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Sie haben auf der Straße gelebt. Platte gemacht. Bis sie Hilfe bekamen, um ins normale Leben zurückzufinden: mit Beschäftigung, einem Dach über dem Kopf, Beratung und schließlich einer eigenen Wohnung. Denn keiner will auf der Straße bleiben.

LIMBURG. Klaus Malik tupft helles Braun auf die Leinwand. Tüpfel um Tüpfel. Sachte stupst er die Farbe auf. Stundenlang kann er so sitzen. Ab und zu schaut er auf die Vorlage im Buch, die eine Frau mit Kapuzenmantel zeigt, im Arm einen kleinen, braunen Hund.

Klaus Malik, 57, ist selbst ein Gemälde. Auf seinem kahl rasierten Schädel drängen sich Totenköpfe. Eine Träne verharrt für immer auf der Wange, Kreuze auf jedem Finger, Bilder verschwinden unter den Ärmeln. Viel Düsteres. "Die Tätowierungen erzählen mein Leben." Und seine spezielle Verbindung zum Tod. Der Tod des Zwillingsbruders mit einem Jahr. Sein eigener Fast-Tod.

Zwei Jahreszahlen vergisst Klaus Malik nicht: 1999 und 2004. Die Zeit dazwischen hat er im Walter-Adlhoch-Haus in Limburg verbracht. 20 Jahre ist es her, als die Ehe zerbrach. Er hatte keine Arbeit und konnte die Wohnung nicht allein finanzieren. Er pennte mal hier bei einem Kumpel, mal dort, so lange, bis die Kumpel nicht mehr wollten oder die Vermieter davon erfuhren.

WIE IM KARUSSELL

Wieder Straße. Und immer Alkohol. "Ich war hochgradig abhängig." Hochgradig hieß, morgens schon anderthalb Flaschen Cognac zu trinken. Die Gedanken kreisten um die immer gleichen Fragen: Krieg' ich Geld zum Essen? Krieg' ich Geld zum Trinken, damit das verdammte Zittern aufhört? Krieg' ich einen Schlafplatz? Oh Gott, wo bin ich gelandet. "Auf der Straße zu sein, ist wie jeden Tag im Karussell zu sitzen. Man dreht sich und dreht sich und kommt nicht vorwärts."

Im Walter-Adlhoch-Haus, der Facheinrichtung für Wohnungslosenhilfe im Caritasverband für den Bezirk Limburg, verbrachte er fünf Jahre. Malik hatte nun ein Zimmer, das er abschließen konnte. Sozialarbeiter, die halfen. Hier drängte ihn keiner. Der Landeswohlfahrtsverband finanziert einen Wohnheimplatz für einen Bedürftigen zwei Jahre lang, bei schwierigen Fällen auch länger. "Ich habe die Zeit gebraucht, um zur Ruhe zu kommen."

Klaus Malik trank weiter. Im Übergangswohnheim gibt es kein Alkoholverbot. Niedrigschwelliges Angebot heißt das im Sozialarbeiter-Jargon. Klaus Malik sagt: "Wenn ich nicht hätte trinken dürfen, wäre ich abgehauen. Wer trinken will, findet einen Weg."

FAST-TOD

Bis er mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht wurde. Thrombose. Beide Beine auf den doppelten Umfang angeschwollen. Der Arzt redete Klartext: "Wir wissen nicht, ob wir Sie durchkriegen. Informieren Sie besser die Familie. Und wenn wir Sie durchbringen, wissen wir nicht, ob Sie Ihre Beine behalten. Wenn ich Sie auch nur mit einer Dose Bier sehe, fliegen Sie raus." Heute sagt Klaus Malik, das sei genau die Ansage gewesen, die er brauchte. Fast-Tod. Im Krankenhaus hatte er Zeit zum Nachdenken. "Ich wollte doch leben", sagt er und ballt die Faust.

Es ist 2004, das Jahr, in dem er aufhörte zu trinken. Aus dieser Erfahrung stammt der Satz "Lebe die Träume, bevor es zu spät ist, denn deine Zeit ist bemessen". Der steht auf seinem Rücken.

Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus arbeitete der gelernte Maler und Lackierer als Ein-Euro-Jobber in der Werkstatt, eine halbe Stunde Fußweg vom Walter-Adlhoch-Haus entfernt. Acht Plätze für Ein-Euro-Jobber bezahlt das Jobcenter. Heute erhält der Schwerbehinderte eine kleine Rente. Er kommt dennoch an zwei Tagen pro Woche her und malt Bilder für Aktionen, Ausstellungen und für sich. Dafür erhält er eine kleine Aufwandsentschädigung, finanziert über Spenden aus der Initiative "Aufgaben anvertrauen". "Ich werde gebraucht. Es ist sinnvoll, was ich tue." Was ihn glücklich macht? Mit der Antwort lässt er sich Zeit. "Wenn ich weiterhin trocken bin. Vor der Aufgabe stehe ich jeden Tag. Und wenn ich mit meinen Bildern und meiner Anwesenheit andere glücklich machen kann." Er steht langsam auf, um die Pinsel zu reinigen und sich auf den Heimweg zu machen. Der Haushalt wartet. Seine Frau soll nach Feierabend nicht arbeiten müssen. 

ZEIGEN, WAS MAN DRAUF HAT

"Wir konnten der Straßenobdachlosigkeit in Limburg massiv entgegenwirken", sagt Harry Fenzl, Leiter des Walter-Adlhoch-Hauses. Ein Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen der Caritas und der Stadt Limburg. Doch ein Dach überm Kopf hilft nicht allein. Es muss auch Beschäftigung her. Damit der Tag eine Struktur und einen Sinn bekommt. Damit es einen Grund gibt, aufzustehen. "Um am Leben teilzuhaben und selbst etwas beizutragen", erklärt Fenzl. Zu zeigen, dass man nicht nur Hilfe braucht, sondern auch eine Menge drauf hat. Wer was schafft, schafft auch anderes.

Wie Karl-Heinz Russ, 63. Auch er war früher obdachlos. Seit über 20 Jahren lebt er in einer Wohnung, die ihm die Leute vom Walter-Adlhoch-Haus vermittelt haben. Täglich geht er zur Arbeit in die Holzwerkstatt. Von 8 bis 14 Uhr. Pünktlich, zuverlässig. Sein Arbeitsvertrag wird über ein Förderprogramm für Langzeitarbeitslose finanziert. Überall in der Werkstatt steht ein "Russ": Puppenhäuser, Arche Noahs, Ritterburgen, die an Kindergärten verschenkt werden - alles von Russ. Das maßstabsgetreue Walter-Adlhoch-Haus, der Schrank im Büro, Eckbank, Tisch. "Gucken und nachbauen ist mir am liebsten", sagt er. Nach Reden ist ihm heute nicht.

Auch Uwe Rehermann, 43, hat übers Walter-Adlhoch-Haus Arbeit und Wohnung gefunden. Er hat ebenfalls auf der Straße gelebt. Bis ihn Jugendliche im Schlaf übergossen haben: "Mal gucken, wie schnell du rennst, wenn du brennst." Er merkte, dass es nur Wasser ist, doch die Angst saß so tief, dass er sich Hilfe bei der Caritas suchte. Heute renoviert, streicht und tapeziert er Wohnungen. Wie neulich die von Anke.

Anke - der Vorname genügt, sagt sie. Den Treffpunkt beim Brunnen am Bahnhof hat sie festgelegt. Anke, 58, ist eine Bestimmerin. "Das muss man sein, um sich am Bahnhof und auf der Straße durchzusetzen." Jeden Tag sitzt sie auf der Bank am Brunnen, sommers wie winters, immer von 8 bis kurz vor 11 Uhr. Hier trifft sie Peter, Uli, den anderen Peter, eben Leute, die sie kennt.      

ALLES BUNKERN

Obdachlos wurde Anke vor 30 Jahren. Der Mann, mit dem sie zusammenwohnte, verliebte sich in eine andere. Mit ihm war auch die Wohnung weg. Die kleine Frau, die heute schmal ist und raspelkurze, rote Haare hat, lernte auf der Straße zu überleben. Drei Regeln beherzte sie stets: Immer den Schlafsack offenlassen, um bei Gefahr fliehen zu können. Nie stockbesoffen rumliegen. Sonst geht's einem wie Olaf: besoffen erfroren. Alles bei sich bunkern. Macht sie jetzt noch: Zigaretten, Feuerzeug hier, sie klopft auf die Weste, Brille, Portemonnaie da.

Eigentlich noch Regel vier: nie auffallen. Nie öffentlich Platte machen, nicht in der Fußgängerzone liegen, nicht im Zelt, nicht auf der Bank, sondern darunter. Immer allein. Unsichtbar. Die Platte sauber hinterlassen. Keinen Einkaufswagen schieben, sondern einen Rucksack schultern. Regelmäßig duschen und die Klamotten wechseln. In Krankenhäusern habe sie oft Glück gehabt. "Man muss halt freundlich fragen", sagt sie. "Ich bin noch nie abgewiesen worden." Auf dem Markt hat sie Kisten gestapelt und ausgeräumt und dafür Eier, Gemüse, Obst und Fisch bekommen. Fisch? Als Obdachlose? "Da baut man sich eben einen Grill, das geht ruckzuck."

Als Frau hatte es Anke ungleich schwerer als obdachlose Männer. Sechseinhalb Jahre lebte sie auf der Straße, 17 Jahre in einer städtischen Notunterkunft. Sie verzieht das Gesicht. Dort wurde randaliert, Feuer gelegt, geprügelt. Wieder musste sie sich durchsetzen. Doch sie hat es geschafft. "Durch die Leute im Walter-Adlhoch-Haus und die Oase." Die "Oase" ist die Tagesaufenthaltsstätte des Walter-Adlhoch-Hauses. Dort hat Anke Brote für die Besucher geschmiert und Kaffee gekocht.

"So ist das", sagt sie und nimmt einen Schluck vom Bierwasser. Seit ihrer Krebserkrankung trinkt sie das Bier nur verdünnt. Mundhöhlenkrebs. Achteinhalb Stunden OP, 21 Chemo, 50 Bestrahlungen, 38 Kilo abgenommen. "Aber hej, ich lebe." Sie unterbricht kurz und bittet Peter, sich um Volker zu kümmern, der völlig breit auf der Bank hängt. Was sie vermisst? "Nix. Ich hab zu essen, zu trinken, zu rauchen, eine Wohnung. Und Ruhe." Das Allerbeste an ihrer Wohnung ist die Ruhe. Nie mehr mit offenen Augen schlafen müssen. Anke nimmt einen letzten Schluck, steht auf und steigt in den Bus nach Hause.

Michaela Böhm

HINTERGRUND

KAUM CHANCEN AUF DEM WOHNUNGSMARKT

Klassische Berber, die ihre Habseligkeiten auf ein Rad packen, billigen Wein trinken, von Stadt zu Stadt ziehen und sich abends ihre Platte suchen, gibt es seltener. Wohnungslosigkeit hat viele Gesichter. Frauen landen auf der Straße und ganze Familien, alte und junge Menschen, einst beruflich Erfolgreiche oder Gescheiterte. Im Kampf um günstige Wohnungen konkurrieren sie mit Polizisten, Pflegekräften oder Studierenden. Sie ziehen den Kürzeren und leben länger in Notunterkünften und Übergangswohnheimen als notwendig. Für das Jahr 2018 prognostizierte die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe bereits im Jahr 2017 rund 1,2 Millionen Wohnungslose. Dazu zählen Menschen, die in Notunterkünften oder Wohnheimen leben, bei Bekannten unterkommen oder auf der Straße schlafen. Eine offizielle Statistik gibt es nicht.

Michaela Böhm