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Kontakt nur wohl dosiert

Alexander Leibelt ist Asperger-Autist und lebt seit mehr als einem Jahr in einer eigenen Wohnung. Möglich wurde das durch das spezielle Angebot der Behindertenhilfe Offenbach in Dietzenbach. Ein Modell, das hessenweit eine Vorreiterrolle einnimmt.

 

DIETZENBACH/MAINTAL. Alexander Leibelt geht gern spazieren. An der frischen Luft lässt der 23-Jährige seinen Gedanken freien Lauf, tauscht sich aus mit seiner Betreuerin Kerstin Schilling vom Wohnverbund Dietzenbach. Sie gehen nebeneinander. Das hat für Alexander Leibelt einen ganz klaren Vorteil: Er darf geradeaus schauen beim Gespräch, ohne unhöflich zu wirken. Augenkontakt ist beim Spaziergang kein kommunikatives Muss. Eine große Erleichterung für einen Menschen, der Asperger-Autist ist.

Asperger, das bedeutet für die Betroffenen Kontakt- und Kommunikationsschwierigkeiten. Was anderen Menschen die Kommunikation erleichtert und bereichert – Gesten, Mimik, Tonfall ihres Gesprächspartners – baut für Menschen mit Asperger eine Mauer auf, die es zu überwinden gilt. Sie müssen intellektuell verarbeiten, was für andere schlicht Subtext ist, der nebenbei wahrgenommen wird: Was bedeuten die hochgezogenen Augenbrauen? Was wollen mir die Mundwinkel verraten? Warum lacht der andere jetzt? Habe ich wirklich verstanden, was er mir sagen will? Mit diesen Unsicherheiten muss Alexander Leibelt jeden Tag zurechtkommen.

 

DER ALLTAG WIRD ZUM STRESS

Durch das Asperger-Syndrom ist er weniger eingeschränkt, als beispielsweise jemand mit dem sogenannten Kanner-Autismus: Diese Menschen fallen schon im Kleinkindalter durch den fehlenden Spracherwerb auf und sind häufig geistig behindert.

Alexander Leibelt ist normal intelligent. Dennoch schränkt Asperger seine Lebensqualität deutlich ein. Im Alltag gerät die permanente Unsicherheit zum Stress. Es gibt zwar Therapien, die, wie an der Frankfurter Universitätsklinik, kommunikatives Verhalten trainieren, Gesichtsausdrücke und Mimik interpretieren helfen. Doch die Probleme gehen darüber hinaus: Jede neue Situation, jeder Kontakt mit Fremden ist Stress pur für Menschen mit Asperger. „Asperger“, erläutert Katrin Fischer vom LWV, „wird oft erst im Erwachsenenalter richtig diagnostiziert. Verhalten sich Kinder mit Asperger auffällig, dann wird meist angenommen, die Ursache sei ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom“, sagt Fischer, die beim LWV für Alexander Leibelt zuständig ist. „Es wäre interessant zu wissen, ob die Entwicklung eine andere wäre, wenn man bereits mit den Kindern therapeutisch arbeiten würde.“

Für die Erwachsenen mit Asperger werden oft Kleinigkeiten zum Problem. Was tun, wenn die kaputte Glühbirne schlagartig die Wohnung ins Dunkel taucht und kein Plan erklärt, wie sie zu wechseln ist? Wenn das Aufräumen der Wohnung überfordert? Der Gang zum Arbeitsamt zum Alptraum wird?

„Meine Betreuerin gibt mir Sicherheit“, sagt Alexander Leibelt und bringt damit den für ihn persönlich wichtigsten Aspekt der Begleitung im Alltag auf den Punkt. Er hat im Büro des Wohnverbunds Dietzenbach, der zur Behindertenhilfe Offenbach zählt, Platz genommen und wirkt ein wenig nervös. Seine Betreuerin Kerstin Schilling sitzt neben ihm, sie sagt nicht viel. Allein, dass sie da ist, hilft Alexander Leibelt, die eigenen Worte zu finden. „Schon bei der Wohnungssuche habe ich Hilfe gehabt“, erzählt er, schaut kurz zu Kerstin Schilling und lässt keinen Zweifel daran, dass er ohne ihre Unterstützung wohl heute noch bei der Mutter wohnen würde. Das Einrichten der ersten eigenen vier Wände war eine schöne Aufgabe, die aber auch viel Planung verlangte. Leibelt war froh, diese Schritte nicht allein gehen zu müssen. Möbelhaus, Baumarkt – kein gewohntes Umfeld für ihn. „Auch bei der Arbeitssuche hatte ich Hilfe. Auf dem Arbeitsamt zum Beispiel, wenn ich Formulare ausfüllen oder Gespräche führen musste.

Manchmal reicht es auch einfach, dass ich weiß, es ist noch jemand dabei. Der muss noch nicht einmal mit zu dem Gespräch kommen, kann draußen warten. Es hilft mir, zu wissen, ich kann, wenn was ist, nachfragen.“ Er spricht, schaut immer wieder zur Seite, die Hand am Reißverschluss der Kapuzenjacke, auf, zu, im steten Wechsel. Er hat sich innerlich auf dieses Gespräch vorbereitet, doch eine Unruhe bleibt.

 

ROUTINE WEISS ER ZU SCHÄTZEN

Leibelt wohnt nun seit einem Jahr in der eigenen Wohnung in Maintal, arbeitet im Rahmen einer unterstützten Beschäftigung im Lager eines Baumarkts und hat gute Chancen, im Anschluss an das mehrmonatige Praktikum übernommen zu werden. Was ihm an der Arbeit gefällt? „Dass es immer der gleiche Ablauf ist“, sagt er, „Ware reinfahren, einräumen, Müll rausholen. Das ist etwas Verlässliches. Nicht jeden Tag etwas anderes.“ Diese Routine weiß er zu schätzen. Er hat auch schon anderes erlebt, als er in Ravensburg eine Ausbildung zum Gartenbaufacharbeiter machte. „Anfangs war das gut. Aber dann kam immer wieder etwas Neues. Jeden Tag sind wir zu anderen Kunden gefahren, mal Platten im Garten legen, mal Sträucher schneiden. Das war zu viel.“ Aber er hat seine Ausbildung beendet. Kerstin Schilling findet das beachtlich: „Herr Leibelt ist sehr zielstrebig“, sagt sie und betont, dass viele andere abgebrochen hätten.

In Ravensburg teilte sich Leibelt mit einem jungen Mann ein Zimmer in einer betreuten Wohngemeinschaft. Zu ihm hält er heute noch Kontakt. „Wir telefonieren täglich, meistens über den Computer“, erzählt Leibelt. Über Silvester war er sogar zwei Wochen bei seinem Freund zu Besuch. Daheim in Maintal hat er keine Freunde, niemanden, der ihn so gut kennt wie der Ravensburger Mitbewohner. „Ein Jahr zusammen in einem Zimmer“, erklärt er, „das ist schwer zu toppen.“

So entspannt sich Leibelt nach der Arbeit nicht in der Kneipe mit Kollegen, lieber löst er Kreuzworträtsel, liest Fantasy-Romane oder geht Joggen. Damit seine Gedanken nicht zu sehr um unbewältigte Situationen kreisen, kommen zweimal die Woche Kerstin Schilling oder ihr Kollege zu Besuch. Angebote wie diese, betont Katrin Fischer vom LWV, sollten Nachahmer finden.

Mit seinen Betreuern bespricht Alexander Leibelt, was anliegt. „Häufig reden wir über bestimmte Situationen, die er erlebt hat, sagt Kerstin Schilling. „Dann helfen wir einzuordnen, was passiert ist.“ Oder es wird geplant, was als nächstes anzugehen ist. Das Thema Ordnung halten und Wohnung putzen steht gerade auf dem Programm. Was soll er zuerst tun?

Küche putzen – wie geht das? „Zuhause hat das immer meine Mutter gemacht“, sagt er fast ein wenig entschuldigend. Alexander Leibelt stellt sich den Herausforderungen seines Alltags. Häufig ziehen sich Menschen mit Asperger zurück, weil sie fürchten, anzuecken und auf Unverständnis zu stoßen. Es ist stressfreier, keinen Kontakt zu anderen Menschen zu haben. Für Alexander Leibelt ist Einsamkeit keine Option. Nach der eigenen Wohnung und einer festen Arbeitsstelle wünscht er sich für die Zukunft mehr Freizeitaktivitäten mit Freunden. Kerstin Schilling wird ihn auch dabei unterstützen. „Wir bieten gemeinsame Freizeitaktivitäten für unsere Klienten an, Schwimmen gehen zum Beispiel“, sagt sie. „Aber auch individuelle Begegnungen werden gefördert. Ein Treffen mit einem anderen Klienten zum Billiardspielen ist in Planung.“ Vielleicht findet Alexander Leibelt in ihm einen Gleichgesinnten, der den Blick in die Augen lieber meidet.
Katja Gußmann

 


 

 

ENTSCHEIDUNGSHILFE IM ALLTAG

 

Interview mit Jörg Kreißl, stellvertretender Leiter des Wohnverbunds Dietzenbach der Behindertenhilfe in Stadt und Kreis Offenbach e.V.

 

Herr Kreißl, das Betreute Wohnen für Menschen mit Asperger-Autismus ist hessenweit einmalig. Wie kam es dazu?
Betroffene haben den Wunsch nach Betreutem Wohnen an das zum Verein Behindertenhilfe gehörende Autismus-Therapieinstitut in Langen herangetragen. Da wir im Verein seit über 20 Jahren Erfahrung im Betreuten Wohnen haben, wurden wir seitens der Kollegen vom Autismus-Therapieinstitut um Unterstützung bei der Umsetzung gebeten. Vor drei Jahren haben wir die Arbeit aufgenommen. Die Finanzierung dafür übernimmt das zuständige Jugendamt beziehungsweise der Landeswohlfahrtsverband.

 

Wieviele Asperger-Autisten erhalten Unterstützung?
Derzeit sind es acht Klienten, die von drei Mitarbeitern betreut werden – die zum Teil noch weitere Aufgaben im Verein wahrnehmen. Alle Mitarbeiter erhalten im ersten halben Jahr eine intensive Einarbeitung in die Thematik Asperger-Syndrom, ehe sie ihr erstes Arbeitsbündnis, wie wir es nennen, mit einem Klienten eingehen. Zur Sicherung der Qualität unserer Arbeit werden die Mitarbeiter zudem durch eine in der Arbeit mit diesem Personenkreis erfahrene Therapeutin des Institutes in 14-täglichen Fallbesprechungen intensiv gecoacht. Darüber hinaus nehmen die Mitarbeiter regelmäßig an internen und externen Fortbildungen teil.

Bei Klienten, die zusätzlich eine Therapie am Institut wahrnehmen, findet zudem kontinuierlich ein kollegialer Austausch zwischen der fallverantwortlichen Fachkraft des Ambulant Betreuten Wohnens und dem behandelnden Therapeuten statt.

 

Warum ist das notwendig?
Asperger ist nicht gleich Asperger. Es handelt sich meist um ein sehr komplexes Beeinträchtigungsbild mit zusätzlichen Begleiterkrankungen. Jeder Fall ist so individuell, dass immer neue Fragen auftauchen und die Betreuer sich sehr flexibel auf ihre Klienten einstellen müssen.

 

Worin liegen die konkreten Unterstützungsleistungen im Betreuten Wohnen?
Neben der psychosozialen Begleitung vor Allem in der kontinuierlichen Unterstützung zur Bewältigung von Alltagsnotwendigkeiten. So fällt es Klienten beispielsweise oft schwer, Alltagshandlungen sinnvoll zu planen oder Transferleistungen in Bezug auf neue Situationen zu erbringen: Wenn ich weiß, wie ich das Bad putze, bedeutet das noch lange nicht, dass ich auch die Küche putzen kann. Schon die Schritte davor – Was brauche ich zum Putzen, wo kaufe ich das? – können eine so hohe Hürde sein, dass es nie zum Putzen kommt. Hier hilft der Betreuer bei der Planung und darin, Prioritäten zu setzen, Entscheidungen zu treffen und mit möglichen Hindernissen umzugehen.

 

Ohne die Kooperation des Klienten geht aber nichts, oder?
So ist es. Deswegen ist die Vertrauensbasis enorm wichtig. Schließlich müssen im Alltag im Rahmen der Beratung auch existenzielle Entscheidungen getroffen werden: die eigene Wohnung finden oder Arbeit suchen. Erst das vertrauensvolle Gespräch ermöglicht es, dem Klienten oftmals seine aktuelle Lebenssituation zu reflektieren, Wünsche und Bedürfnisse zu benennen, sie zu ordnen und in einen individuell sinnvollen Zusammenhang zu stellen.
Das Interview führte Katja Gußmann