyer zur erhofften Familienzusammenführung. Hartnäckigkeit und Wünschen – das hat bei den Jahns schon immer geholfen.

Irene Gräfe

 


 

HINTERGRUND

SELBSTSTÄNDIGES WOHNEN MIT UNTERSTÜTZUNG

 

Betreutes Wohnen ist eine aufsuchende Form sozialpädagogischer und sozialtherapeutischer Unterstützung für Menschen, die wesentlich behindert oder von einer Behinderung bedroht sind und deshalb Anspruch auf Eingliederungshilfe haben.

Für Menschen wie die Eheleute Marianne und Horst Jahn, die ihr Leben vergleichsweise selbstständig führen, ist das Betreute Wohnen genau die richtige Lösung. Sie erhalten im Alltag lebenspraktische und psychosoziale Hilfe, sind aber nicht auf eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung angewiesen. Das Ehepaar Jahn lebt im Bereich Bahnhofstraße des Betreuten Wohnens der Sozialen Förderstätten für Behinderte in Bebra. Sechs Mitarbeiterinnen einschließlich Reinigungskraft kümmern sich hier tagsüber um 16 Menschen in zwei Häusern.

Irene Gräfe