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LWVkonkret 02.2016

Der Kampf um Normalität

Arif M. hat nur einen Wunsch: „Ein ganz normales Leben.“ Der Jordanier wird vom interkulturellen Psychosozialen Zentrum (PSZ) des Internationalen Familienzentrums betreut. Seit knapp drei Jahren hat der einstige Kindersoldat eine Aufenthaltsgenehmigung: Er kann sich nun Arbeit und eine Wohnung suchen und hat aufgrund seiner psychischen Erkrankung Anrecht auf eine ambulante psychosoziale Betreuung, die der LWV Hessen finanziert.

 

FRANKFURT. Arif M. spricht sieben Sprachen, darunter ein vorzügliches Deutsch, hat einige Zeit Informatik studiert und arbeitet zurzeit ehrenamtlich in einer Schule für sehbehinderte Kinder. Dort richtet er Computer ein, installiert Software und übernimmt Programmierarbeiten. Und: „Ich zeige einigen Kindern, die kurz vor dem Erblinden sind, wie sie mittels Sprachausgabe den Computer bedienen können“, schildert er. Er gestikuliert lebhaft, wenn er davon spricht, sein Lächeln wird breit, sein Blick sanft. Arif M. ist Mitte 40. Er hat Freunde aus Studientagen, die ihn unterstützen. Auch sein ehemaliger Hausarzt ist über die Jahre ein Freund geworden.

Arif M. ist aber auch ein verletzter und verletzlicher Mann: Er wurde als Kind jordanischer Eltern in Deutschland geboren, im Alter von fünf Jahren jedoch ohne Familie in die Heimat der Eltern zurückgebracht. Mit sechs wurde er im Libanon zum Kindersoldaten ausgebildet. Arif M. hat in verschiedenen Kriegen und Ländern gekämpft, bis er sich mit Mitte 20 aufgelehnt hat: „Ich habe mich quergestellt, damit sie mich rausschmeißen. Eine Gratwanderung – du darfst nicht zu sehr auffallen, weil sie dich sonst an die Wand stellen, aber du musst so sehr aus der Reihe tanzen, dass Disziplin und Moral der Truppe gefährdet sind.“

Noch in Jordanien hat er sein Abitur nachgeholt, „ein sehr gutes Abitur“, wie Angelika Schreiner betont, die im Psychosozialen Zentrum traumatisierte Asylbewerber betreut. Mit der Aufenthaltserlaubnis für die Studienzeit in der Tasche kam er nach Deutschland, absolvierte nach vier Monaten die Deutsch-Aufnahmeprüfung und begann sein Studium in Frankfurt.

 

KRISENJAHRE

Doch die Vergangenheit holte den ehemaligen Kindersoldaten ein: Depression und Posttraumatische Belastungsstörung lautete die Diagnose. Er verbrachte viele Monate in der Psychiatrie und verliert seine Aufenthaltserlaubnis. „Kaum aus der Klinik entlassen, wurde er wieder eingewiesen. 2010 wurden wir hinzugezogen, um mit unserer ambulanten psychosozialen Betreuung diesen Teufelskreis zu durchbrechen“, erzählt die Sozialarbeiterin. Da hatte sein behandelnder Arzt längst einen Anwalt eingeschaltet, der einen Asylantrag für Arif M. stellte.

Von 2010 bis 2013 unterstützt Angelika Schreiner Arif M. bei der Suche nach Ärzten und Therapeuten, begleitet ihn zu Behörden, zum Anwalt und zu Gerichtsterminen, bereitet ihn auf Gespräche und Verhandlungen vor, kümmert sich darum, dass er eine Wohnung findet und steht ihm auch in schweren Krisen zur Seite. „Diese Krisen kommen. Die Prozesse ziehen sich oft über Jahre, in denen die Duldung immer nur für wenige Monate erteilt wird. Diese existentielle Unsicherheit verschärft die psychische Erkrankung“, erläutert die Diplom- Sozialarbeiterin, die bis heute mit Arif M. in engem Kontakt steht.

„An all das habe ich kaum eine Erinnerung. Aber ich weiß, wenn Frau Schreiner nicht wäre, würde ich heute nicht hier sitzen“, sagt der schlaksige Mann mit scheuem Lächeln. Woran er sich erinnert: „Ich habe einen Suizidversuch unternommen, der zum Glück gescheitert ist.“ Kein Einzelfall: Vier von zehn erwachsenen traumatisierten Flüchtlingen hatten oder haben Suizidgedanken oder haben gar schon versucht, sich das Leben zu nehmen, berichtet die Bundes-Psychotherapeutenkammer.

 

DIE KRANKHEIT BLEIBT

Seit 2013 ist Arif M. nicht mehr nur geduldet, sondern er hat eine Aufenthaltserlaubnis – zunächst auf drei Jahre befristet. „Das ist eine unglaubliche Erleichterung. Bis dahin hatte ich immer die Befürchtung, dass ich womöglich zurück muss und sie mich dann zur Rechenschaft ziehen“, erzählt der Jordanier, der inzwischen im Betreuten Wohnen des Psychosozialen Zentrums lebt und dort einen neuen Betreuer hat. Regelmäßig wird gemeinsam mit ihm ein Integrierter Behandlungs- und Rehabilitationsplan (IBRP) erstellt. „Wir besprechen Krankheits-, Wohn- und Arbeitssituation, klären die Ziele, ich erhalte Unterstützung in verschiedensten Lebensbereichen – falls nötig, auch bei der Suche nach einem Therapeuten“, erzählt er. Die Krankheit bleibt, auch wenn die Therapie inzwischen Wirkung zeigt: Sein Gedächtnis ist besser geworden, er beteiligt sich aktiver an der Suche nach Lösungen, seit mehr als drei Jahren war er nicht mehr in der Klinik. Er fühlt sich wohl an der Schule, kommt mit Schülern, Lehrern und Eltern dort gut klar. „Nachmittags bin ich aber völlig erschöpft, habe Wortfindungsstörungen und kann nur noch in meiner Bude hokken“, fügt er hinzu. Dann läuft der Fernseher oder das Radio oder das Fenster steht offen. „Stille kann ich nicht ertragen. Ich muss mich ablenken, Erinnerungen verjagen. Wenn es ruhig und dunkel ist, beginnt es im Kopf zu rattern. Ich habe extreme Schlafstörungen, schlafe manchmal zwei, drei Tage gar nicht“, erläutert er ernst. Seine Strategie: „Ich versuche, möglichst wenig Zeit zum Nachdenken zu haben.“ Das und die Psychopharmaka, die er einnimmt, greifen auf Dauer seine körperliche Gesundheit an. Und manchmal siegt dennoch die Traurigkeit: „Dann fehlt mir die Kraft, ich kapsle mich ab, öffne die Tür nicht. Je länger dieser Zustand dauert, desto schwerer fällt es mir, wieder den Schritt nach außen zu wagen.“

Was Arif M. in Deutschland erlebt hat, ist in vielen Punkten typisch: das lange Asylverfahren, der Klageweg, die befristeten Duldungen, die Einschränkungen bei der Arbeitssuche. Anders als andere wurde er jedoch nicht einem beliebigen Wohnort zugewiesen, sondern konnte in Frankfurt bleiben. Dadurch blieben soziale Kontakte erhalten. Aufgrund der schweren psychischen Erkrankung hätten sie die Aufnahme ins Betreute Wohnen bereits vorbereiten können, berichtet Angelika Schreiner.

 

REALISTISCHE ZIELE

Derzeit ist Arif M. auf der Suche nach Arbeit, war bereits mit seinem Betreuer im Jobcenter. Doch er hofft, dass sich ein Weg findet, seine ehrenamtliche Tätigkeit an der Schule in eine reguläre Arbeitsstelle umzuwandeln. Auch dabei unterstützt ihn sein Betreuer. Das gilt auch für die Suche nach einer größeren Wohnung. „Ich brauche etwas mehr persönlichen Rückzugsraum“, erzählt er. „Da müssen Sie nachhaken, dringend einen Termin beim Wohnungsamt vereinbaren“, bestärkt ihn Angelika Schreiner. „Ich hätte gerne auch eine Familie, aber dazu wird es wohl nie kommen“, fügt er hinzu. Im Sommer steht die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis an. „Da wäre es schön, mit der Arbeitsstelle an der Schule einen Schritt weiter zu sein. Das ist realistisch“, bemerkt er nachdenklich.

Stella Dammbach

 


 

HINTERGRUND

STABILISIERUNG IN ZEITEN DER UNSICHERHEIT

 

Das Psychosoziale Zentrum (PSZ) des Internationalen Familienzentrums (IFZ) in Frankfurt ist für erwachsene Migrantinnen und Migranten mit psychischen Beschwerden im Stadtgebiet Frankfurt zuständig. Dazu gehören eine Psychosoziale Kontakt- und Beratungsstelle, eine Tagesstätte und das Betreute Wohnen. Diese Angebote werden überwiegend vom LWV Hessen finanziert.

Die ambulante psychosoziale Versorgung von psychisch erkrankten Menschen OHNE Aufenthaltstitel ist in das PSZ eingebettet. Sie besteht seit dem Jahr 2000 und wurde 2006 ausgeweitet, um Männern und Frauen auch unabhängig vom Asylbewerberstatus betreuen zu können. „Wir werden im Lauf des Jahres von derzeit vier auf künftig zehn Plätze aufstocken. Mehr können wir hier nicht leisten, aber wir bräuchten für Frankfurt deutlich mehr Kapazitäten“, erläutert Diplom-Psychologe Kurt Heilbronn, Bereichsleiter des interkulturellen Psychosozialen Zentrums. Die Betreuung der Asylbewerber ohne Aufenthaltstitel wird von der Stadt Frankfurt finanziert.
2014 wurden allein in Frankfurt 83 Menschen aus 24 Nationen unterstützt.

„Schwerpunkt unserer Arbeit ist die Begleitung während des Asylverfahrens zur Klärung des Aufenthaltstitels“, sagt Diplom-Sozialarbeiterin Angelika Schreiner. „Dabei arbeiten wir eng mit den Rechtsanwälten zusammen. Das heißt, wir nehmen Einsicht in Akten und begleiten bei Gerichtsterminen, schwerpunktmäßig aber vermitteln wir in psychiatrische Versorgung oder Psychotherapie und beraten in sozialen Fragen. Wir informieren natürlich auch über die jeweilige Krankheit und die Wirkung von Medikamenten. Wir beziehen auch Angehörige in unsere Arbeit mit ein.“
Die Einrichtung kooperiert eng mit der Vitos Klinik Bamberger Hof, deren Mitarbeiter regelmäßig zu Sprechstunden ins Haus kommen.

Laut Bundes-Psychotherapeuten-Kammer (BPtK) sind in Deutschland etwa 40 bis 50 Prozent der erwachsenen Flüchtlinge an einer Posttraumatischen Belastungsstörung erkrankt, jeder zweite hat eine Depression. Sieben von zehn der Betroffenen weisen mehrere psychische Krankheiten auf, unter anderem Angststörungen, Somatisierungsstörungen und Suchterkrankungen.

Das Dilemma ihrer Arbeit bringt Kurt Heilbronn auf den Punkt: „Unsere Klienten waren oft jahrelang auf der Flucht. Das ist eine sehr aktive Situation, sie müssen handeln, Entscheidungen treffen. Wenn sie bei uns ankommen, geraten sie plötzlich in eine sehr passive Situation. Hier wird über sie bestimmt. Sie verstehen die Bürokratie nicht, begreifen nicht, was mit ihnen geschieht.“ Hinzu komme in vielen Fällen die Sprachbarriere. „Die meisten Flüchtlinge sprechen kein Deutsch, manche können etwas Englisch. Aber in vielen Fällen brauchen wir Dolmetscherdienste. Teilweise übernehmen das Kollegen innerhalb des PSZ“, berichtet Kurt Heilbronn. Die Mitarbeiter sprechen neben Deutsch mindestens eine weitere Sprache, darunter unter anderem Arabisch, Armenisch, Persisch, Paschtu, Bosnisch, Serbisch, Türkisch und Tigrinya, eine afroasiatische Sprache, die in Eritrea und Teilen Äthiopiens gesprochen wird.

Wird Asyl gewährt oder erhält der Klient aus anderen Gründen eine Aufenthaltserlaubnis, beispielsweise weil ihm in seinem Heimatland ernsthafter Schaden droht, besteht das Ziel der Arbeit darin, die hier betreuten Flüchtlinge in die psychosoziale Regelversorgung überzuleiten. Bei Arif M. beispielsweise war dies unter anderem die Aufnahme in das Betreute Wohnen des PSZ.

Die Regelversorgung umfasst aber auch die ambulante oder stationäre psychiatrische Behandlung, eine Psychotherapie sowie ambulante psychiatrische Pflege, Soziotherapie und die Rehabilitation psychisch Kranker, die vorrangig von den gesetzlichen Krankenkassen sichergestellt werden.

sd/ebo