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Logistik à la Amazon?

"Ich war total überrascht, als ich feststellte, wie bekannt und hoch geschätzt das LWV-Archiv in der Forschungslandschaft ist. Das hatte ich so nicht erwartet", sagt Dr. Dominik Motz. Schon seit Juni arbeitet der 33-jährige Historiker und Archivar beim LWV in Kassel, am 1. Dezember wird er die Leitung des Archivs und der historischen Sammlungen von Prof. Dr. Christina Vanja übernehmen. Wir sprachen mit ihm über seine Motivation und seine Pläne.

 

KASSEL. Was hat Sie bewogen, sich um die Stelle zu bewerben?

In erster Linie war es die Vielfältigkeit der beschriebenen Aufgaben, die mich gereizt hat. Das Spektrum reicht von der Betreuung der Archivnutzer über die Auswertung noch nicht erschlossener historischer Dokumente bis hin zur Möglichkeit, eigene Forschung zu betreiben und die Ergebnisse der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Insbesondere die zahlreich vorhandenen Dokumente aus der Frühen Neuzeit, also vom frühen 16. bis ins 19. Jahrhundert, interessieren mich. Denn ich habe mich schon in meiner Ausbildung und Forschungsarbeit mit dieser Zeit befasst.

Welches Thema aus der Frühen Neuzeit haben Sie bearbeitet?

Nach meinem Staatsexamen in Germanistik, Politik und Geschichte an der Uni Kassel habe ich von 2010 bis 2013 in einem Projekt der Deutschen Forschungsgesellschaft gearbeitet, das die Fürstenbibliothek in Bad Arolsen untersucht hat. Ich habe mich mit Funeraldrucken des Adelsgeschlechts Waldeck-Pyrmont beschäftigt und darüber meine Dissertation verfasst. Bei Funeraldrucken handelt es sich um kleine Heftchen, die zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert anlässlich des Todes eines Familienmitglieds herausgegeben wurden. Sie beinhalten die bei der Bestattung gehaltene Predigt, einen Lebenslauf sowie ein Porträt des Verstorbenen. Als ich während der Recherche für meine Doktorarbeit in verschiedenen Archiven unterwegs war, habe ich bemerkt, wie spannend Archivarbeit ist und mich nach der Promotion beim Hessischen Landesarchiv als Referendar beworben. Ich hatte Glück und konnte von Mai 2015 bis April dieses Jahres am Staatsarchiv sowie der Archivschule Marburg eine Ausbildung zum Archivar absolvieren.

 

Ein Aufgabenschwerpunkt hier in Kassel dürfte der geplante Neubau sein. Was ist dabei alles zu beachten?

Bis 2020 soll der Neubau stehen. Wir müssen schon jetzt Vorarbeiten leisten: So steht eine Inventur an, was überhaupt alles an Archivgut in den Magazinen lagert. Wir müssen bislang unverpackte Dokumente verpacken, um sie vor Licht, Staub und anderen Einflüssen zu schützen. Und wir müssen natürlich den Umzug planen, um unsere Archivalien sicher zum neuen Standort zu transportieren.

 

Mal abgesehen von der Mammutaufgabe, ein Archiv umzuziehen. Was ist bei der Ausstattung der neuen Archivräume interessant?

Wie in einem Museum oder einer Bibliothek müssen auch in einem Archiv bestimmte Voraussetzungen gegeben sein, damit die historischen Dokumente für die Nachwelt erhalten bleiben. Beispielsweise muss ein konstantes Klima von 18 Grad plus/minus zwei Grad und 50 Prozent Luftfeuchtigkeit herrschen. Die Planungsgruppe arbeitet mit einem Bauphysiker zusammen, um diese Bedingungen zu schaffen und ein System zu installieren, damit wir dieses Klima überprüfen können. Aber auch die platzsparende Unterbringung der Bestände ist ein wichtiger Punkt. Denn das LWV-Archiv wächst stetig, weil es wichtige Dokumente der LWV-Verwaltungen und der Einrichtungen der Vitos GmbH als Holding des LWV aufnehmen muss. Ein Umzug ist eine ideale Möglichkeit über moderne Lösungen nachzudenken.

 

Wie könnte eine neue platzsparende und zukunftsweisende Dokumentenlagerung aussehen?

Sie werden es womöglich von einem Archivar nicht erwarten, aber unser großes Vorbild ist der Online-Versandhändler Amazon. Er hat ein dynamisches Lagerungsprinzip. Das heißt, die Artikel werden nicht nach Produkten sortiert gelagert, sondern einfach nacheinander, wie sie zeitlich eingehen. Die Ordnung in diesem augenscheinlichen Chaos gewährleistet eine spezielle Software, die jeden gewünschten Artikel ortet. Diese Lagerungsform wird derzeit auch für Archive diskutiert. Bisher arbeiten Archive - auch das LWV-Archiv - nach dem traditionellen Provenienzprinzip. Das heißt, Dokumente werden nach ihrem Herkunftsort - beispielsweise einer LWV-Einrichtung - gebündelt gelagert. Um den weiteren Aktenzuwachs zu gewährleisten, muss in den Regalen genügend Raum gelassen werden. So wird aber auch wichtiger Platz verschenkt, weil der Umfang noch aufzunehmender Dokumente nicht kalkulierbar ist. Diskutieren sollte man daher, ob eine dynamische Lagerung wie bei Amazon nicht sinnvoll und wirtschaftlicher ist. Man könnte einen einheitlichen Zeitschnitt für die bisherige Archivierung nach Herkunft bzw. Einrichtung machen, beispielsweise 1980. Danach würden die Dokumente hintereinander und ungeordnet aufgenommen. Die Erkennungsmöglichkeit durch eine spezielle Software beispielsweise über einen Barcode brächte dann Ordnung in das gewollte platzsparende "Chaos". Darüber hinaus wäre über die Einführung einer Archivsoftware nachzudenken, einer Archivplattform mit digitalisierten Dokumenten, auf die Nutzer online zugreifen können.

 

Aber das LWV-Archiv beherbergt sehr viele personenbezogene Dokumente. Welche Dokumente eignen sich für eine solche Plattform?

Natürlich könnten wir nur Dokumente online stellen, die archiv- und datenschutzrechtlich unproblematisch sind. Das trifft beispielsweise auf die Dokumente aus der Frühen Neuzeit zu, die bei Historikern, Studierenden und Doktoranden heiß begehrt sind. So hat sich kürzlich erst eine Forschergruppe aus Bochum angemeldet, die sich für die Hohen Hospitäler interessiert. Moderner Service bietet mehr als nur Hinweise auf Erschließungsdaten wie etwa Titel, Signatur und Jahresangaben. Heute wird erwartet, dass Dokumente in digitaler Form online abgerufen werden können. Ein Archiv-Besuch ist dann nicht mehr unbedingt nötig. Da könnten wir besser werden, um das LWV-Archiv noch nutzerfreundlicher in der Forschungslandschaft zu vernetzen. Prof. Dr. Vanja hat über Jahrzehnte eine wissenschaftliche Kärrnerarbeit geleistet, um das Archiv aufzubauen und als Kulturerbe bekannt zu machen. Ich bin froh, dass ich einige Monate lang von ihrem Wissen profitieren konnte. Ich weiß um die großen Fußstapfen, in die ich trete. Und eine Digitalisierung der Dokumente ist viel Arbeit. Aber ich werde versuchen, den guten Ruf unseres Archivs weiter auszubauen.

 

Erlauben Sie noch eine persönliche Frage? Was begeistert Sie außerhalb Ihrer beruflichen Arbeit?

Ich spiele Handball und bin Fußball-Fan.

 

Für wen fiebern sie mit?

Für Borussia Dortmund. Das teile ich übrigens mit Frau Prof. Vanja. Neben der Begeisterung für die Archiv-Arbeit.

Das Interview führte Gisela Heimbach

 

HINTERGRUND

EIN UNSCHÄTZBARES KULTURERBE

1986 errichtete der LWV Hessen ein eigenes Archiv mit Hauptsitz in Kassel, das drei Jahre später um die Bereiche "Gedenkstätten und Historische Sammlungen" erweitert wurde. Unter Regie der Historikerin Prof. Dr. Christina Vanja werden seither historisch, juristisch oder baugeschichtlich relevante Dokumente des LWV, seiner Rechtsvorgänger und seiner Einrichtungen gesichert, erschlossen und für Recherchen bereitgestellt. Zudem gibt das Archiv eine eigene Historische Schriftenreihe heraus. Es konzipiert und organisiert Ausstellungen und Veranstaltungen und betreut die Gedenkstätte Hadamar, weitere Gedenkorte und Museen des LWV Hessen.

Europaweit stellt das LWV-Archiv mit einer fast 500-jährigen Überlieferung der Geschichte der sozialen Hilfe ein herausragendes Kulturerbe dar. Die Unterlagen gehen bis in das frühe 16. Jahrhundert zurück und reichen derzeit bis in die 1980er Jahre. Schwerpunkte bilden die hessischen Hohen Hospitäler (heute Vitos Haina, Kurhessen und Riedstadt), die Psychiatriegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die Euthanasie-Verbrechen der Nazi-Zeit sowie die Geschichte der Erziehungsheime des LWV nach 1945. Im Laufe der Zeit entstand ein Aktenbestand von rund 6.000 laufenden Metern, mit über 4.000 Bauplänen, etwa 8.000 Fotografien und über 20.000 Büchern. Die Zahl der Anfragen beim LWV-Archiv bestätigt seine Bedeutung. Derzeit sind es jährlich 700 bis 800 Personen und Institutionen, die sich an das Archiv wenden.

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