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"Von acht bis acht ist immer was los"

Im "Markt 5", dem Baunataler Haus der Begegnung, wird seit drei Jahren beispielhaft Inklusion gelebt: Hier ist ein Treffpunkt für behinderte und nicht behinderte Menschen, Kirchengemeinde und Diakonie entstanden, an dem sich die Lebenswelten mischen.

 

BAUNATAL. Man riecht, dass Donnerstag ist. Köstlicher Waffelduft verbreitet sich gegen 16 Uhr im "Markt 5" und lockt in den hellen Raum im Parterre - jede Woche um diese Zeit gibt es hier Kaffee und Kuchen für jedermann. An den blumengeschmückten Holztischen treffen sich nicht nur Bewohner aus dem Betreuten Wohnen nach der Arbeit. Das Donnerstags-Café ist auch ein beliebter Treffpunkt für andere Gäste. Es läuft leise Musik. Klar, dass die 35-jährige Yvonne Hasse schon an einem Tisch sitzt, mit ihrem Lebensgefährten und Mitbewohner Peter Müller - wie eigentlich jede Woche; beide genießen gerade ihre Waffeln. "Die gehören zum Grundprogramm", sagt Yvonne Hasse lächelnd. Zum Grundprogramm gehört ebenfalls, hier einmal pro Woche für anderthalb Stunden einzukehren, Bekannte und Unterstützer zu treffen, aber auch neue Leute kennenzulernen und sich mit ihnen auszutauschen.

Markt 5, das ist wie ein Ort, an dem sich Menschen begegnen. Wo sich Wege kreuzen, an einem Platz, an dem es Lädchen und Supermarkt, Rathaus und Geldinstitut, Bäcker und Bücherei gibt. Ein Ort, an dem Groß und Klein, diakonisch Tätige, behinderte Menschen, Ratsuchende, Konfirmanden und Feste Feiernde nebeneinander Platz haben. Wo man in der Sonne sitzen kann, sich kennt und begrüßt und ein solides Grundgefühl von "mittendrin und gut aufgehoben" hat. Ist das ein Sehnsuchtsbild aus der guten alten Zeit? Blickt man nach Baunatal vor den Toren Kassels, dann haben die Planer der Begegnungsstätte "Markt 5" alles richtig gemacht.

 

SO FING ES AN

Vieles kam da, zum Glück, zusammen: Der Leerstand der alten Poststelle direkt am Marktplatz; der Vorschlag der Stadt Baunatal als Vermieterin, das Haus zu beleben; der schon lange gehegte Wunsch der Baunataler Diakonie Kassel (bdks) nach einer Begegnungsstätte; die Anregung des LWV-Fachbereichs für Menschen mit geistiger Behinderung, das tagesstrukturierende Angebot der bdks für Ältere mitten ins Leben, sprich: an den Marktplatz zu holen; das Bedürfnis der Kirchengemeinde Altenbauna nach kleineren Räumen. Schließlich kam noch die Diakonie-Station dazu. Nach vielen Planungssitzungen und dem Umbau war 2013 alles unter einem Dach, so berichtet Martina Rohde, Ansprechpartnerin im Haus und verantwortlich für das Ambulant Betreute Wohnen. Ein weiterer attraktiver Anziehungspunkt ist das rege besuchte Café Döhne, das damals zusätzliche Räume suchte. Es ist an sechs Tagen barrierefrei zu erreichen und bildet neben dem Eingang zusagen die Brücke zum Marktplatz. Glastüren nach außen, aber auch nach innen - mit direktem Zugang zum "Markt 5": Richtig gut, "im Rahmen der Inklusion", so meint Martina Rohde. "Und mit wahnsinnig leckerem Kuchen!" Wenn die Sonne kommt, lockt das Straßencafé mit Stühlen und Tischen vors Haus.

 

NACHBARSCHAFTLICHES HALLO

Martina Rohdes Büro liegt parterre, aber als Verantwortliche ist sie oft durchs Treppenhaus unterwegs. "Mein Fitnesscenter", sagt sie. Sie lädt zum Spaziergang ein durch das zweistöckige Haus mit breiten Stufen, hellen Gängen und großen Fenstern, die fast einen Rundum-Blick ermöglichen. "Man ist mittendrin und nimmt teil, auch, wenn man nicht laufen kann." Natürlich gibt es einen Fahrstuhl.

Die Diakoniestation (145 Kunden, 27 Mitarbeiter) hat ihr Büro im ersten Stock. Hier liegt auch die Kreativwerkstatt der bdks. Ein offenes Atelier, in dem Workshops für jedermann, aber auch feste Gruppen arbeiten. Nachfrage? Groß, sagt Martina Rohde. Sie müsse ständig neue Flyer auslegen. Man trifft auf dem Flur Pfarrer Dirk Muth, der eben aus dem Gemeindebüro kommt - nachbarschaftliches Hallo.

Unter dem Dach, im nagelneuen Obergeschoss, liegt ein großer Raum für bis zu 100 Personen, den sich bdks und Gemeinde teilen. Jeden Montag, Mittwoch und Freitag kommt Marion Geßner (70) hierher. Da treffen sich viele, die früher in der Werkstatt gearbeitet haben und jetzt in Rente sind. Sie kommen aus den Baunataler Wohnstätten der bdks. Als die Räume in der Beethovenstraße zu eng wurden für die tagesstrukturierenden Angebote, entstand die Idee, das Haus am Markt zu nutzen. Ohnehin ist es viel näher an Läden, Wochenmarkt, Bibliothek, Cafés, Eisdielen, Pizzeria, Kiosk, dem Stadtmarketing-Büro mit vielen Informationen zu den aktuellen Veranstaltungen und dem Stadtpark. "Die Spaziergänge sind Teil unseres Bewegungsprogramms", sagt Betreuerin Kathleen Dost. "Das hilft, die körperlichen Ressourcen zu stärken und zu erhalten."

Der Tag beginnt mit einer Tasse Kaffee, dann geht es für Marion Geßner, Irmtraud Siebert, Kurt Wicke, Helmut Sczuka und Wilfried Martin raus zum Einkaufen. Mit Kathleen Dost queren sie den Marktplatz und gehen ins gegenüberliegende Herkules-Center. Irmtraud Siebert kauft fürs Wochenende eine Prinzenrolle. Die anderen packen frische Äpfel, Bananen, Dosenpfirsich und Joghurt in den Wagen. Heute Mittag gibt es Obstsalat. Schnell zur Kasse, Helmut Sczuka bringt den Einkaufswagen weg. Gemeinsam laufen und rollen sie rüber zu Rossmann. Marion Geßner will noch eine Schlager-CD kaufen. Alle warten geduldig, bis sie sich für die von Freddy Quinn entschieden hat. "16 Lieder für fünf Euro neunundneunzig." Sie lächelt zufrieden. Dann kehrt die Gruppe zurück ins "Markt 5". Obst schnippeln.

Das Obergeschoß mit Küche, dessen großer Raum teilbar ist, nutzt auch die Kirchengemeinde regelmäßig. Es gibt einmal im Monat Brunch, Fortbildungen und gemeinsame Feste, auch treffen sich die Konfirmanden, der Aussiedlerchor "Echo" und die Tanzgruppe. Inklusion, fasst Martina Rohde zusammen, bedeute hier nicht, "dass wir alle Veranstaltungen gemeinsam machen." Sondern vielmehr, dass in dieser Stätte alle mal was zu erledigen oder erleben haben, niemand frage, "wer will zu wem, denn es gibt tausend Gründe, hier was zu tun!" Täglich von acht bis acht sei immer was los.

Zurück ins Erdgeschoß mit dem Donnerstags-Café. Norbert Pfaffenbach (62) genießt seinen zweiten, richtig starken Kaffee. Er ist häufig zu Gast, das gehört fest in seine Wochenaufteilung: "Arbeit von acht bis 13 Uhr, montags einkaufen, donnerstags ins Markt 5".

Stammbesucherin Yvonne Hasse erzählt von der Arbeit im "bunten Netzwerk für Frauenbeauftragte in Einrichtungen", das ans Kasseler Zentrum für selbstbestimmtes Leben angedockt ist. Heute hat sie sich mit ihrer Berliner Kollegin auf ein Fachtreffen in Leipzig vorbereitet, bei dem sie auch auf dem Podium sprechen soll.

Sie hat vor Jahren eine Ausbildung zur Bürokauffrau begonnen, musste sie wegen ihrer halbseitigen Lähmung nach einem Schlaganfall abbrechen, war dann in der Werkstatt beschäftigt und gelangte über ein Praktikum schließlich an ihren heutigen Arbeitsplatz im Projektbüro.

Wie gut, dass im Donnerstags-Café viel Raum ist, auch für Buggys. Denn hier sind zwei weitere Stamm-Besucherinnen, Freundinnen, Mitbewohnerinnen und vor allem - Teddy-Liebhaberinnen: Silke Schmoll (43) und Elisabeth Freudenstein (55) mit Bruno und Bäri. Die Frauen leben mit Silkes Freund, der später noch vorbeikommt, zu dritt in einer WG. Auch sie kommen nach der Arbeit hierher, aber nicht nur ins Café: Direkt gegenüber liegt der Kinderkleiderladen der Evangelischen Kirchengemeinde. Und der hat jetzt geöffnet. Vielleicht finden sich Anziehsachen?

 

JACKEN AUS ZWEITER HAND

Martha Helm arbeitet ehrenamtlich im Kleiderladen schon seit 28 Jahren, drei Jahre lang nun in dem neuen Haus. Was hier säuberlich nach Größen aufgereiht ist, passt Kindern bis Größe 158 - und ist sehr begehrt bei Leuten mit kleinem Geldbeutel. Die von Privat gelieferte Kleidung wird sechs Monate angeboten, 25 Prozent des Erlöses gehen an den Laden - was nicht verkauft wird, holt man wieder ab, oder es geht als Spende an soziale Einrichtungen. Junge Mütter stöbern hier, schätzen die freundliche Atmosphäre und die kleinen Preise. Eine Frau schickt ihren Sohn zum Waffelessen nach gegenüber, während sie seiner kleinen Schwester Hosen anprobiert. Auch Silke Schmoll wird fündig und kauft einen Anorak für Bruno.

 

DIE SOMMER-VARIANTE

Gegen halb sechs leert sich das Donnerstags-Café. Silke Schmoll, Elisabeth Freudenstein und ihr Mitbewohner Lothar Klein kreuzen den Marktplatz und schieben die Teddys Richtung Kneipe. "Bierchen trinken", lacht Silke Schmoll. Ulrike Hackert vom Team "Markt 5", die heute den Kaffee ausschenkte, verabschiedet die letzten Gäste. Martina Rohde berichtet noch von der Sommer-Variante: Da gibt es nämlich Bratwürstchen und Gemüsepäckchen, die auf dem großen Terrassengrill zubereitet werden. Noch ein Grund mehr also, im "Markt 5" vorbeizuschauen - wenn es bei Hitze "Grill und Chill" heißt.

Anne-Kathrin Stöber/Elke Bockhorst

 


 

HINTERGRUND

MARKT 5 - EIN HAUS DER BEGEGNUNG

 

Neben vielen anderen sozialräumlichen Angeboten macht die Baunataler Diakonie Kassel (bdks) für 15 Männer und Frauen im Haus der Begegnung "Markt 5" ein Angebot zur Gestaltung des Tages. Genutzt wird es überwiegend von älteren Männern und Frauen, die nicht mehr in der Werkstatt für behinderte Menschen arbeiten. Es ist eine Ergänzung oder eine Alternative zu Tagesstruktur im Wohnheim.

Die Nutzergemeinschaft aus der bdks als Hauptmieter mit dem Büro Ambulant Betreutes Wohnen, dem Beratungsbüro für Teilhabe und Freizeitgestaltung sowie den tagesstrukturierenden Angeboten, der Bäckerei Döhne mit angeschlossenem Café, der Kirchengemeinde Altenbauna 2 mit Gemeindebüro, Gemeinderäumen und einem Kinderkleiderladen sowie dem Pflegedienst der Diakoniestationen Baunatal richtet sich an alle Menschen mit und ohne Behinderung, die einen lebendigen und vielfältigen Austausch mit anderen Menschen suchen und sich außerdem mit interessanten Themen beschäftigen sowie ihre Freizeit sinnstiftend verbringen möchten.

stö/ebo